Mal zuviel, mal zuwenig Denkmal
Eine Ausstellung im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal und der zugehörige Katalog zeigen den „Sturm“ als „Zentrum der Avantgarde“
Von Hubert van den Berg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 13. März eröffnet im Von-der-Heydt-Museum im Wuppertal die Ausstellung „Der Sturm. Zentrum der Avantgarde“. Gezeigt werden achtzig Künstlern aus vierzehn Ländern, von denen viele heutzutage zu den kanonisierten household names der europäischen Kunstgeschichte zählen. Das verbindendes Element: Sie waren alle in der von Herwarth Walden gegründeten und geleiteten Berliner Zeitschrift „Der Sturm“ und in der gleichnamigen Galerie zu sehen, die in den 1910er- und 1920er-Jahren einen wichtigen Schauplatz der internationalen Avantgarde darstellten und durch eine Vielzahl von Wanderausstellungen der wesentlich zur Verbreitung avantgardistischer Kunst in Nordwest- und Mitteleuropa beitrugen. Damit festigten sie auch den internationalen Ruf des „Sturms“ als Zentrum und Herwarth Waldens als Vorkämpfer der Avantgarde. Vielerorts war „Der Sturm“ synonym mit der Avantgarde.
Vor genau hundert Jahren, im März 1912, öffnete die erste „Sturm“-Kunstausstellung mit Werken des „Blauen Reiters“ in einer zum Abriss vorgesehenen Villa an der Tiergartenstraße in Berlin, im April folgte eine Ausstellung italienischer Futuristen. War die „Sturm“-Galerie in erster Linie ein Schaufenster des Expressionismus, so gehörten der Futurismus, der Kubismus und später der Konstruktivismus wie auch Schwitters’ Merz zum Kernprogramm der Galerie und der Zeitschrift.
Zu den eminente Protagonisten dieser „Kunstismen“, wie sie manchmal genannt wurden, bevor sich die Bezeichnung „Avantgarde“ durchsetzte, die im Van-der-Heydt-Museum gezeigt werden, zählen unter anderem Alexander Archipenko, Heinrich Campendonk, Marc Chagall, Robert Delaunay, Sonia Delaunay-Terk, Albert Gleizes, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Franz Marc, László Moholy-Nagy, Gabriele Münter, Kurt Schwitters, Gino Severini und Marianne von Werefkin, aber auch einige Vorläufer – Edvard Munch und Henri Rousseau – ebenso wie eine Reihe von Mit- und Nachläufern, Avantgardisten der zweiten Reihe. „Sturm-Künstler“, die in der Galerie und der Zeitschrift stark vertreten waren, sonst aber wenig Resonanz fanden, wie etwa Paul Busch, Walter Dexel, Jacoba van Heemskerck, Otto Nebel, Thomas Ring, Johannes Molzahn, Lothar Schreyer, Arnold Topp und William Wauer.
Die Heiligenlegende der Nell Walden
Von den „Sturm-Künstlern“ fehlt ein Name in der Liste der ausgestellten Künstler, obwohl dieser in der Ausstellung und im Katalog durchaus präsent ist: Die Rede ist von Nell Walden-Roslund, der zweiten Frau Herwarth Waldens. Auch ihre Gemälde wurden in der „Sturm“-Galerie gezeigt wie auch ihre Gedichte im „Sturm“ gedruckt. Ihre Bedeutung war aber eine andere. Wird sie in Hermann Essigs bissigem Schlüsselroman zum „Sturm“, „Der Taifun“ (1919), als das eigentliche Herz des Unternehmens dargestellt, so mag das satirisch überzogen gewesen sein. Allerdings: Die „Sturm“-Galerie öffnete, kurz nachdem Walden sich von Else Lasker-Schüler getrennt hatte und Nell Roslund seine Lebensgefährtin geworden war. Die Galerie wurde von ihr substantiell aus ihrem Familienkapital und während des Ersten Weltkriegs aus Einnahmen finanziert, die ihr durch ihre schwedische Herkunft ermöglicht wurden. Ihre Kenntnisse der skandinavischen Sprachen bildeten das Arbeitskapital eines „Nachrichtenbüros Der Sturm“, das für diverse deutsche Nachrichtendienste und Propagandastellen in den nordischen Ländern und Holland tätig war und im Ersten Weltkrieg die finanzielle Grundlage für die Blütezeit des „Sturm“-Unternehmens bildete, das unter anderem mit einem eigenen Theater, der „Sturm-Bühne“, erweitert wurde.
