Liebe und Verrat in Zeiten des Bürgerkriegs

Antonio Muñoz Molinas Roman „Die Nacht der Erinnerungen“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Antonio Muñoz Molina ist in Spanien ein bekannter Schriftsteller, der 18 Romane veröffentlichte und mit Preisen ausgezeichnet wurde. In Deutschland dagegen ist Muñoz Molina noch weitgehend unbekannt, obwohl von ihm mehr als 10 Bücher übersetzt wurden, so auch der preisgekrönte Roman „Der polnische Reiter“. Es wäre zu wünschen, dass er mit seinem neuen Roman „Die Nacht der Erinnerungen“ den erhofften Durchbruch bei den deutschen Lesern schaffen wird, denn neben der Obsession einer Liebe hat der Roman mit dem spanischen Bürgerkrieg einen interessanten und spannenden historischer Hintergrund zu bieten.

Zugegeben, der Text erfordert mit seinen 1.000 Seiten eine gehörige Portion Durchhaltevermögen, aber der Leser wird bestens für seine Mühe belohnt. Denn wenn er sich auf die spezifische Erzählweise der reflektierenden und pendelnden Erinnerung eingelassen hat, dann eröffnet sich ihm eine Erzählung einer obsessiven Liebe in schwierigen politischen Zeiten mit Verrat und Hingabe, mit Verlust und Treue ohne Klischees. Um was geht es im Roman? Um eine Liebesgeschichte zwischen einem verheirateten Spanier und einer amerikanischen Studentin am Vorabend des spanischen Bürgerkrieges. Die Schauplätze sind Madrid und Umgebung sowie Rhineberg, ein Universitätsstädtchen bei New York.

Die Hauptfigur, aus deren Perspektive das Geschehen im Wesentlichen erzählt wird, ist der spanische Architekt Ignacio Abel und das Geschehen spielt sich weitgehend zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges im Sommer und Herbst 1936 ab. Ignatio Abel stammt aus proletarischen Verhältnissen, ist überzeugter Sozialist und hat in eine reiche konservativ-katholische Familie geheiratet. Er ist jetzt gutsituiert, hat nach der Hochzeit am Ende der 1920er-Jahre in Dessau am Bauhaus bei Prof. Rossmann und bei Paul Klee studiert und promoviert und hat den anspruchsvollen Auftrag, die neue Universitätsstadt in Madrid zu errichten. Während er sich hauptsächlich um seine Projekte kümmert, tritt seine Ehe und Familie in den Hintergrund. Er versucht immer mehr, der wöchentlichen Routine von Familientreffen und dem abendlichen Zusammensein mit Frau und Kindern zu entkommen. Da lernt er anlässlich eines Vortrags und einer Einladung die junge amerikanische Studentin Judith Biely kennen und verliebt sich auf der Stelle in sie. Beeindruckt von ihrem Aussehen und Auftreten, kann er nur noch an sie und die Treffen mit ihr denken.

Gleichzeitig beginnt in Spaniens Hauptstadt am 18. Juli 1936 der Bürgerkrieg, den er aber kaum wahrnimmt, da er nur mit Judith befasst ist. Erzähltechnisch hat Muñoz Molina einen Trick angewandt, denn er lässt den Roman in New York beginnen, wohin  Abel Ende Oktober 1936 mit einem Bauauftrag des amerikanischen Millionärs van Doren gereist, besser geflohen ist. Geflohen, um zu seiner Geliebten zu kommen und dem Chaos des Bürgerkrieges in Madrid zu entkommen. Frau, Kinder und Familie hat er in den Wirren und Kämpfen des Bürgerkriegs zurück- und damit im Stich gelassen. Während der Bahnfahrt zu seinem Auftragsort überkommen ihn die Erinnerungen an seine frühere Zeit, seine Familie, seine Geliebte und seine Ideale.

Überwiegt weit über die Hälfte des Romans die Erzählung die Obsession seiner Liebe zu Judith, so dominieren im letzten Drittel des Romans die Erfahrungen, Ereignisse und Schilderungen des Bürgerkrieges und seiner Akteure. In diesen Erinnerungsstrang ist auch die tragische Geschichte des Prof. Rossmann mit seiner Tochter integriert, die vor den Nazis nach Spanien ins Exil geflohen sind. Rossmann lehrte am Bauhaus und war der Lehrer von Ignatio Abel. Er musste vor den Nazis fliehen und fristet in Madrid ein kümmerliches Dasein, während seine Tochter mit Deutschunterricht den notwendigen Lebensunterhalt verdient. Rossmann wird von den Regierungsanhängern ohne Grund ermordet, seine Tochter bleibt verschwunden. Rossmann nicht geholfen zu haben beziehungsweise ihn nicht retten zu können, wächst sich zu einem Schuldgefühl bei Abel aus, ohne dass ersichtlich würde, ob er den Tod hätte verhindern können. Als angesehener und erfolgreicher Architekt, als Mitglied der Gewerkschaft und Sozialist verfügt er natürlich über vielfältige Kontakte bis in die Regierung der Republik. Aber weder diese Kontakte noch seine Beziehungen durch seine Familie verschaffen ihm die Möglichkeit, etwas für Rossmann tun kann. Ein anderer, schwerer wiegender Schuldvorwurf, der auf ihm lastet, ist sein Versagen, als sein Schwager Victor, der Falangist ist und von Abels Sohn Miguel verehrt und geliebt wird, nachts an seiner Wohnungstür klopft und Unterschlupf vor der Verfolgung durch politische Gegner erbittet. Aus Angst, dass ein Verstecken Victors seine Abreise nach New York verzögern würde, verleugnet er seine Anwesenheit und nimmt in Kauf, dass Victor ermordet wird. Diese Episoden werden mehrmals in unterschiedlichen Situationen erinnert.

