„Die Geburt der Beziehungsanalyse“ und sexueller Missbrauch in der Psychoanalyse
Über David Cronenbergs Film „Eine dunkle Begierde / A Dangerous Method“
Von Gottfried M. Heuer
„Schreie über dem Zürichsee“[1]:
Von vier schwarzen Pferden gezogen, hetzt eine dunkle Kutsche über eine Landstraße, hält vor einem düsteren Gebäude, wo mehrere Personen vonnöten sind, um eine schreiende und sich heftig wehrende junge Frau durch die imposante Eingangstür zu zwingen: so beginnt David Cronenbergs neuer Film „Eine dunkle Begierde / A Dangerous Method“. Eine Entführung, ein Verbrechen? So könnte man mit Recht auf Grund des bisherigen Œuvres dieses Regisseurs vermuten.[2] Tatsächlich geht es um Verbrechen, um Schock und Horror, aber anders als in seinen früheren Filmen: das Verbrechen körperlichen und sexuellen Mißbrauchs in der Familie und der Psychoanalyse, sowie dessen traumatische Folgen. Aber diesmal ist es weniger Cronenbergs Absicht, zu schockieren, als vielmehr alte Wunden zu heilen: „Künstler sind wie Seelenärzte“,[3] sagt er über seinen Film, dessen Thema der wohl entscheidendste Wendepunkt in der Geschichte psychoanalytischer Theorie und Praxis ist, eine Revolutionionierung der selbst noch recht jungen psychoanalytischen Revolution. Der Film zeigt, dass die von Freud entwickelte Heilmethode der „talking cure“ eine in der Tat höchst gefährliche ist, dass – metaphorisch ausgedrückt – das Skalpell des Seelearztes zu einer gefährlichen Waffe werden kann, wenn dieser seine Kunst verrät und damit einen „Seelenmord“[4] begeht. Das heißt allerdings, genaugenommen, nicht, dass die Heilmethode selbst gefährlich ist, sondern der Analytiker, der sie missbraucht. Cronenberg meint: „In meinen Augen sind die Entdeckungen Freuds und Jungs ein welterschütternder Augenblick, ein Glanzpunkt in der Geschichte der Menschheit.“[5] Sein Film „erzählt eine lebenswichtige Geschichte, die die Welt verändert hat, und die Art und Weise, in der wir uns selbst sehen.“[6]
Der Film handelt auch davon, dass Freud und Jung diese Entdeckungen nicht alleine gemacht haben: im Frühsommer des Jahres 1908 bekommen sie ganz entscheidende Hilfe von zwei weiteren Pionieren der Psychoanalyse, die daraufhin – Dank der Anstrengungen Freuds und Jungs – für viele Jahrzehnte aus der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse, die Erich Fromm nicht zu Unrecht „stalinistisch“[7] nennt, verbannt werden: Sabina Spielrein (1885 – 1942) und Otto Gross (1877 – 1920). Spielrein ist jene junge Frau, die zu Beginn des Films – im Jahre 1904 – als Patientin zur psychiatrischen Behandlung in die Burghölzli Klinik bei Zürich eingeliefert wird, um von dem dortigen Chefarzt Jung behandelt zu werden. Sie ist die erste Patientin, an der dieser die Freud’sche Methode ausprobiert, über die er zu diesem Zeitpunkt lediglich etwas gelesen hat. Vier Jahre später ist Spielrein soweit geheilt, dass sie auf dem Wege ist, selbst Ärztin und Analytikerin zu werden. Zu dieser Zeit, 1908, kommt auch – auf Empfehlung Freuds – Otto Gross in diese Klinik: selber Arzt Psychiater, Universitätsdozent, Psychoanalytiker – und Anarchist.
Die Wiederentdeckung beider ist Zufallsfunden von Dokumenten in den 1960er-und 1970er-Jahren zu verdanken: 1967 entdeckt Emanuel Hurwitz, derzeit Chefarzt des Burghölzli, die Krankengeschichte Jungs zu seiner Analyse von Gross im Institutsarchiv, und veröffentlicht zwölf Jahre später sein Buch über Gross.[8] 1977 kommt der italienische Analytiker Aldo Carotenuto in den Besitz einer Sammlung von Briefen und Tagebüchern Spielreins, die im Genfer Institut für Psychologie entdeckt worden sind. Er veröffentlicht sein Buch 1980.[9]
Spielrein ist die eigentliche Hauptperson des Films, während Gross als „geiler“,[10] „versauter“[11] und „wilder Psychiater“, der Jung wie „der Teufel im Nacken sitzt“[12] – so die Filmkritiker – lediglich in einer Nebenrolle auftaucht, in der er für humoristische Ablenkungen sorgt: eine weiterhin andauernde Wirkung jener oben erwähnten Verdrängung? Im Nachspann des Films wird sogar sein Todesjahr falsch als „1919“ angegeben. Tatsächlich hält Gross bereits 1902 – als Jung Freud noch nicht einmal gelesen hat, wie er in seinen Memoiren schreibt – Vorlesungen über Freuds Psychoanalyse an der Universität von Graz. Aber schon ein Jahr nach Gross’ Tod schreibt der österreichische Satiriker Anton Kuh über ihn als einen Mann, „den außer einer Handvoll Psychiatern und Geheimpolizisten die wenigsten beim Namen kennen und unter diesen wenigen nur solche, die ihm zur Schmückung des eigenen Gesäßes die Federn ausrupften.“ [13] Letzteres gilt heute nicht nur für Gross, sondern auch für Spielrein: Cronenbergs Film kann als Beitrag dazu verstanden werden, dies – hauptsächlich was Spielrein betrifft – zu korrigieren.
