Identitätsbrüche und Erfahrungsgewinne

Walter Hincks neues Buch über deutschsprachige Exillyrik

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gesang der Verbannten“ – dieser etwas blumige Titel ist nur eine poetische Umschreibung für ‚Exillyrik‘. Das Buch selbst aber ist keine trockene literaturgeschichtliche Abhandlung, die im Gänsemarsch durch die Epochen literarische Exilphänomene aneinanderreiht, wie der Untertitel mit seiner Zeitangabe „von…bis“ missverstanden werden könnte. Es ist vielmehr ein großer, in sieben Kapitel einschließlich Vor- und Nachwort und Anmerkungen gegliederter Essay zum Thema ‚Exil und deutsche Lyrik‘. Genauer und auch etwas blumig gesagt: eine Komposition, die aus einem Vorspiel und vier ‚Sätzen‘ besteht, zwei ‚schnellen‘ und zwei ‚langsamen‘. Das ganz kurze Vorspiel stellt den humanistischen Schriftsteller Ulrich von Hutten und sein einst berühmtes Lied „Ich hab’s gewagt mit Sinnen“ vor, das als Flugblatt in frühneuhochdeutscher Sprache – also nicht mehr im üblichen Humanistenlatein – zum ersten Mal in der neueren deutschen Literatur Exilerfahrung exemplarisch thematisiert.

Ein Vorspiel nur, denn dann springt der Essay über drei offenbar exilliteraturarme Jahrhunderte hinweg, um sich auf die zwei markantesten Phasen der deutschen Geschichte mit geballter Exildichtung zu konzentrieren: im 19. Jahrhundert die Zeit um die Revolutionen von 1830 und 1848, im 20. die Zeit der Nazi-Herrschaft. Zu jeder der beiden Epochen gibt es einen ‚schnellen Satz‘, der einen Überblick über die markantesten Lyrikerstimmen, und einen ‚langsamen‘, der die jeweils eindeutig überragende Stimme präsentiert. Das sind natürlich Heinrich Heine und Bertolt Brecht.

Der erste ‚schnelle Satz‘ ist relativ kurz: Er widmet sich drei Sängern demokratischer Opposition, Freiligrath, Herwegh und Kinkel, dazu in einem kleinen Exkurs zum ,Anti-Märchen’ in Büchners „Woyzeck“ als „Exilparabel“. Ich spreche hier von ‚Sängern‘ nicht in Anspielung auf den Buchtitel, sondern weil dieser altmodische Ausdruck für ‚Gedichteschreiber‘ andeuten soll, dass alle drei aufgrund ihrer pathetischen lyrischen Sprache nur noch historisches Interesse wecken können. (Allenfalls für Herwegh würde ich das relativieren, dem 1967, zu seinem 150. Geburtstag, meine erste literaturkritische Arbeit mit dem von Heine geborgten Titel „Die eiserne Lerche“ gewidmet war.) Der Revolutionär Herwegh übrigens erhob, wie Hinck bemerkt, Ulrich von Hutten „zur sakralen Figur, zum Heilsbringer für das deutsche Volk“, während der Konservative C. F. Meyer ihn auch und vor allem – genaus wie im ‚Vorspiel‘ angedeutet – als einen Menschen „mit seinem Widerspruch“ dargestellt hat.

Der ‚langsame Satz‘ über Heinrich Heine variiert das Leitmotiv des Exils in dessen Gesamtwerk: Deutschland-Nostalgie und Deutschland-Satire, lyrische Zeit-, Sozial-, Ideologie- und Geschichtskritik, Elend und Glück des Exils. Er führt dabei Themen fort, die der Heine-Forscher Hinck bereits früher angeschlagen hatte („Die Wunde Deutschland“). Im Heine-Kapitel wird auch konkret anschaulich, dass es zwischen Exil und Emigration fließende Übergänge geben kann. Mit Recht hat er darum auf pedantische terminologische Erörterungen verzichtet. Allerdings hätte eine deutlichere sachliche Unterscheidung gut getan: zwischen kollektivem, individuellem und besonderem Schriftsteller-Exil sowie zwischen Lyrik, die im Exil geschrieben und von ihm geformt wurde, und solcher, die das Exil thematisiert, noch enger eingegrenzt: die das Schriftstellerexil reflektiert.

Der dann nach einem Jahrhundertsprung folgende ‚schnelle Satz‘, der einen Überblick über lyrische Stimmen der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ bietet, ist den längste von allen vieren. Das macht: Ihre Zahl ist beispiellos groß. Hinck hat rund zwei Dutzend ausgewählt und gut gewählt. Das sind teils aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, teils aufgrund ihrer politischen Einstellung von den Nazis ins Exil Gezwungene. Er stellt sie, bekannte und weniger bekannte, in gekonnten Kurzcharakteristiken vor, mit sparsamen, aber sicheren Strichen ihre jeweiligen Kontexte zeichnend, einzelne Gedichte unter dem Exil-Aspekt exemplarisch interpretierend. Exkurse zu Ghetto- und Shoah-Lyrik lassen den Kurs des Essays allerdings ebenso kurz wie lehrreich ein wenig abirren, denn Gertrud Kolmars Lyrik ist eben keine des Exils, auch nicht Celans ausführlich besprochene „Todesfuge“ – in Unterschied zu seiner späteren Lyrik.

