Ehrlose Verbrechen

Ayfer Yazgan hat eine Studie über „Ehrenmorde in der modernen Türkei“ vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Feo Aladaĝs Spielfilm „Die Fremde“ zählt zwar nicht zu den an den Kassen erfolgreichsten Produktionen des deutschen Kinos der letzten Jahre, wohl aber zu den sehenswertesten. Als wissenschaftliche Beraterin für das cineastische Drama um die nach Deutschland fliehende Umay fungierte Ayfer Yazgan. Nun ist die Soziologin mit ihrer ein verwandtes Thema behandelten Dissertation an die Öffentlichkeit getreten. Die umfangreiche Studie mit dem treffenden Titel „Morde ohne Ehre“ untersucht „Ehrenmorde in der modernen Türkei“. Das heißt, sie beleuchtet vor allem diverse „Erklärungsansätze und Gegenstrategien“.

Wie die Autorin in der Einleitung betont, berücksichtigt sie nicht nur die gängige internationale Literatur, sondern zieht zudem die über die Landesgrenzen hinaus wenig bekannten türkischen Untersuchungen zum Thema heran, namentlich solche mit sozialwissenschaftlichem Einschlag. Außerdem führte sie zahlreiche „Experteninterviews mit türkischen Wissenschaftlern, Vertretern mit diesem Problem konfrontierter Berufsgruppen und sowie mit Vertretern von Frauenorganisationen“ und analysierte die Berichterstattung in türkischen Tageszeitungen. So wertete sie den gesamten 2005 erschienen Jahrgang der Zeitschrift „Posta“ aus, die im Untersuchungsjahr 125 Berichte über ‚Ehren‘morde brachte, bei denen 104 Frauen und 58 Männer sowie fünf Neugeborene ohne Angabe ihres Geschlechts von 131 Tätern ermordet wurden, wie die Autorin errechnet hat.

In etlichen, teils sehr kurzen Abschnitten wirft Yazgan darüber hinaus Schlaglichter auf die Themen „Ehrenmord in der türkischen Literatur“, „im türkischen Liedgut“ sowie „in Film und Fernsehen“. Vor allem aber wartet die Autorin mit zahlreichen Statistiken und Schaubildern auf, die etwa über die Mordmethoden, den Familienstand und das Alter der Opfer und TäterInnen sowie deren Beziehung zueinander informieren. Zudem werden die Tatorte nach Städten aufgelistet. Einige dieser Statistiken sind durchaus erhellend. Oft aber haben sie auch wenig Überraschendes zu bieten. So entspricht es durchaus den Erwartungen, dass 92 % der ‚Ehren‘mörderInnen Männer sind, auch wenn man die Zahl nicht ganz so genau gekannt haben mag. Wie man sieht, betreibt die Autorin keinen geringen Rechercheaufwand zur Beantwortung der Frage: „Wie sind die Ehrenmorde nach dem heutigen Forschungsstand und vor allem am Fallbeispiel des Untersuchungslandes Türkei zu charakterisieren?“

Zunächst versucht Yazgan allerdings ihre Begriffswahl zu plausibilisieren. Dies ist nachvollziehbar, denn der von Yazgan gewählte Ausdruck „Ehrenmord“ konterkariert die Eindeutigkeit des Titels „Morde ohne Ehre“ geradezu. Weniger nachvollziehbar ist aber, dass die von ihr bevorzugte Bezeichnung „Ehrenmord gerechtfertigt sei, „da das Tatmotiv der Ehre diese Morde auslöst“. Lehne man den Begriff des Ehrenmordes ab, so argumentiert sie weiter, „sollten die Begriffe Affektmord oder Lustmord ebenfalls infrage gestellt werden, weil bei ihnen das Tatmotiv ebenso den Namen der Verbrechensart ausmacht.“

Eine Argumentation, die allerdings nicht überzeugt. Dies weniger, weil ein Affekt kein Motiv für einen Mord ist, sondern dessen Auslöser oder Ursache (ganz davon abgesehen, dass eine Tötung im Affekt nach deutschem Recht kein Mord, sondern Totschlag ist). Stichhaltig ist Yazgans Argumentation vielmehr vor allem darum nicht, weil es zwar unbestritten ist, dass der Lustmörder seine Lust durch seine Tat nicht nur befriedigen will, sondern sie auch tatsächlich befriedigt. Hingegen ist im Falle des ‚Ehren‘mordes nur die Intention des Täters, mit dem Mord seine Ehre wieder herstellen zu wollen, unbestritten.