Amour fou: „Eine dunkle Begierde“.
„Amour fou“ nennen wir eine Liebesbeziehung, in der von beiden Beteiligten jeweils derart große und letztlich unerfüllbare Erwartungen an die andere Person gerichtet werden, dass die Beziehung nur in tiefster Enttäuschung enden kann. Vordergründig erzählt der Film davon, wie sich eine solche Beziehung aus der therapeutischen Beziehung zwischen C.G. Jung und seiner Patientin Sabina Spielrein entwickelt. Aber es gibt da noch zwei weitere derartige Beziehungen: die zwischen Sigmund Freud und Jung, und die zwischen Jung und Otto Gross. Auch davon handelt dieser Film.
Freud, Jung und Gross erhoffen sich voneinander eine erfüllende und vor allem heilende Vater-Sohn-Beziehung. Freud sieht in Jung seinen Thronfolger und Erben und hofft, dass er seine Wissenschaft aus dem jüdischen Ghetto herausführen möge. Das zeigt der Film auf subtile Weise: als Jung ganz naiv verblüfft Freud fragt, was denn Wissenschaft mit Jüdisch- oder Nicht-Jüdischsein zu tun habe, antwortet Freud, dass eine solche Frage typisch sei für einen Protestanten. Dass es sich auch hier um weit mehr als eine berufliche Beziehung zwischen Kollegen handelt, zeigt der Film in dem Moment, in dem Freud – das ist historisch belegt – in den Armen Jungs aus einer Ohnmacht erwacht.
Freud schreibt Jung: „Sie sind doch [von allen derzeitigen Analytikern] der einzige, der in der Lage ist, etwas von seinem Eigenen zu geben, außer vielleicht Otto Gross“.[14] – Psychologisch gesehen werden Jung und Gross gewissermaßen zu Brüdern: gemeinsam verteidigen sie 1907 Freuds Psychoanalyse auf dem internationalen Amsterdamer Psychiatriekongress. Im Frühjahr des folgenden Jahres 1908, auf dem 1. Internationalen psychoanalytischen Kongress in Salzburg, weist Freud Gross allerdings wegen seines revolutionären politischen Engagements zurück: „Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben.“[15] Anschließend empfiehlt Freud Gross an Jung zur Heilung von seiner Kokainsucht. Cronenbergs Film zeigt Gross’ Ankunft im Burghölzli. In der Folge kommt es hier zur ersten dokumentierten gegenseitigen Analyse. Begeistert schreibt Jung an Freud: „Ich habe alles liegengelassen und alle verfügbare Zeit, tags und nachts, an Groß gewendet, um seine Analyse möglichst zu fördern… Wo ich nicht mehr weiterkam, hat er mich analysiert. Auf diese Weise habe ich auch an meiner eigenen Gesundheit profitiert.“[16]
Wenig später berichtet Jung: „In Groß erlebte ich nur allzuviele Seiten meines eigenen Wesens, so daß er mir oft vorkam wie mein Zwillingsbruder.“[17] – Der Film bezieht sich auch subtil auf diese gegenseitige Analyse, die Gross durch Flucht über die Anstaltsmauer abbricht, als er merkt, dass Jung im Versuch eines psychologischen „Brudermords“[18] darauf abzielt, ihn für schizophren und damit legal für unzurechnungsfähig zu erklären: in einer Filmszene bedauert Jung, „Ihre Analyse war fast vollendet!“ Gross bedankt sich, und antwortet: „Von ihrer kann man das ja wohl leider nicht behaupten.“[19]
Spielrein und Jung verlieben sich ineinander. Während Jung zögert, seine sexuellen Gefühle auszuleben, wird er von Gross, der der Ansicht ist, als Analytiker überwinde man die sexuelle Übertragung durch Sex mit der Patientin, dazu ermutigt. Spielrein schreibt in ihr Tagebuch, „nun kommt er [Jung] ganz freudestrahlend und in tiefster Rührung von Gross, von der großen Erkenntnis, die ihm nun aufgegangen ist […], er will nun nicht mehr sein Gefühl zu mir unterdrücken.“[20]