Obwohl es auch andere Faktoren gab – Hyperinflation, Künstler, die Walden den Rücken zuwandten, immer größere Konkurrenz im avantgardistischen Segment des Kunsthandels –, war im Jahr 1924 ihre Scheidung von Herwarth Walden, dessen Wendung zum Kommunismus ihr politisch zuwider war, der Anfang vom Ende. Dieses Ende kam 1928, als die Galerie schließen musste. Die Zeitschrift vegetierte noch einige Jahre dahin, bis Walden 1932 in die Sowjetunion zog, wo er 1941 wegen Spionageverdachts verhaftet und kurz vor seinem Prozess an Herzschwäche starb. Wie die Akten zeigen, war man bestens über seine geheimdienstlichen Aktivitäten im vorigen Weltkrieg informiert. Ob er sonst die stalinistische Säuberungsmaschinerie überlebt hätte? So wie „Der Sturm“ zu den Zielscheiben der Nazi-Kampagne gegen sogenannte „Entartete Kunst“ zählte, so war er auch im Rahmen der Expressionismusdebatte im Moskauer Exil in Bedrängnis geraten.
Als in den 1950er- und 1960er-Jahren in Westdeutschland wieder Interesse am Expressionismus aufkam, waren es Nell Walden und Lothar Schreyer, langjähriger Bureauredakteur der Zeitschrift und Leiter der „Sturm-Bühne“, die – wie Freya Mühlhaupt es mal formulierte – in einer Reihe von Erinnerungsbüchern und Gedenkschriften um Walden „die Heiligenlegende eines Propheten und Märtyrers der modernen Kunst“ webten, allen voran in dem von Schreyer und Nell Walden zusammengestellten Band „Der Sturm. Ein Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis“, das 1954 parallel zu Nell Waldens Bemühungen erscheint, die „Sammlung Walden“, die ihr im Zuge der Scheidung zugefallen war, zu versteigern. Darin präsentieren sie das „Sturm“-Unternehmen als „Sturm-Bewegung“ – als eigenständige Gruppierung mit eigenem Programm. Sie schließen damit an Selbststilisierungen der 1910er- und 1920er-Jahre an, in welcher – wie es in einem Werbeprospekt „Der Sturm. Eine Einführung“ 1918 hieß – „alle Künstler, die eine führende Bedeutung für den Expressionismus haben, an einer Stelle vereint sind. Diese ist Der Sturm“. Mit seinem profunden „Einblick in Kunst“ tritt unter den führenden Künstlern dann Herwarth Walden als charismatischer Hohepriester der „absoluten Kunst“ in Erscheinung, der in weihevoll-sakralen Worten die „Kunstwende“ verkündet, die zur Erleuchtung und Erkenntnis einer höheren Wirklichkeit und zur „Weltenwende“ führen würde – erhaben und erhoben über die banale Welt des Alltags und der Politik, von denen man nichts habe wissen wollen. Passend zum Kalten Krieg wird Waldens Untergang in erster Linie durch den irrtümlichen „Abstieg“ zum Kommunismus verursacht.
