Abwärtsspirale der Hilflosigkeit

Isaac Rosa zeichnet in seinem Roman „Im Reich der Angst“ die Mechanismen von Furcht und Kontrollverlust auf

Von Oliver DietrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Dietrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angst und Unsicherheit sind die prägenden Elemente von Isaac Rosas zweitem Roman, allem voran die Furcht des Protagonisten, einer Situation nicht mehr entfliehen zu können. Doch der Autor geht noch einen Schritt weiter, indem er fragt: Welchen Stellenwert hat die individuelle Wahrnehmung gegenüber dem inszenierten Szenario einer Welt, welche sich durch medial vermittelte Bedrohungen konstituiert? Wie weit ist eine Gesellschaft, in welcher sich ein permanent wachsendes Sicherheitsbedürfnis abspielt, angesichts konkreter Bedrohungen überhaupt noch handlungsfähig?

Diese elementaren Fragen bricht Rosa auf eine überschaubare Konstellation herunter. Topos der Handlung ist die Anonymität einer spanischen Großstadt. Rosa verzichtet bewusst auf Hinweise zu einer bestimmten Lokalität, die Handlung könnte im Grunde überall in der zivilisierten Welt angesiedelt sein. Der Verlauf des Romans wird aus der Perspektive einer augenscheinlich intakten Familie geschildert: Sara und Carlos sind berufstätig und stehen finanziell recht gut da, Sohn Pablo ist ein überbehüteter, präpubertärer Junge mit einem Hang zur Verschlossenheit, „halb Teenager und halb noch ein Kind“. Wenngleich der Erzähler die Perspektiven gern wechselt, ist der Fokus jedoch eindeutig auf den Vater gelegt.

Carlos im Zentrum des Geschehens ist der konfliktscheue Familienvater, welcher zum Einen darum kämpft, nach außen – und bald darauf auch nach innen – alles intakt erscheinen zu lassen und Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Er meidet notorisch Situationen, welche kritisch für ihn werden könnten und ist im Wesentlichen darum bemüht, trotzdem nicht – und vor allem nicht von seinem Sohn – als Feigling wahrgenommen zu werden. Zum Anderen ist dieser Charakter geradezu gezeichnet von Angst, alles Unbekannte bereitet ihm Phobien. Isaac Rosa lässt diese Figur hilflos in einen zunächst harmlosen Konflikt hineinlaufen.

Am Anfang der Geschichte verschwinden vorerst überschaubare Mengen an Bargeld und Wertgegenständen aus dem Haushalt der Familie, in einem nahezu unauffälligen Umfang. Der Sündenbock ist schnell gefunden: Dem jungen marokkanischen Putzmädchen Naima wird umgehend gekündigt. Deren Unschuldsbeteuerungen lehnt Sara brüsk ab und – auch das ist symptomatisch für das Interaktionsverhalten des Paares – verheimlicht beziehungsweise verleugnet diese sogar vor Carlos. Dennoch verschwindet weiter Geld, bis Sara schließlich feststellt, dass persönliche, scheinbar wertlose Besitztümer ihres Sohnes aus dessen Kinderzimmer verschwunden sind. Doch es ist nicht die Angst vor dem Verlust des Materiellen, welche für die Erzählung prägend ist: Vielmehr ist es Carlos’ „Furcht vor den Verbitterten und Verzweifelten“, welche die Stabilität der Kleinfamilie neiden und ausnutzen könnten. Außerhalb der eigenen vier Wände erscheint diese Furcht gerade noch kontrollierbar, innerhalb jedoch wird sie katastrophal.

Das Verhältnis der Eltern zu ihrem Sohn ist von einer permanenten Angst um ihn geprägt: Rosa nimmt sich die Zeit, die Ängste besonders des Vaters ausführlich und durchaus rational darzustellen. Es beginnt mit der Verlustangst während der Schwangerschaft, der Geburt und dem Heranwachsen des Kindes, dazu gesellen sich die Ängste um den Kontrollverlust sowie das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Einflüssen und Gefahren von außen. Dies führt so weit, dass Pablo zu keinem Zeitpunkt aus den Augen gelassen wird und nur in der Schule auf sich gestellt ist – somit der letzte Ort ist, welcher als idealer Konfliktherd herhalten kann.