Spielrein spricht allerdings lediglich davon, sie und Jung hätten „zarte Poesie“ miteinander gemacht: HistorikerInnen streiten seitdem, ob damit tatsächlicher Geschlechtsverkehr gemeint sei oder nicht, obwohl das aus heutiger Sicht für den Tatbestand des Missbrauchs, der eindeutig ist, unerheblich ist: eine Unterscheidung zwischen emotionalem und/oder körperlichem Missbrauch ist nicht länger sinnvoll. Der Film macht aus der „zarten Poesie“ sadomasochistische Peitsch-Szenen, die dokumentarisch nirgends belegt sind. Die Szene, in der Spielrein sehr emotional darauf reagiert, dass Jung bei einem gemeinsamen Spaziergang ihren Mantel, der in den Staub gefallen ist, mit seinem Stock ausschlägt, ist allerdings von Jung überliefert. – Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es jene Szenen sind, in denen Jung Spielrein selbst durch Schläge misshandelt, auf die sich die Kommentare besonders der Boulevardpresse konzentrieren. Zutiefst schockierend dagegen ist, dass ein Analytikerkollege meinte, nachdem er Cronenbergs Film gesehen hatte, dass Spielreins Heilung auf diesem Missbrauch durch ihren Analytiker beruhe.
Allerdings ist eine derartige Feststellung lediglich ein Echo von Urteilen, die sich selbst in Carotenutos Buch finden lassen. Implizit verteidigt dieser Jung, wenn er schreibt: „In der Situation, in der Jung sich befand, musste Sabina für ihn ein typisches Anima-Bild verkörpert haben, anziehend und abstoßend, wunderbar und teuflisch, aufregend und deprimierend.“[21] (Sowohl Carotenuto als auch Cremerius nennen Spielrein meist nur bei ihrem Vornamen, während anderserseits niemals etwa von „Sigmund“ oder „Carl Gustav“ die Rede ist). Carotenuto fühlt sich hier in die Opferrolle des Täters ein, eine Umkehrung des tatsächlichen Sachverhalts, die im Zusammenhang mit Missbrauch leider nicht ungewöhnlich ist: ein Jahr später schreibt Jung an Freud: „Groß und Spielrein sind bittere Erfahrungen. Keinem von meinen Patienten habe ich dieses Maß an Freundschaft gegeben, und von keinem habe ich ähnlichen Schmerz geerntet.“[22]
Bruno Bettelheim, um den es selbst Gerüchte wegen Patienten-Missbrauchs gibt, geht in seinem Kommentar noch einen beträchtlichen Schritt weiter und stellt mit lapidarem Zynismus fest: „Wie fragwürdig auch immer Jungs Verhalten aus einer moralischen Perspektive gewesen sein mag – selbst unorthodox und schändlich – so hat er dennoch die grundsätzliche Verpflichtung erfüllt, die ein Therapeut seiner Patientin gegenüber hat, nämlich die, sie zu heilen. Es ist wahr, daß Spielrein einen hohen Preis in Form von Unglücklichsein, Verwirrung und Desillusion für ihre spezielle Heilung zahlte, aber so ist es oft mit PatientInnen, die so krank sind wie sie.“[23]
Dass Spielrein trotz des erlittenen Missbrauchs zu einer gewissen Heilung gelangt, scheint diesen Analytikern nicht in den Sinn zu kommen. Historisch korrekt erzählt der Film von der „Komplizenschaft der Männer gegen die Frau, die sich auf die Verführung eines Mannes eingelassen hat […]. Der Zynismus dieser Komplizenschaft ist angesichts der Patientin, die schwer verstört und beschädigt zum Opfer wird, erschütternd.“[24]
Bedeutend für unsere heutige Sicht ist die Frage, wieweit dieses Verhaltensweise der Analytiker gegenüber der Patientin des einen auch damals bereits als verwerflich galt. Ich glaube, dass Jungs Versuche, sein Verhalten anfänglich vor Freud geheimzuhalten, sowie die Bemühungen beider, den Skandal einzugrenzen, diese Frage ausreichend beantworten.