Der Mythos einer „Sturm-Bewegung“, die sich nur dem Ästhetischen in autonomer Form widmete, kommt auch den Verkündern nicht ungelegen: Nell Walden kann ihre nachrichtendienstliche Tätigkeit im Ersten Weltkrieg unter den Teppich kehren, während Schreyer Waldens Wendung zum Kommunismus seine eigene Konversion zum Katholizismus gegenüberstellt und dabei seine Tätigkeit in antisemitischen deutschnationalen und später nationalsozialistischen Zusammenhängen vertuscht, in denen er seit 1919 zu finden war. Diese völkische Kreise bilden auch den Kontext, in dem Schreyer in Hamburg die „Sturmbühne“ als „Kampfbühne“ neu belebt, zeitgleich mit seinem Engagement im „Sturm“.
Das hagiografische Bild von Herwarth Walden als beispiellosem Wegbereiter der modernen Kunst, das Nell Walden und Lothar Schreyer kreieren, findet ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Zeitschrift und der Galerie seinen Niederschlag in der ersten großen „Sturm“-Retrospektive: die Ausstellung „Der Sturm. Herwarth Walden und die Europäische Avantgarde 1910-1932“, die 1961 von der Nationalgalerie in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg veranstaltet wurde. Der damalige sehr schmale Katalog ist die erste deutsche Buchveröffentlichung, die die historische Avantgarde als „Avantgarde“ bezeichnet – und dieser Herwarth Walden voranstellt. Die soeben eröffnete Ausstellung in Wuppertal folgt diesem Muster.
„Was ist DER STURM? DER STURM ist Herwarth Walden“, soll der Dichter August Stramm, der „Sturm-Dichter“ par excellence, laut Lothar Schreyer in seinen „Erinnerungen an Sturm und Bauhaus“ 1956 gesagt haben. Dem mag so sein und insofern ist die heutige Ausstellung auch ein Monument für den „Sturm“, zugleich auch ein Monument für Herwarth Walden, dessen Verdienste für den Durchbruch der Avantgarde am Vorabend des Ersten Weltkriegs unbestreitbar sind. Die Ausstellung zeigt auch, dass seine Zeitschrift und seine Galerie ein pied à terre für Künstler waren, die aus den Peripherien der Avantgarde nach Berlin zogen und bei ihm Ausstellungsgelegenheit fanden.
Zuviel Denkmal
Fragwürdig erscheint die hagiografische Tendenz jedoch bei dem zweiteiligen Katalog, der schon vom Umfang her geradezu Denkmalcharakter hat – zwei schwere großformatige Bände, die zusammen fast tausend Seiten umfassen. Die Bebilderung des Katalogs ist vorzüglich und die Bücher werden für denjenigen, der sich mit dem „Sturm“ nicht auskennt, eine wahre Schatzkammer sein. Zugleich ist aber einzuwenden, dass der Katalog einerseits zuviel Denkmal, andererseits auch zuwenig Denkmal ist – das gilt insbesondere für den Anspruch der Herausgeber, mit dem Katalog einen substantiellen Beitrag zur Historiografie und zur wissenschaftlichen Erforschung des „Sturm“-Komplexes zu liefern. Dokumentiert der erste Band des Katalogs im Großen und Ganzen die Ausstellung, so soll der zweite Band in dreißig Aufsätzen – wie die Herausgeberin Andrea von Hülsen-Esch in ihrer Einleitung schreibt – neue Forschungen präsentieren und eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Walden und dem „Sturm“-Unternehmen in seiner vollen Breite bieten, die eine solide Basis für weitere Untersuchungen bilden soll.
Zwar passiert in diesem Band Vieles Revue – die Beziehungen des „Sturm“ zu Wuppertal und dem Rheinland, zum Berliner kulturellen Kontext wie auch zur internationalen Avantgarde, dabei erstmals ausführlicher zu Waldens Beziehungen in den Vereinigten Staaten, zu einzelnen Künstlern im „Sturm“, wie Schreyer, Van Heemskerck und – eine Entdeckung – der lange verkannten belgischen Malerin Marthe Donas, wie auch in etwas umfassenderen Weise zu mittel- und osteuropäischen Künstlern im „Sturm“.