Ein ‚langsamer Satz‘ über den Exillyriker Brecht krönt und schließt die Komposition. Er hat zwei Leitthemen. Einmal: „Kein vom Hitler-Regime Verbannter hat in seiner Lyrik die Situation des Schriftstellers im Exil so andauernd und so bewusst reflektiert wie Brecht.“ Das zweite Leitthema: In Brechts Gedichten „zeichnen sich Grundlinien einer exemplarischen Exil-Biographie ab“.

Die Gliederung markiert indessen mehr die spezifischen Aspekte bei Brecht: das ‚antifaschistische‘ Engagement des Kommunisten, Situationen und Phasen eines für Gedichtproduktion fruchtbaren „Atemholens auf der Flucht“, Isolation und Echolosigkeit in der Fremde, Kulturkritik am ‚Exilparadies‘ Kalifornien, Kontroversen über Deutschland (namentlich mit Thomas Mann), poetische und poetologische Selbstreflexion des Gedichtemachens im Exil, schließlich das von Geschichts- und Exilerfahrung gesättigte lyrische ‚Vermächtnis‘ Brechts: das große Gedicht und Epochendokument „An die Nachgeborenen“, von dessen Klang und Gehalt der Student Walter Hinck und seine Freunde zu Beginn der 1950er-Jahre „schlichtweg überwältigt“ waren. Mit Recht: nicht nur, weil dieser Klang eine Ablösung der damaligen Vorherrschaft Gottfried Benns als Leitfigur der Lyrik bewirken sollte, sondern auch aufgrund des bis heute gültigen, bis heute uneingelösten Gestus in diesem Gedicht, der einer in „Freundlichkeit“ und wechselseitiger Hilfe „solidarischen Gesellschaft“ geradezu demütig bittend gilt.

„Gesang der Verbannten“ ist ein schönes, rundes, gut lesbares Buch und, wie die vielen anderen Bücher des Autors, der vor mehr als einem halben Jahrhundert als Brecht-Forscher begonnen und Pionierarbeit geleistet hat, ganz ohne den mittlerweile fast unerträglich gewordenen germanistischen Fachjargon. Natürlich könnte man dies und das wünschen, dies und das in Frage stellen. Gewünscht hätte man sich vielleicht ein paar Seitenblicke auf Exillyrik der Weltliteratur: von Ovid, Li-Po, Firdusi, Dante, Milton, Shelley, Mickiewicz bis zu Pablo Neruda, Nazım Hikmet, Joseph Brodsky und so weiter, leider, bis heute. Auch ‚Migrantenautoren‘ in Deutschland, sofern sie zugleich Exillyriker sind, hätten einen Seitenblick verdient. Und wenn Exil nicht nur Identitätsbrüche, sondern auch Erfahrungsgewinne bewirken kann, auch interkulturelle, dann wirft es Fragen auf, warum sich, außer Heine, allein Erich Arendt als Lyriker „offen für die Anregungen fremder Kulturen“ zeigt.

Warum wird, im Hinblick auf den Lyriker Yvan Goll, nur der Ahasver-Mythos als Exil-Symbol herangezogen? Wird er doch gleich wieder verworfen, mit Recht, denn er ist kein jüdischer, vielmehr ein christlich-antisemitischer (auch wenn er, von Goethe über Heine bis Stefan Heym, kritisch umfunktioniert worden ist). Warum wird stattdessen, bei so vielen jüdischen Autoren, nicht wenigstens einmal die klassische, auch von Heine variierte Exilmelodie angeschlagen? „An den Flüssen Babels / Saßen wir und weinten, / Überdachten Zions Fall. / Unsre Harfen hingen wir / Dort an Weidensträuchen.“ Zu diesem bekannten Klagepsalm (Nr. 137, der Anfang hier in Mendelssohns Übersetzung) passt übrigens der Singular im Titel „Gesang der Verbannten“ eigentlich mehr als zur Reihe der im Buch vorgestellten Exillyriker, denn diese bilden ja keinen Sängerchor, sondern bleiben individuelle Stimmen.

Schließlich könnte man auch fragen, ob die Deutung von Brechts wunderbarer „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ als „kontemplativ“ nicht ein wenig schief ist. Denn Brechts geschichtsdialektische Aneignung der naturdialektischen daoistischen Lehre, dass „das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt“, zielt vermutlich kaum quietistisch oder resignativ auf „Erosion des Bestehenden durch die Zeit“, vielmehr praktisch und appellativ auf Ermutigung an die Schwachen, namentlich die ‚Verdammten dieser Erde‘, dass sie gegenüber den Mächtigen Siegeschancen haben, wenn sie sich nur in „Bewegung“ setzen. (Die Frage aber, welcher Art diese Bewegung sein könnte, kann uns heute leider weder Laotse noch Marx noch Brecht beantworten.)

Wie gesagt, dies sind nur ein paar Fragen, die den Wert des ganzen Essays in keiner Weise in Frage stellen, im Gegenteil, sie sollen seine vielfältige Anregungskraft bezeugen. Walter Hinck gebührt Dank für dieses schöne neue Buch über Literatur, nachdem er seit Kurzem auch selber Literatur schreibt, erneut: autobiografische („Jahrgang 1922“) und, ganz neu: Erzählungen („Die letzten Tage in Berlin“). Und das auf der Schwelle zum zehnten Lebensjahrzehnt – möge er sie wohlgemut überschreiten und weiterhin produktiv bleiben!

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Walter Hinck: Gesang der Verbannten. Deutschsprachige Exillyrik von Ulrich von Hutten bis Bertolt Brecht.
Reclam Verlag, Ditzingen 2011.
200 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783150108352

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