Was der Film nicht zeigt ist, dass diese Beziehungsverflechtungen auch deshalb ganz besonders intensiv sind – leidenschaftlich im Sinne von „Leiden schaffend“ –, weil alle Beteiligte aus heutiger analytischer Perspektive jeweils in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen sind. Im Film wird dies nur hinsichtlich Spielreins deutlich. Dokumentarisch belegt ist Entsprechendes aus dem Briefwechsel zwischen Freud und Jung und späteren Krankenakten über Gross: Freud deutet an, dass er von seinem Vater sexuell missbraucht worden sei, Jung von einem männlichen Freund seiner Familie; und Gross ist jahrelang als Kind Zeuge der elterlichen Sexualität, die er als „Hendl abstechen“ erlebt.
Die lebenslangen Suchtverhalten der drei Männer – Kokain und Nikotin bei Freud, Kokain und Morphium bei Gross, Nikotin bei Jung – können damit in Verbindung gebracht werden. Immer scheinen Süchte ihren Ursprung in dem verzweifelten Bemühen zu haben, unerträgliche Schmerzen erlittener Traumata zu betäuben. Ein anderer Weg ist häufig der Versuch, diese in Form von Missbrauch an andere weiterzugeben. In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache zu sehen, dass alle drei zeitlebens eine oder mehrere Doppelehen geführt haben. Ohne eine Norm aufstellen zu wollen, kann diese Beziehungsform auch als Ausdruck innerer Gespaltenheit verstanden werden, Folgeerscheinung unbewältigter früherer Verletzungen. So schreibt Cremerius von Jungs „süchtiger Abhängigkeit von immer neuen Liebesabenteuern.“[25] Dasselbe kann auch für Gross gelten. Selbstverständlich sollen diese Überlegungen missbräuchliches Verhalten keinesfalls entschuldigen, sie können lediglich zum Verständnis beitragen und damit einen ersten Schhritt zur Heilung darstellen. Es mag übrigens sinnvoll sein anzumerken, dass keiner der drei Männer derartig lange in Analyse gewesen ist wie Sabina Spielrein.
Die Revolution der Psychoanalyse: „Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution.“[26]
Wieso konnten die traumatischen Ereignisse, von denen der Film handelt, zum vielleicht wichtigsten Wendepunkt der Psychoanalyse werden? Es handelt sich um ganz entscheidende Veränderungen, die hier ihren Ursprung haben. Und diese gehen eindeutig auf Impulse zurück, die von Gross und Spielrein ausgehen.
Von bleibender Bedeutung ist, dass sich das aus der Medizin übernommene traditionelle Arzt/PatientIn-Verhältnis mit dem entsprechenden Autoritätsgefälle aus der sogenannten „Ein-Personen-Psychologie“ – weil ja ursprünglich der Fokus des „Arztes“, wie Freud den Analytiker weiterhin nennt, einseitig auf die Seele der PatientInnen gerichtet war – in eine „Zwei-Personen-Psychologie“ wandelt, bei der seitdem auch bewusst die Psyche des Analytikers beziehungsweise der Analytikerin mit in Betracht gezogen wird. Wurde bis dahin (und auch das war noch recht neu!) lediglich von „Übertragung“ gesprochen – den Gefühlen aus anderen Beziehungen, die der/die Patient/in auf den Analytiker projiziert –, wird seitdem auch mit den Gefühlen gearbeitet, die der/die Analytiker/in auf den/die Patienten/in projiziert: die „Gegenübertragung“ wird entdeckt.
Jung formuliert später, dass die analytische Beziehung wie das Aufeinertreffen zweier chemischer Stoffe sei, wobei beide verändert werden. Parallel zur Entwicklung der Naturwissenschaften im vorigen Jahrhundert verschwindet auch hier die Rolle des objektiven, unbeteiligten Beobachters. Das hat bis heute Auswirkungen in der Psychoanalyse: man spricht von der „intersubjektiven Wende“.[27] An dieser Veränderung ist Spielrein eher passiv beteiligt. Erst als Freud aus seiner Korrespondenz mit Jung erfährt, welch starke Gefühle auch der Analytiker in der therapeutischen Beziehung entwickeln kann – beziehungsweise diese von Anfang an in die Beziehung bringt – spricht er zum ersten Mal von Gegenübertragung.
Otto Gross geht jedoch noch einen Schritt weiter und wendet in seiner Analyse durch Jung das anarchistische Prinzip von Gegenseitigkeit und Gleichheit an, indem er die Patienten- und Analytiker-Rollen vertauscht, wie er das auch schon vorher mit FreundInnen und PatientInnen getan hat: die Geburt der Intersubjektivität. Dies, und die Verbindung von Psychoanalyse mit revolutionärer Politik – „Die Psychologie des Unbewußsten ist die Philosophie der Revolution“[28] schreibt er später – sind vielleicht seine entscheidendsten Beiträge zur Theorie und Praxis der Psychoanalyse, bis heute von bleibender Gültigkeit.
