Elegie auf die Mittelschicht

Zum Nachhören: Auszüge aus Peter Kurzecks monumentalem Vorabend

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist über tausend Seiten lang und war für den Deutschen Buchpreis nominiert? Peter Kurzecks „Vorabend“, einer der am meisten gefeierten Romane im vergangenen Herbst. Ein langes und liebevoll komponiertes Buch, in dem nicht eben viel passiert. Zu Beginn der 1980er-Jahre sitzt ein knapp 40-jähriger aus Mittelhessen in seiner Frankfurter Wohnung und erinnert sich, wovon er im Jahr zuvor seinen Eschersheimer Freunden erzählt hat – nämlich vom Leben in seiner mittelhessischen Heimat. Ein Leben zwischen Metzger und Hobbykeller, Friseur und Eckwirtschaft, zwischen Früh-, Mittel- und Spätschicht in den Buderus-Werken in Lollar, ein paar Kilometer nördlich von Gießen. Kurzeck beschreibt das Leben in der Kleinstadt und den umliegenden Dörfern von den 1950er- bis in die frühen 1980er-Jahre. Das Ergebnis ist ein gigantisches Diorama, das auch noch die kleinste Nebenfigur, die ausgefallenste Redensart jener Zeit erfassen und archivieren will, inklusive sämtlicher Kühlschränke und Briefkästen: „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit“ – mit dieser Maxime macht Kurzeck ernst. Und gerade diese Detailverliebtheit ist es, die einen elegischen Sog entfaltet, als würde man durch die stillen Provinzlandschaften in Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“ fahren.

Es läge auf der Hand, dieses umgrenzte Leben mit seinem beschränkten Horizont zu karikieren; dass genau dies nicht passiert, liegt vielleicht an dem großen zeitlichen Abstand, der den Autor und uns als Leser bereits vom Standpunkt des Erzählers trennt. Doch was für ihn noch Vergegenwärtigung ist, liegt für uns bereits in der tiefsten Vergangenheit. Eine erzählte Welt wie unter Glas ist es, die hier vor uns entworfen wird, und das macht vielleicht den zutiefst elegischen Grundton dieser Hommage an die Provinzwelt der alten Bundesrepublik aus. Nicht: früher war alles besser, aber: früher gab es dies und das und es existiert heute nicht mehr. Man muss das nicht gleich mit der Proustschen „Suche nach der verlorenen Zeit“ vergleichen, wie es Deutschlandradio Kultur tat, aber ein großer Roman ist „Vorabend“ ohne Zweifel.

Um den Roman als Ganzes hörbar zu machen, hätte es eine 40 CD-Box oder wenigstens drei bis 4 MP3-Alben gebraucht. Der Stroemfeld Verlag geht jedoch einen anderen Weg und bietet sechs Stunden Auszüge aus dem Werk, die Kurzeck für den Saarländischen und den Hessischen Rundfunk eingelesen hatte. Es handelt sich um drei größere Abschnitte, die um wenige Figuren zentriert sind und natürlich nur einen ersten Eindruck des Romans bieten können. Wer Kurzecks Projekt mag, wird diese sechs Stunden genießen; alle anderen dürfen in die nächste Bahnhofsbuchhandlung laufen und die Spiegel-Beststellerliste leerkaufen.

Titelbild

Peter Kurzeck: Peter Kurzeck liest aus Vorabend.
6 CD.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
355 min, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000896

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