Dass ihm dies aber mit der Tat gelingt, ja dass eine solche Tat überhaupt zur Reparation der Ehre taugen kann, wird sehr wohl bestritten – und zwar mit guten Gründen. Denn es ist nicht die sich befreiende Frau, welche die Ehre des Mannes (respektive die der Familie) beschädigt, sondern vielmehr umgekehrt sein Verbrechen an ihr. Spricht man also von Ehrenmord, so übernimmt man damit das mörderische Ehrverständnis des Täters.

Dass die Autorin „Ehrenmorde“ als „Tötungsdelikte“ definiert, „die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde“, [Herv. RL] vermag auch in einer anderen Hinsicht nicht zu überzeugen. Denn das Verhalten des Opfers spielt bei einem ‚Ehren‘mord keineswegs immer eine Rolle, wie etwa von der Autorin selbst angeführte Beispiele zeigen, bei denen Frauen diesen Taten zum Opfer fallen, weil sie vergewaltigt wurden.

Doch nicht nur ihre Apologie des Ausdrucks Ehrenmord ist zu monieren. Denn wenn sie ihn „als vorsätzliches Tötungsdelikt definiert“, [Herv. RL] kann es schwerlich sein, dass „die meisten Ehrenmorde im Affekt begangen werden“, wie sie an anderer Stelle behauptet.

Auch zeigt sich, dass Yazgans allgemeine oder universelle Aussagen einer näheren Betrachtung nicht immer standhalten. Wenn sie etwa erklärt, „der Ehrenkodex an sich ist universal und kann […] auf unterschiedliche Weise verletzt werden“, so stellt sich zunächst die Frage, was ein „Ehrenkodex an sich“ überhaupt sein kann. Gemeint ist aber wahrscheinlich, dass alle Gesellschaften, Gruppen et cetera. einen je eigenen Ehrenkodex entwickelt haben. Doch wenn die Autorin von „Mord im Namen des Ehrprinzips“ spricht, so klingt das ganz so, als gäbe es überhaupt nur ein einziges universelles. Nicht unbedenklich ist auch, davon zu sprechen, dass es eine „Ventilfunktion“ für Männer habe, wenn sie zu Prostituierten gehen.

Im Zentrum ihrer umfangreichen Arbeit stehen allerdings nicht etwa eigene Thesen der Autorin. Weit mehr Raum nimmt ein Überblick über die umfängliche Forschungsliteratur zum Thema ein. Dagegen nehmen sich Yazgans Bewertungen der Forschungen und deren Ergebnisse eher dürftig aus.

Kaum weniger zahlreich als die von Yazgan referierten Ergebnisse empirischer Forschungen diverser AutorInnen sind die „Erklärungsansätze“, die sie in wenigen Zeilen oder allenfalls Seiten vorstellt, ohne allerdings immer einen direkten Bezug zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung, die ‚Ehren‘morde in der Türkei, herzustellen. Unter diesen Forschungsansätzen finden sich verschiedene Feminismen: der „dekonstruktivistische Feminismus“, der „psychoanalytisch orientierte Feminismus“, „die autonomen Feministinnen“, „die Anhänger des Differenzfeminismus“, „der gynozentrische Feminismus“, „der Individualfeminismus“, „der Radikalfeminismus“ und „der marxistische Feminismus“.

Da sie von der Autorin auf jeweils zwei bis höchstens zwölf Zeilen vorgestellt werden, können Verkürzungen und Verzerrungen nicht ausbleiben. So heißt es über Letzteren etwa: „Die Ausbeutung der Klassen wird mit der Ausbeutung der Frauen durch die Männer gleichgesetzt.“ Beschlossen wird der Abschnitt mit der wenig aussagekräftigen Feststellung: „Der Feminismus an sich erntet viel Kritik, weil er viele unterschiedliche Strömungen erfasst und unterschiedliche und sich widersprechende Aussagen über bestimmte Themen macht.“ „Weitere häufig genannte Kritikpunkte gegenüber feministischen Forschern“ beträfen deren „unweibliches und aggressives Verhalten gegenüber allen traditionellen Vorstellungen.“ Abgesehen davon, dass sich diese Vorwürfe wohl eher an feministische Forscherinnen richten, entkräftet die Autorin sie nicht etwa, sondern erklärt nur, „trotz dieser Kritikpunkte“ könne „der Feminismus nicht so verallgemeinernd betrachtet werden“. Denn „ohne die Bemühungen von Feministen und feministischer Kritik wären viele Krisenzentren oder Frauenhäuser nicht eröffnet worden“.