Sabina Spielrein veröffentlicht mehr als 30 Arbeiten in deutscher, russischer und französischer Sprache, darunter 1912 einen längeren Text, der als Grundstein für die von Freud acht Jahre später entwickelte Theorie des sogenannte Todes-oder Aggressionstriebs angesehen wird: „Die Destruktion als Ursache des Werdens“.[29] Obwohl ihr Beitrag zur Theoriebildung des Todestriebs – von Freud nie ausreichend gewürdigt – als ihr wichtigster betrachtet wird, sollte angemerkt werden, dass diese Theorie mehr und mehr an Bedeutung verliert. Zu Beginn vorigen Jahres schreibt der Neurobiologe und Psychoanalytiker Joachim Bauer: „Die moderne Neurobiologie kann das Konzept eines primär blutrünstigen, durch einen Aggressionstrieb getriebenen Menschen nicht stützen.“ [30] Entsprechend äußert sich der Psychologe Steven Pinker kürzlich: „Viele glauben an eine […] Theorie der Gewalt in dem Sinne, daß dem Menschen ein innerer Trieb innewohnt, der auf Aggression aus ist (ein Todestrieb […]), der sich in unserem Inneren aufbaut und periodisch nach Entladung verlangt. Nichts könnte einem derzeitigen wissenschaftlichen Verständnis von Gewalt fernerliegen.“[31]
Wenn lediglich Spielreins Beitrag zur Genese der Freud’schen Todestrieb-Theorie, sowie die Tatsache, dass sie Jean Piagets Lehranalytikerin war – diese zwei Punkte werden, wenn überhaupt, meist in erster Linie im Zusammenhang mit ihrem Werk erwähnt – für uns heute wichtig wären, verdiente sie kaum mehr als eine Fußnote in der Ideengeschichte der Psychoanalyse. Aber das ist längst nicht alles: zum einen ist sie eine wichtige Mitbegründerin der Kinderanalyse: kaum jemand – mit Ausnahme vielleicht von Gross in einigen Passagen seiner Schriften – war zu ihrer Zeit derart in der Lage, sich so in das Seelenleben des Kindes einzufühlen wie sie. Zum anderen – und Cronenbergs Film drückt das aus – ist es die Kraft ihrer Persönlichkeit in ihrer Arbeit und in ihrem Leben, die Spielrein beispielhaft und zukunftsweisend macht.
Was ich damit meine? Nicht wenige der PsychohistorikerInnen und SchriftstellerInnen, die sich mit Spielreins Leben und Werk auseinandergesetzt haben, sind der Versuchung erlegen, sie einseitig als Opfer individueller und kollektiver männlicher Gewalt, als Märtyrerin zu sehen. Das ist angesichts ihres Schicksals, das derartig von Männern beeinträchtigt und letzlich zerstört worden ist, verständlich. Ich denke dabei zuerst an den körperlichen und sexuellen Missbrauch durch ihrenVater und ihre Analytiker und ihre Stärke, in einem derart von Männern beherrschten Beruf Fuß zu fassen: „Die Dreiecksbeziehung zwischen Jung, Spielrein und Freud scheint die Ansicht zu bestätigen, daß die Frühgeschichte der Analyse [– und wir haben gesehen, daß diese immernoch nicht vorbei ist! –] als eine Reihe von Transaktionen zwischen Männern zu verstehen ist, zwischen Anführern und Gefolgsleuten, Vätern und Söhnen, Mitgliedern von Brüderbanden, bzw. einer Urhorde, in der Frauen lediglich als Tauscheinheiten eine Rolle spielen, Waren, die sich zum Handel eignen – oder eben dazu, geopfert zu werden.“[32]
Aber ein ganz bedeutender Aspekt von Spielreins Stärke ist dabei, dass sie sich nicht nur genügend aus der emotionalen und theoretischen Abhängigkeit von Jung und Freud befreit, dass sie zwischen beiden auch dann noch vermitteln kann, als aus denen schon längst unversöhnliche Feinde geworden sind. Sie ist darüberhinaus auch in der Lage, ihrem Vorsatz, sich liebend von Jung zu trennen treuzubleiben: „Nach 1910 nimmt sie die Beziehung zu ihm wieder auf und korrespondiert bis 1919 mit ihm; sie versucht, die in zerstörerischer Feindschaft lebenden Männer miteinander zu versöhnen. Freud schreibt an Sabina am 12. 6. 1914: „wenn Sie bei uns bleiben,… dann werden Sie auch drüben den Feind erkennen“. Sabinas Antwort an Freud: „Ich habe J. Trotz aller seiner Verirrungen gern und möchte ihn wieder den Unsrigen zuführen. Sie, Herr Professor, und er wissen gar nicht, daß ihr beide viel inniger zusammengehört, als man glauben könnte. Dieser fromme Wunsch ist doch kein Verrat an unserem Verein!“[33]
Diese Sätze haben bis heute – leider – nichts von ihrer beispielhaften Gültigkeit verloren: Noch nach gut 100 Jahren wird die Feindschaft zwischen Freud und Jung von Generationen von Analytikern fortgesetzt, allerdings mehr von freudianischer Seite: Während es kaum Jungianer gibt, die in ihren Publikationen nicht auch Freud und Freudianer zitieren, gibt es weiterhin kaum Freudianer, die Jung oder Jungianer zitieren.