Dieses umkreisende Erinnern macht die Schwere der Schuld deutlich. Ebenso manifestieren die kursiv eingeschobenen Briefstellen seiner Frau an ihn seinen Verrat an ihr und seinen Kindern. Abel schont sich nicht in seinem Dilemma zwischen Liebe und Verantwortung. Das damalige politische Geschehen ist historisch korrekt wiedergegeben, da Muñoz Molina dazu einen Band einer Madrider Tageszeitung „Ahora“ dieser Zeit benutzte. Wir begegnen Intellektuellen oder Dichtern wie Rafael Alberti, erfahren die unsäglichen Lebensumstände der Tagelöhner mit ihren Bastschuhen und Gürteln aus Stroh, die am Rande der Stadt Madrid hausen. Wir lesen, dass die Großgrundbesitzer lieber das Korn auf den Feldern verrotten lassen, als die Arbeiter und Tagelöhner anständig zu bezahlen. Diese historischen Fakten werden aber wiederum unaufdringlich in das Geschehen integriert, wenn nämlich Abel seinen Vorarbeiter von der Baustelle nach Hause in die Vorstadt fährt und er in Diskussionen mit ihm über die Rolle der Arbeiter und der Herren drastisch aufgeklärt wird.

In einem weiteren Gespräch mit Abel macht sein Freund, der republikanische Politiker Dr. Juan Negrin, dem Muñoz Molina im Roman quasi ein Denkmal setzt, das Dilemma der Republikaner deutlich. „Die Reaktionäre hassen uns, weil sie sich immer noch nicht mit der Wahlschlappe vom Februar abgefunden haben, und ein Großteil von denen, die wir für die Unseren hielten, weil sie die Volksfront unterstützt haben. Sie hassen Leute wie uns, die nicht glauben wollen, dass man die Welt in Trümmer legen muss, um darauf eine bessere errichten zu können; das durch Zerstörung und Mord Gerechtigkeit einziehen kann“. Da Abel stets bestätigt wird, als Arbeitgeber und Vorgesetzter korrekt und ohne jegliche Arroganz zu handeln, sticht dann sein unkorrektes privates Verhalten in der Familie umso mehr hervor. Erst spät, zu spät kommt Abel die Einsicht, dass ihn und seine Frau beziehungsweise deren Familie eine große Kluft trennte. Er der Sozialist, sein Schwager ein Mitglied der Falange und ein Onkel seiner Frau ist Priester. Dies ergibt Spannungen in der Familie, lediglich die Eltern seiner Frau akzeptieren ihn vorbehaltlos. Aber dies ist nicht der Grund für seine Leidenschaft zu der amerikanischen Studentin Judith. Vielmehr sind ihm die Familie und der beginnende Bürgerkrieg völlig egal, ihn beschäftigen nur noch seine Liebe zu Judith und seine Treffen mit ihr in einer Absteige in Madrid.

Als seine Frau durch Zufall von seinem Verhältnis erfährt und einen Selbstmordversuch unternimmt, trennt sich Judith von ihm. Vergeblich sucht er sie während der Wirren des Bürgerkriegs in Madrid und nimmt schließlich die Einladung in die USA an, um in Rhineberg, einer Universitätsstadt bei New York, eine Bibliothek zu bauen. Kurz vor seiner Abreise wird er noch verhaftet und im letzten Moment durch einen befreundeten Regierungsvertreter vor dem Erschießen gerettet. Danach reist er nach New York und es beginnen seine Erinnerungen und Reflexionen während der Bahnfahrt nach Rhineberg über das vergangene Geschehen und er hofft inständig, seine große Liebe Judith in Amerika zu treffen.

Den Abschluss des Romans bildet dann tatsächlich ein letztes Zusammentreffen der beiden, aber Judith hat sich entschlossen, nach Spanien zurückzukehren, um die Republik zu unterstützen. Die Liebe zu Ignacio hat bei ihr eine Liebe zum Land und zu den Menschen in Spanien ausgelöst, und sie opfert ihre persönliche Liebe zu Ignacio dafür. Mit diesem Roman hat sich Molina auf keine Seite der damaligen Kontrahenten begeben, vielmehr hat er ein differenziertes Buch über die Verstrickung und das Handeln von vielen Menschen in der damaligen Zeit geschrieben. Es waren oft ganz persönliche Gründe, die zu Verrat und zum Versagen in der Zeit führten. Diese Gedanken und Erinnerungen des Abels in einer mehrstündigen Bahnfahrt von New York nach Rhineberg erzählt Antonio Muñoz Molina auf fast 1.000 Seiten. Dies wird aber nicht in epischer Breite getan, sondern der Roman geht mit den Vor- und Rückblenden sowie den mehrfachen Umkreisungen einzelner Episoden in die Tiefe und bringt dadurch den Leser zum Nachdenken über das Geschehen, jenseits aller ideologischen Diskurse. Mehr kann man von einem solchen geschichtsträchtigen und lebensgesättigten Roman nicht erwarten.

Titelbild

Antonio Munoz Molina: Die Nacht der Erinnerungen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
1003 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044990

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