Neben den Feminismen führt die Autorin an weiteren „Erklärungsansätzen“ einige „Theorien über Maskulinität“, „Jack Katz’ Theorie Righteous Slaughter“, die „Neutralisationstheorie von Gresham Sykes und David Matza“ und „Kulturkonflikttheorien“ an. Sie alle können der Autorin zufolge „zwar bestimmte Aspekte der Ehrenmorde erklären, aber nicht die Komplexität dieser Tötungsdelikte aufdecken.“ Dies unternimmt sie daher unter Bezugnahme auf James Colemans „Mehrebenansatz“ zur „Erklärung kollektiver Regelmäßigkeiten“, dem zufolge ein „Makrophänomen“ ein anderes „bedingt“, „indem es Einfluss auf den Akteur ausübt und die Randbedingungen setzt, nach denen sie ihre Handlungen richten.“

So komme es zu „tatsächlichen Handlungen von Akteuren, die sich in ihrer Summe wieder zu einem neuen Makrophänomen zusammensetzen“. Angewandt auf ihren Untersuchungsgegenstand heißt dies der Autorin zufolge: „Das Makrophänomen – die verschiedenen Ursachen von Ehrenmorden – wirkt auf eine anderes Makrophänomen – den Fortbestand der Ehrenmorde –, indem es zuerst auf die Akteure wirkt und die Randbedingungen setzt, an denen diese ihre Handlungen ausrichten. Es kommt zu tatsächlichen Handlungen der Akteure, die sich dann in der Summe wieder zu einem neuen Makrophänomen zusammensetzten. Dieser Zyklus bedeutet für Ehrenmorde, dass die einzelnen Ehrenmorde den Fortbestand dieser Verbrechen im Namen der Ehre begünstigen.“ Das ist nun nicht eben eine besonders überraschende Erkenntnis. Allerdings neigt das ganze Konzept doch allzu sehr dazu, die Mörder zu exkulpieren, indem es sie implizit auf bloße Funktionen im Zusammenspiel der Makrophänomene reduziert.

Neben den genannten Unzulänglichkeiten weist das Buch durchaus auch eine Reihe von Stärken auf. Aufschlussreich ist etwa die Aufschlüsselung der nicht weniger als 14 „Heiratsarten“. So komme es in anatolischen Dörfern „recht häufig“ vor, dass „Kinder schon bei der Geburt dem Sohn eines Bekannten oder Verwanden versprochen“ werden. Es darf wohl unterstellt werden, dass es sich bei diesen „Kindern“ um Töchter und nicht ebenfalls um Söhne handelt. Bemerkenswert ist auch die implizite Feststellung, dass Kinder – und das würde dann wohl heißen Söhne – nicht den Töchtern versprochen werden. Denn dies stellt schon einmal klar, wer wen besitzen wird. Dem entspricht die von der Autorin zitierte Koransure: „Eure Frauen sind eure Felder. Setzt eure Saat in sie, wie es euch beliebt!“

Frauen haben ihren Ehemännern also stets sexuell zu Diensten zu sein. Unverheiratete Männer des Untersuchungsgebietes pflegen der Autorin zufolge hingegen häufig „voreheliche Homosexualität“, die „in allen Bevölkerungsschichten“ existiere. „Besonders in der städtischen Unterschicht“ seien „homosexuelle Kontakte und homosexuelle Prostitution an der Tagesordnung“. Darüber hinaus stellt Sexualität „unter den Männern“ einer „Dorfgemeinschaft“ Yazgan zufolge „ein dauerndes Gesprächsthema dar und gemeinsames Ansehen von Porno-Videos, freizügigen Zeitschriften und gemeinsame Besuche in Bordellen der Stadt sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der dörflichen Männerkultur“.