Während Gross mehr davon schreibt, dass es das höchste Ziel der Revolution sei, „den Willen zur Macht durch den Willen zur Beziehung zu ersetzen“[34], lebt Spielrein dies. Ihre Verbindung von Psychoanalyse und revolutionärer Politik besteht darin, in das nachrevolutionäre Russland zurückzugehen, um dort als Analytikerin an der Etablierung der Psychoanalyse zu arbeiten – bis der zunehmende Stalinismus das unmöglich macht. Ihre Brüder werden im Laufe der „Säuberungen“ ermordet – so wie sie selbst, zusammen mit ihren Töchtern, von deutschen Soldaten ermordet wird.
Wenn Gross schreibt, „Die kommende Revolution ist die Revolution fürs Mutterrecht“,[35] dann können wir das vielleicht heute als ein Plädoyer für das verstehen, was traditionell dem „weiblichen Prinzip“ zugeordnet wird: Liebes- und Beziehungfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Verzeihen, et cetera. Ohne es selbst leben zu können, ist Otto Gross in der Lage gewesen, dies zu formulieren, darin liegt seine weiterhin zukunftsweisende Bedeutung; die von Sabina Spielrein sehe ich darin, dass sie dies vorbildlich gelebt zu haben scheint.
Der Film: „Die Logik des Kinos ist die Logik des Traums.“[36]
Einem Kritiker, überrascht von der Wahl seines Themas, antwortet David Cronenberg: „Ich begann vor über 40 Jahren als Regisseur mit [dem Film] ,Transfer‘, der die Geschichte eines Analytikers und seines Patienten erzählt. Psychologie und Psychoanalyse haben mich mein Leben lang interessiert.“[37] Trotz einiger überflüssiger voyeuristischer Aspekte in der Präsentation ist Keira Knightley als Sabina Spielrein durch ihre beeindruckend hervorragende schauspielerische Leistung die beherrschende Person des Films. Auch Vincent Cassel überzeugt in seiner (Neben-)Rolle als Otto Gross. Dagegen bleiben für mich trotz beträchtlichen Lobes von Seiten vieler Kritiker sowohl Viggo Mortensen (Freud), als auch Michael Fassbender (Jung) zumeist blass und leblos: Schauspieler, die in ihren Rollen nie wirklich heimisch werden. Auch Jungs Ehefrau Emma ist durch Sarah Gadon viel zu zweidimensional stereotypisch dargestellt. Ungeachtet der Rüge einer Zürcher Kritikerin, dass der Film nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde – „Das Burghölzli liegt am Bodensee“[38] – wirken Exterieurs sowie die Interieurs – die Klinik, Freuds Arbeitszimmer, et cetera – durchaus überzeugend.
Aber das sind nicht die einzigen Orte, an denen die Geschichte spielt, die der Film erzählt: Im letzten Viertel geht es auch um die Reise von Freud, Jung und Ferenczi nach Amerika im Jahre 1909. Auf dem Schiff erzählen sich Jung und Freud – so beschreibt es Jung in seinen Memoiren – ihre Träume, das heißt Jung erzählt Freud, was er geträumt hat. Als er Freud nach dessen Traum fragt, antwortet dieser, dass er nicht darüber sprechen könne, weil er sonst seine Autorität verliere. Für Jung ist dies der Anfang vom Ende seiner Freundschaft mit Freud – und ich denke, dass dabei auch das Erlebnis der gegenseigen analytischen Offenheit mit Gross im Jahr zuvor eine wichtige Rolle gespielt hat.
