„Unter Menschen und allein“

Kindheit und frühes Leid in der hessischen Provinz – Andreas Maier unternimmt in seinem Roman „Das Haus“ eine Reise in eine verlorene Zeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elf Bände sollen es einmal werden, hat Andreas Maier vor zwei Jahren in einem Interview mit dem Stadtmagazin „Prinz“ angekündigt. Und gleich den ganzen Rest seiner Zeit als Mensch und Schriftsteller dafür reserviert: „Ich denke einfach, dass ich daran bis zu meinem Lebensende schreiben werde. Erst lebt man vierzig Jahre, dann braucht man vierzig Jahre, um all das aufzuschreiben. Dann bin ich achtzig und darf sterben.“

Gemessen an dieser Vorgabe liegt Maier ziemlich gut im Rennen. Mit „Das Haus“ erschien Ende letzten Jahres der zweite Band der Familiensaga aus der Wetterau – nach „Das Zimmer“ erneut ein schmales Bändchen von knapp 160 Seiten. Und anstelle von Onkel J., dem eine Kolumnensammlung, die dessen Namen im Titel trug, bereits ein Denkmal gesetzt hat, steht diesmal „das Kind Andreas, bzw. der Andi“ im Zentrum. Mit dieser Figur ist auch eine stofflich-geografische Einschränkung verbunden. Kam man mit dem geistig behinderten Onkel – einem ewigen Kind, das die Welt mit staunenden Augen anblickte – im Laufe eines Tages sogar bis ins berüchtigte Bahnhofsviertel des urbanen Zentralgestirns Frankfurt, so ist die Sphäre des Kindes beschränkt auf seine Bad Nauheimer, später die Friedberger Welt. Zu Letzterer zählen das neue Haus, das sich die Eltern auf dem Grundstück eines der Familie gehörenden Apfelgartens errichten, sowie im zweiten Teil des Romans der Schulhof jener Musterschule, in der das Kind Andreas seine education brutale erlebt.

„Drinnen“ und „Draußen“ hat Maier die beiden etwa gleich langen Buchteile überschrieben. Wobei der Bruch mit der Welt der unbeschwerten Kindheit, der Verlust des Paradieses, wie ihn der Text gelegentlich metaphorisch beschwört, nicht erst dann stattfindet, wenn das Kind – das den Besuch des Kindergartens schon am ersten Tag verweigert und sich damit drei weitere Jahre fern von Seinesgleichen ertrotzt – aus dem Schoß der Familie auf den Präsentier- und Imponierteller eines Schulhofes gerät, dessen Regeln es nicht begreift, sondern bereits beim Umzug aus dem Großelternhaus ins neue Friedberger Domizil.

Es ist der Kosmos der liebevollen Großeltern, der Urgroßmutter und des seltsam-anziehenden Onkels J., aus dem es herauskatapultiert wird in eine Existenz, der das Gefühl des Behütetseins abgeht: „Seitdem wir in dem neuen Haus wohnten, änderten sich die Geschichten über mich. Sie waren nun nicht mehr lieblich. Die Arztbesuche fangen an.“

Denn die Eltern und Geschwister – ein älterer Bruder und eine ältere Schwester erscheinen in den Rollen eines Weltenerbauers und einer Weltenzerstörerin – empfinden das jüngste Familienmitglied als genauso fremd, wie der Junge sich den immer wiederkehrenden Ritualen des gemeinsamen Lebens nicht anzupassen vermag. Andreas spricht erst sehr spät. Schweigend und anscheinend apathisch sitzt er gewöhnlich dabei. Wird er in die Spiele der das Haus mit ihren zahlreichen Freundinnen terrorisierenden Schwester einbezogen, stellt er sich dermaßen ungeschickt an, dass man ihm schnell wieder die Freundschaft aufkündigt. Überhaupt die Schwester: ein Ausbund an Hintertriebenheit, hyperaktiv und boshaft. Das ganze Gegenteil des großen Bruders, der seine Zeit im Haus in einem Kellerraum mit Basteln verbringt: „Es war für mich, als entstünde dort eine ganze Welt und als sei mein Bruder der Baumeister dieser Welt, wodurch er natürlich die faszinierendste Person in der Familie für mich war.“

Doch kaum dreht der Bruder all den mühsam über Wochen entstandenen Modellen von Schiffen, Flugzeugen, Raketen den Rücken zu, schlägt die Stunde der Zerstörerin seiner Arbeit: „… die Dinge verendeten mit lautem Krachen an der Wand, oder meine Schwester trat auf sie drauf, so daß sie laut zerbarsten, und auf die zerborstenen Teile noch einmal, damit diese in wiederum noch kleinere Teile zerbrachen, bis am Ende alles regelrecht zermahlen war, so daß kein Mensch auf der Welt mehr hätte Heil und Ordnung in die Dinge bringen können.“

Wenn das jüngste der Geschwister später selbst zu basteln beginnt, wird es darauf bedacht sein, das unter seinen Händen Entstehende – Asterixdörfer, Römerkastelle und Wüstencamps – immer mit etwas Schützendem zu umgeben, um es vor der drohenden Vernichtung zu bewahren.

„Das Haus“ erzählt die Geschichte einer frühen Kindheit aus der Perspektive des sich erinnernden Erwachsenen. Der hat das Anwesen seiner Großeltern in Bad Nauheim, in dem das Kind in seinen ersten Jahren bis zum Umzug in die Friedberger Villa die Unbeschwertheit eines Gartens Eden erlebte, später für sich zurückerobert. Aus der Festung seiner ersten Monate und Jahre, nach wie vor umgeben von den magischen Orten, zu denen ihn einst die Urgroßmutter geleitete, hat er eine Erinnerungslandschaft geformt, ein Museum der verlorenen Zeit.

Es hilft ihm dabei, eine Vergangenheit zu rekonstruieren, aus der er ein für allemal herausgefallen ist – ohne die Chance, leibhaftig zu diesem ursprünglichen Glückszustand zurückzukehren. Ein Ergebnis dieser Rekonstruktion des Gewesenen ist auch der vorliegende Roman. Er nährt sich zu einem Gutteil aus den Erzählungen, die über den kleinen Andreas in der Familie kursierten. Mit der Entwicklung eines eigenes Bewusstseins von seiner Existenz als Einzelner in einer Welt, deren Spielregeln er nicht versteht, gerät der Erzähler später in eine tragische Außenseiterposition. Wie Maier sich dabei in die Seelenlandschaft seiner Hauptfigur hineinschreibt, ist große Kunst und macht mehr als neugierig auf den nächsten Band seiner hessischen Familiensaga.

Titelbild

Andreas Maier: Das Haus. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
165 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422663

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