Sowohl in der Gesamtpräsentation im ersten Band wie auch im Großteil der Aufsätze dominiert jedoch die hagiografische Tendenz, die permanent die Größe, Bedeutung, Leistung, Wichtigkeit von Walden, seinem „Sturm“-Unternehmen wie auch einzelner Künstler, Jacoba van Heemskerck und Lothar Schreyer voran, hervorhebt. Problematische Seiten, Widersprüche und Paradoxien werden geglättet und ausgeblendet. Das gilt für das Verhältnis des autonomen Kunstprogramms zu den politischen Affiliationen und Verflechtungen, die es bereits im Vorfeld des „Sturms“ gab und die weitgehend unerwähnt bleiben oder nur marginal gestreift werden. Ob dies nun Waldens frühe Beiträge in Senna Hoys Zeitschrift „Der Kampf“ betrifft, die in seiner Biografie ausgespart werden, die Rolle des „Sturms“ im Ersten Weltkrieg, die zwar wiederholt angesprochen, aber eher als Nebensache abgetan wird oder Lothar Schreyers politisches Engagement am äußersten rechten Rand der Weimarer Politik, das Fragen aufruft. Wie etwa die, inwiefern sich der eklatante Antisemitismus von Wilhelm Stapels Zeitschrift „Deutsches Volkstum“, dessen regelmäßiger Mitarbeiter er war, mit seiner Zusammenarbeit mit Walden vereinbaren ließ. Walden, eigentlich Georg Lewin, war ja jüdischer Herkunft. Während ein Block mit Aufsätzen „Umbruch in der Galerie. Kriegszeit“ heißt, betreffen die Beiträge vielmehr die Nachkriegszeit und in ihnen wird weder die Verquickung der Waldens und des „Sturms“ mit dem deutschen Geheimdienst- und Propagandaapparat eingehend behandelt noch der Widerspruch zwischen scheinbarer politischer Abstinenz und kriegerischen Tönen im „Sturm“, so wie sie von Petra Vock in „Der Sturm muss brausen in dieser toten Welt“ (2006) eingehend beschrieben wurden.
Auch wenn die Galerie „Der Sturm“ auch als Kunsthandlung thematisiert wird, bleibt der fundamentale Widerspruch zwischen – nochmals – autonomistischem Kunstprogramm und der wirtschaftlichen Dimension der Galerie, die keine karitative Einrichtung war, sondern eine Kunsthandlung, anders gesagt zwischen dem symbolischen Kapitalismus des künstlerischen Feldes und den knallharten Gesetzen des kapitalistischen Kunstmarkts oszillierte, unbesprochen. Zwar gibt es einen Beitrag über Walden als Unternehmer, der durch seinen persönlichen Einsatz hervorragenden Vertretern der Moderne zum Erfolg verhalf, die Widersprüche, wie sie von Maurice Godé („Der Sturm de Herwarth Walden. L’Utopie d’un art autonome“, Nancy 1990) und Helen Boorman („Herwarth Walden and Der Sturm 1910-1930. German Cultural Idealism and the Commercialization of Art“, East Anglia 1987) schon vor zwanzig Jahren in ihren Dissertationen reflektiert wurden, werden jedoch weitgehend übergangen. Ebenso gilt das für ein weiteres Paradoxon: Die Avantgarde und auch „Der Sturm“ mag sich, wie die Bohème, aus der sie hervorkamen, bisweilen antibürgerlich gegeben haben, wer sich aber das Gästebuch der „Sammlung Walden“ anschaut oder auch die Namen der Käufer, der kann nur feststellen, dass sich Walden offenbar in bester bürgerlicher Gesellschaft aufhielt und diese auch zu akkomodieren suchte. Das ist selbstverständlich das Schicksal des nicht unerfolgreichen Kunsthändlers, aber immerhin ein Widerspruch zur antagonistischen Selbststilisierung der Avantgarde – auch jener, die von Walden verhandelt wurde.