Die Literatur: „Eine höchst gefährliche Methode“[39]
Der Originaltitel des Films – „A Dangerous Method“ – stammt von dem Buch des amerikanischen Psychohistorikers John Kerr, wobei das Attribut „höchst“ – Kerrs Buch heißt „A most dangerous method“ – aus eigentlich höchst unerklärlichen Gründen verlorengegangen ist. Kerr hat die umfassendste historische Darstellung der Ereignisse verfasst, die der Film thematisiert. Christopher Hampton, der Autor des Drehbuchs, hat sein Theaterstück „The Talking Cure / Die Methode“ für den Film stark verändert und verbessert. Ursprünglich habe ich dieses Stück 2002 bei seiner Uraufführung lediglich als oberflächliche Collage sensationalistischer Einzelheiten, meist aus der Freud/Jung-Korrespondenz, erlebt, die trotz hervorragender schauspielerischer Leistungen – Jodhi May als Spielrein, Ralph Fiennes als Jung – überdies auch noch mit teilweise höchst primitiven Bühnentricks inszeniert worden war. In Cronenbergs Film sind diese Fehler weitgehend korrigiert. Nach London kommt es in der Folge zu Aufführungen von Hamptons Drama in Los Angeles (2004), Zürich (2005), und Hamburg (2007).
„Eine dunkle Begierde“ steht in einer langen Reihe literarischer, dramatischer und auch filmischer Auseinandersetzungen mit der Schlüsselsituation aus der Frühzeit der Psychoanalyse von 1908. Eigentlich schon vor den Veröffentlichungen zur jeweiligen Wiederentdeckung von Spielrein und Gross beginnt die literarische Verarbeitung des Stoffs mit D. M. Thomas’ Roman „The White Hotel“, der Geschichte einer frühen Patientin der Psychoanalyse, die später während der Shoah in Russland von deutschen Soldaten ermordet wird. Thomas selbst wundert sich in einer Rezension von Carotenutos Buch: „Jung wäre sicherlich genau wie ich selbst von den vielen Zufälligkeiten fasziniert gewesen, die Sabina Spielreins Leben mit dem von Lisa Erdman in meinem Roman […] verbinden, obwohl mir die Details ihres Lebens unbekannt waren, als ich den Roman schrieb.“[40]
Chronologisch folgt 1989 ein Theaterstück des Schweizer Dramatikers Linnard Bardill, in dem es allerdings nur um die Beziehung zwischen Jung und Gross 1908 geht.[41] 1996 wird in New York off-Broadway Willy Holtzmans Theaterstück „Sabina“ uraufgeführt,[42] und zwei Jahre später ein Drama gleichen Titels von Snoo Wilson in London.[43] In den 1990er-Jahren hat Hampton bereits ebenfalls ein Theaterstück mit diesem Titel geschrieben, das jedoch nicht zur Aufführung gelangt.[44] 2002, im Jahr der Londoner Uraufführung von Hamptons Theaterstück, wird die Geschichte von Jung und Spielrein gleich zweimal zuerst in Italien, dann in Schweden verfilmt.[45] John Carters Theaterstück „Where Three Roads Meet“ [46] – in meinen Augen die beste Dramatisierung des Stoffes – wird 2005 ebenfalls off-Broadway in New York uraufgeführt. 2006 erscheint Bärbel Reetz’ Roman „Die russische Patientin“.[47] Wie schmerzvoll Jungs Doppelehe für die beteiligten Frauen ist, stellt 2010 mit großer Einfühlung die kanadische Autorin Elizabeth Clark-Stern in ihrem Theaterstück „Out of the Shadows. A Story of Toni Wolff and Emma Jung“[48] dar. (Gegen Ende von Cronenbergs Film wird Toni Wolff kurz erwähnt. Sie nimmt als „Zweitfrau“ für Jahrzehnte Spielreins Stelle ein.)
Fazit: Heilung?
„Jungs Mißbrauch“ – unterstützt von Freud und Gross, möchte ich hinzufügen – „bedeutet eine Verwundung von uns allen“[49], schrieb 1989 der amerikanische Analytiker Peter Rutter, derzeit Vorsitzender des Ethik-Kommittees am C.G. Jung Institut in San Francisco.
Ist es David Cronenberg nun mit seinem Film gelungen, einem „Seelenarzt“ gleich dazu beizutragen, diese Wunde in unserer aller Vergangenheit zu heilen, wie er sich – eingangs erwähnt – implizit geäußert hat? Ich glaube, ja: natürlich sind, wie bei jeder Analyse, Vorsicht und Nachsicht geboten – handelt es sich doch in der Tat um eine „höchst gefährliche Methode“. Genau wie das Unbewusste ist die Vergangenheit ein „fremdes Land“, das uns letztlich verschlossen und unbekannt bleibt. Besonders auf Grund der Vorteile, die das Nachgeborensein mit sich zu bringen scheint, kann die Vergangenheit leicht zu einer Kinoleinwand werden, auf die wir beliebig projizieren. Gut und Böse sind jedoch nur in Märchen – und in Hollywoodfilmen – klar unterschieden, und nur wer unter uns ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.
