Die ersten fünf Lebensjahre, die voller täglicher Mysterien sind

Bora Ćosić erzählt in ihrem Roman „Eine kurze Kindheit in Agram“, wie ein kleines Kind die Welt entdeckt

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

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Seltsam, diese Gegenstände, seltsam das Gewebe, das Tuch, ein Hemdchen, ein Höschen. Staunend fragt sich der Kleine, „ob dieses bisschen Stoff ein Eigenleben hat, etwa, wenn ich morgens auf meine Söckchen stieß, die über Nacht die Form meiner Füße angenommen hatten, als würde sich etwas in ihnen selbständig bewegen.“ So entdeckt der kleine Bora die Welt. Entdeckt etwas Haariges unter seinen Füßen, den „Duft der mütterlichen Seife“ und das Baden, das ohne Zweifel auch Jesus durch die leichte Reizung der Haut „etwas anderes, Sündiges, Verwerfliches und ungeheuer Anziehendes“ lehrte.

Und die Dinge, dieses Zwischenreich eines „abstrakten Meers der Gegenständlichkeiten“, die auch ihre Empfindsamkeiten haben, die er spürt, „wenn ich mit dem Knie an die Wand oder die Tür stoße“. Die ihren eigenen Charakter haben. Deswegen redet er mit den Gegenständen und hält „Werkzeuge für viel fähiger und stärker als uns Menschen“, denn wie „das Leben eines Schlüssels“ mit dem Schloss zusammenpasst, die Tür in ihrem Rahmen hängt, der Deckel auf der Schachtel sitzt: Das sind wahre Wunder. „Insbesondere das Institut von Knopf und Knopfloch beschäftigt mich.“

Fünf Jahre seines Lebens beschreibt der serbische Schriftsteller und Satiriker Bora Ćosić, der 1932 in Zagreb geboren wurde, das damals noch Agram hieß. Die ersten fünf Jahre, die voller täglicher Mysterien sind. In denen er erst das Haus, dann die Straße, schließlich die Stadt erkundet und sich einverleibt. Auch die Fülle der Menschen, die zuerst aus den Eltern und der Großmutter besteht, dann kommt eine Frau mit Schrubber und Eimer und Oberlippenbart dazu, und immer mehr, bis die Welt voll ist.

Auch die Dinge verwandeln sich. Denn dass man drinnen alles noch mit den Fingern greifen kann, funktioniert draußen nicht: Da sind die Kirchtürme plötzlich so weit weg, dass Bora nicht weiß, wie lang der Arm sein muss, damit er sie erreichen kann. Plötzlich liegt draußen alles unter einer weißen Decke, „und alles gehorcht der Doktrin der Glätte“. Und dann „gibt es mehr Welt als man fassen oder verbrauchen kann“.

Zärtlich und tastend erkundet Bora Ćosićs teils erfundene, teils autobiografische Gestalt Bora eine Welt, die sich vor ihm entfaltet und immer wieder entzieht. Er sieht und erschafft sie neu, aber sie hat auch ihre eigenen Grenzen, an die der Kleine immer wieder stößt. Mit philosophisch offenen Sinnen und einem sensiblen Gespür für die Feinheiten der Sprache erzählt Ćosić von einem erwachenden Bewusstsein, das die Welt ganz neu erlebt. Und so können auch wir die Welt neu sehen lernen, durch Kinderaugen, die eigentlich die Augen eines 80-Jährigen, des Autoren Bora Ćosić, sind. Ein sehr weises, vorsichtiges und manchmal erhellend witziges Wechselspiel.

Titelbild

Bora Ćosić: Eine kurze Kindheit in Agram.
Übersetzt aus dem Serbischen von Brigitte Döbert.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
160 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783895615856

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