Auch wenn sich augenscheinlich alles auf einen Mobbing-Fall zentriert, liegt es dem Autor doch fern, dieses Thema in den Mittelpunkt zu stellen. Vielmehr geht es ihm darum aufzuzeigen, wie einer Bedrohung von außen entgegengetreten werden kann, wenn man niemals gelernt hat, diese konsequent aus dem Weg zu räumen. Rosa konstruiert die Jagd nach Sicherheit als eine Flucht vor Ängsten, er zeichnet ein Scheitern einer Vermeidungsstrategie hin zu einer Sicherheitshysterie. Dabei beleuchtet er objektiv und ohne Anspruch auf die einzig richtigen Erklärungen das Verhaltensmuster einer Gesellschaft, welche sich nach außen hin abschottet, geprägt von Ressentiments bis hin zum Rassismus.

Carlos versucht, aus einem Verpflichtungsgefühl heraus – sowohl zu seinem Sohn als auch zu seiner Frau – diese Bedrohung aus der Welt zu schaffen. Er beobachtet seinen Sohn, stellt ihn zur Rede und findet letztlich den Beweis seines Verdachtes in Form von blauen Flecken an dessen Körper. Es gelingt ihm sogar, den Unterdrücker seines Sohnes ausfindig zu machen, stößt allerdings seitens der Schulleitung auf taube Ohren. Mehr noch: Der Minderjährige und Strafunmündige sucht den direkten Kontakt zu Carlos, stellt ihn seinerseits zur Rede und stigmatisiert ihn als „Petze“. Und wird fortan omnipräsent im Leben der Familie bleiben.

An dieser Stelle offenbart sich die ganze Hilflosigkeit: Die Strategien der Vermeidung funktionieren nicht mehr, Carlos macht sich selbst erpressbar und reagiert folgenschwer mit dem Versuch, sich aus dieser Bedrohung freizukaufen, was natürlich das Gegenteil zur Folge hat. Auch die gesteigerte Überwachung des Sohnes führt eher dazu, dass alles noch schlimmer wird. Während beide – Vater und Sohn im stillschweigenden Einverständnis – der Mutter vorzumachen versuchen, dass alles in bester Ordnung sei, beginnt ein unterschwellig panisches Leben aus Flucht, Verdrängung und Lügen.

Rosa bedient sich eines recht einfachen psychologischen Erklärungsansatzes, welcher die Konditionierung zu einem Gefangenen der eigenen Ängste erklärbar macht: Vermeidungen verhindern Löschungen. Und er zieht alle Register. Das Buch liest sich wie ein Kaleidoskop verschiedenster Ängste und Unsicherheiten, welche die recht schnell erzählte Rahmenhandlung stofflich ausfüllen. Dabei verlässt der Autor gern auch die literarische Ebene, um unkommentiert eine nüchterne Anschaulichkeit zu konstruieren: Neben den Ratschlägen des Spanischen Innenministeriums zur Sicherheit der Bürger baut er auch eine Broschüre mit Anweisungen zur körperlichen Selbstverteidigung mit ein.

Typisch für Rosas Schreibstil ist das Verlassen der engen Perspektive des Protagonisten. So lässt er Carlos nie aus der Ich-Perspektive erzählen, der Erzähler bleibt stets nüchtern-objektiv und im Präsens. Damit gelingt ihm auch perfekt, dass es kaum zu einer Identifizierung mit dem Protagonisten kommen kann. Mehr noch, der Leser wird geradezu angehalten, in das Geschehen eingreifen zu wollen und zumindest seine eigenen Denkschemata infrage zu stellen. Das macht Rosa einzigartig, auch weil er in diesem Buch völlig anderes Terrain als in seinem Diktatur-Aufarbeitungs-Debütroman „Das Leben in Rot“ („El vano ayer“) betritt.

Der Schutzlose kann schließlich nicht anders, als sich Schutz zu suchen. Das Anvertrauen an seinen Schwager – ein korrupter Polizist, welcher geradezu antithetisch zu Carlos dargestellt wird – gibt der Erzählung eine entscheidende Wendung und führt letztlich zu einer erneuten Infragestellung des Konfliktverhaltens, nur mit Tendenz hin zum anderen Extrem. Doch Rosa will auch nicht erklären und schon gar nicht Hilfestellungen zur Konfliktbewältigung bieten. Es geht ihm vielmehr um eine minutiöse Darstellung des Scheiterns anerlernter Verhaltensweisen in einem von Angst geprägten Klima gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und das gelingt ihm beeindruckend gut. Ein Buch, das lange nachwirkt.

Titelbild

Isaac Rosa: Im Reich der Angst. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Luis Ruby.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
316 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783608938944

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