Freud, Jung, Gross und Spielrein sind im Jahre 1908 gerade erst dabei, vieles von dem zu entdecken, was wir heute wissen. So sollten wir nicht vergessen, dass Freud als erster – neben so vielem anderen – die Idee hat, dass ein tieferer Sinn in dem liegen könne, was „hysterische Frauen“ sagen und tun; dass es Jung ist, der – ebenfalls neben vielem anderen – entdeckt, dass das Unbewusste nicht nur Abfallhaufen persönlicher und kollektiver Geschichte, sondern auch Quelle unserer Kreativität und somit Lebensfreude ist; dass Gross – wiederum neben anderem – als erster davon spricht, dass das Persönliche das Politische ist, und der sowohl im einen wie im anderen Bereich für ein „Make Love, Not War“ eintritt, wie es viel später formuliert wird. Und Spielrein? Bei aller Bewunderung für ihr Leben und Werk stellt sich für mich die Frage, eigentlich mehr ein Wunsch: Hätte sie vielleicht, im Sinne des oben erwähnten „weiblichen Prinzips“ etwas lieber und sanfter auch mit sich selbst umgehen können?
Johannes Cremerius fragt am Ende seines Kommentars: „Wiegt der Gewinn die Opfer auf?“ und antwortet: „Nein! ,Wenn die Erkenntnis uns an der Liebe hindert, so müssen wir die Erkenntnis aufgeben.‘“[50] Letztlich ist es dieses Dilemma, mit dem Cronenbergs Film uns konfrontiert, denn tatsächlich haben die Ereignisse, die der Film zeigt, durch die Art und Weise, in der wir uns selbst sehen und verstehen können, die Welt verändert. Über Jungs und Gross’ Begegnung schrieb die englische Autorin A. S. Byatt kürzlich: „Du mußt verstehen: es waren Engel, die miteinander rangen.“[51] Könnte es möglicherweise – für alle Beteiligte am Drama, und das sind nicht nur Freud, Jung, Gross und Spielrein, sondern auch wir selbst – am heilsamsten sein, letztlich diese Sichtweise zu erwägen?
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[1] Kniebe 2011.
[2] Siehe Joel 2011.
[3] Cronenberg/Höbel 2011, S. 136.
[4] Ein Begriff, den Daniel Paul Schreber ursprünglich 1903 in seinen autobiografischen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ verwendet, und den der amerikanische Psychoanalytiker Leonard Shengold zuerst 1979 in einem Aufsatz und 10 Jahre später in seinem Buch gleichen Titels allgemein für Folgen von Mißbrauch und Deprivation benutzt (Shengold 1979; 1989).
[5] Cronenberg/Höbel 2011, S. 136.
[6] Diamond 2011.
[7] Fromm 1989 S. 195
[8] Hurwitz 1979.
[9] Carotenuto 1986.
[10] Meier 2011.
[11] Anon. 2011a.
[12] Calhoun 2011.
[13] Kuh 1921, S. 16f.
[14] Freud/Jung 1984, S. 62.
[15] Gross 1913a, Sp. 507.
[16] Freud/Jung Briefwechsel 1974, S. 169 – 170.
[17] Freud/Jung 1974, S. 173.
[18] Siehe Heuer 2008.
[19] Ich zitiere sinngemäß aus der Erinnerung. Das Drehbuch liegt mir nicht vor; G. H.
[20] In Carotenuto 1986, S. 107.
[21] Carotenuto 1986, S. 165.
[22] Freud/Jung, S. 253.
[23] Bettelheim 1986, S. XXXVIII.
[24] Cremerius 1986, S. 9, 10.
[25] Cremerius 1986, S. 14.
[26] Gross 1913a, Sp. 384.
[27] Altmeyer & Thomä 2010; Siehe auch Heuer 2011.
[28] Gross 1913a, Sp. 384.
[29] Spielrein 1987.
[30] Bauer 2011, S. 27.
[31] Pinker 2011, S. XXV.
[32] Appignanesi /Forrester 1992, S. 204.
[33] Cremerius 1986, S. 17. Hervorhebung im Original.
[34] Gross 1919.
[35] Gross 1913, Sp. 387.
[36] Cronenberg in Cronenberg/Höbel 2011.
[37] Cronenberg in Cronenber/Suchsland 2011.
[38] Meier 2011.
[39] Kerr 1993.
[40] Thomas 1982, S. 3.
[41] Bardill 1989.
[42] Holtzman 1996.
[43] Wilson 1998.
[44] Grady 2011.
[45] Faenza 2002; Martón 2002.
[46] Carter 2005. Siehe die Besprechung in Heuer 2008a.
[47] Reetz 2006.
[48] Clark-Stern 2010.
[49] Rutter 1989, S. 45.
[50] Cremerius 1986, S. 28. Das Zitat stammt von C. von Weizsäcker.
[51] Bvatt 2009, S. 505.