Ausführlich widmet sich die Autorin der im Jahre 2005 in Kraft getretenen, „durchaus fortschrittlichen“ türkischen Gesetzesreform, für die sie manches gute Wort übrig hat. Tatsächlich ist es zu begrüßen, dass Vergewaltigung in der Ehe seither auch in der Türkei strafbar ist. Darüber hinaus weist die Autorin darauf hin, dass der „Genehmigungsvorbehalt des Mannes bezüglich der Berufstätigkeit der Frau“ endlich abgeschafft wurde. Des Weiteren erklärt sie, dass Frauen in der Türkei nun „sechs Wochen vor und nach einer Schwangerschaft nicht zum Arbeiten gezwungen werden dürfen“. Sollte es in der Türkei etwa ansonsten erlaubt sein, Frauen zur Arbeit zu zwingen? Ganz abgesehen davon, stellt sich die Frage, woher eine Frau oder überhaupt jemand wissen will, dass sie in sechs Wochen schwanger sein wird. Gemeint sind aber wohl, sechs Wochen vor der zu erwartenden Niederkunft und sechs Wochen nach der tatsächlichen.

Bei allem Lob für die Gesetzesreform erwähnt die Autorin allerdings auch, dass zumindest einige der Gesetze nicht immer – oder doch nicht in ihrer vollen Schärfe – umgesetzt werden. Denn für Tötungsdelikte wie ‚Ehren‘morde ist eine Haftstrafe zwischen 24 und 30 Jahren „vorgeschrieben“, wobei der Autorin zufolge namentlich für diese explizit die Höchststrafe vorgesehen ist, ‚Ehren‘mörder jedoch meist nur zu Strafen zwischen 12 und 20 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Viele müssen gerade mal bis zu fünf Jahre absitzen. Nicht wenige ‚Ehren‘mörder werden sogar schon „nach zwei Jahren wegen guter Führung entlassen“. Letztlich muss die Autorin daher konstatieren, dass „das Leben der Frauen in der Praxis weiterhin mehr von religiösen Normen, sozial festgelegten Werten und Traditionen als von den neuen Gesetzen geprägt wird. Hinzu kommt, dass die Täter immer noch viel zu sehr von der Akzeptanz und Toleranz der Ehrenmorde profitieren und trotz gesetzlicher Reformen keine langen Haftstrafen erhalten.“

Ausführlich befasst sich Yazgan mit der Rolle, die der Islam den von ihr herangezogenen Studien zufolge für die ‚Ehren‘morde spielt. Oft bleibt allerdings unklar, wann sie diese bloß referiert und wann sie die Auffassung der Forschenden teilt. Manche der Aussagen, die sie sich als eigene zurechnen lassen muss, stehen in einem nicht eben geringen Spannungsverhältnis zueinander. So versichert die Autorin etwa einerseits, „der Islam legitimiert nicht die Ausübung von Gewalt. Frauen haben die gleichen Rechte auf eine gewaltfreie Erziehung, ein selbstbestimmtes Leben und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit wie Jungen und Männer“, um nur fünf Zeilen später zu erklären, „das in vielen islamischen Ländern ausgeübte Züchtigungsrecht des Mannes basiert auf Sure 4:34: ‚Und wenn ihr befürchtet, dass eure Ehefrauen widerspenstig sind, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie“.

Obwohl die Autorin konstatiert, „der Islam schreibt vor, dass die Sexualität nur innerhalb der Ehe befriedigt werden darf“, und dies der Grund dafür sei, „warum streng religiöse Täter von Ehrenmorden eine uneheliche Beziehung oder Affäre moralisch verurteilen, das Opfer töten und sich dabei auf islamische Grundsätze berufen“, lautet ihr den Islam exkulpierendes Fazit, er werde zwar „oft als Kontrollmechanismus missbraucht“, [Herv. RL] doch gelte es „hervorzuheben, dass der Ehrenmord im Islam keine Begründung findet“, sondern ganz im Gegenteil „als die größte Sünde betrachtet“ werde. Wenn überhaupt, dann trage „die falsche Interpretation islamischer Glaubenssätze“ eine Mitverantwortung für die ‚Ehren‘morde, wie sie nicht müde wird zu behaupten. Gerade so als wäre es unstrittig, welche Interpretation denn nun die richtige ist. Das ist natürlich nicht der Fall, weder in der Islamwissenschaft noch unter den Gläubigen.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass Yazgans Arbeit insgesamt zwar von ganz beträchtlichem Fleiß zeugt, jedoch von ungleich weniger analytischer Schärfe.

Titelbild

Ayfer Yazgan: Morde ohne Ehre. Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
345 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783837615623

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