Auffällig ist schließlich, dass die hagiografische Perspektive dazu tendiert, allerlei Probleme auszublenden. So gab es einen bemerkenswerten Verschleiß von Künstlern und Literaten, die mit dem „Sturm“ verbunden waren. Die meisten blieben nur kurz und gingen, weil es in irgendeiner Form zu Verstimmungen und Konflikten mit Walden kam, die manchmal in Prozessen (Chagall, Kandinsky), manchmal in blutigen Polemiken (Adolf Behne) endeten – mit ein Grund, wieso Walden letztendlich in Isolation geriet und seine Bedeutung im deutschen kulturellen Feld nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr verlor. Dies konnte er nur teilweise dadurch kompensieren, dass Künstler aus Ost- und Mitteleuropa wie auch aus Skandinavien, Holland und Belgien aufgrund des Rufs, den er in den Jahren zuvor aufgebaut hatte, zu ihm kamen und die Lücken füllen konnten – in der Galerie wie auch in der Zeitschrift. Wenn der Katalog die Präsenz „osteuropäischer“ Künstler im „Sturm“ als Zeichen von Waldens hellsichtiger und großzügiger Internationalität deutet, so mag das eine Seite sein, die andere war: Ohne diesen Nachschub aus der avantgardistischen Provinz, die von Island bis Bulgarien und von Flandern bis Georgien reichte, hätte Walden seine Zeitschrift und seine Galerie nicht füllen können, nachdem er in der lokalen Kunstlandschaft ins Abseits geraten war.
Daran ist selbstverständlich nichts verkehrt, aber es sollte auch nicht rosig übertüncht werden, so wie es jetzt der Fall ist. So problematisch wie der Klammerbegriff „osteuropäisch“, der zeigt, wie sehr der Eiserne Vorhang noch immer den Blick auf das Europa vor dem Zweiten Weltkrieg verstellt (denn jedenfalls bis 1918 waren große Teile dieses „Osteuropas“ noch Mitteleuropa in den Grenzen des deutschen Kaiserreich und der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und auch danach eher Mittel- als Osteuropa), so problematisch ist auch die Behauptung der Zusammenstellerin, dass eben dieser „Osten“ in diesem Katalog und auf dieser Ausstellung erstmals als Schwerpunkt innerhalb des „Sturms“ in Erscheinung tritt. Denn sie war schon 1961 in Charlottenburg mindestens so stark präsent. Auch ihre Präsenz in der „Sturm“-Galerie und in der Zeitschrift – ausgiebig dokumentiert in Volker Pirsichs Monografie „Der Sturm“ (1985) – bleibt in dem Panorama, das Antje Birthälmer am Anfang des ersten Bandes skizziert, unerwähnt. Nur wer Pirsich außen vor lässt, kann auch die etwas merkwürdige These aufstellen, dass in der letzten Phase des „Sturms“ die belgische Avantgarde zum Schwerpunkt wurde. Tatsächlich waren einige Ausstellungen belgischen Künstlern gewidmet, aber bereits in einigen der ersten Ausstellungen sind sie zu finden, James Ensor allen voran. Indessen muss man feststellen, dass der Beitrag zur „belgischen“ Avantgarde (keine unproblematische Kategorie in einem Land, wo es auch eine flämische gab, die sich als flämische und nicht als belgische verstand) ohne jeden Hinweis auf Standardwerke zur Avantgarde in Belgien auskommt, sei es „Avantgarde in België 1917-1929“ von Frederik Leen und Anne Adriaens-Pannier (1992) oder An Paenhuysens „De nieuwe wereld. De wonderjaren van de Belgische avant-garde (1918-1939)“ (2010).
Zuwenig Denkmal
Insgesamt fällt auf, dass die Bibliografie, die wohl das Fundament der wissenschaftlichen Bestandaufnahme bildet, nicht nur chaotisch abgeordnet ist – manche Autoren wurden unter ihrem Vornamen alphabetisiert –, sondern auch alles andere als vollständig ist. Es fehlen mehrere Ausstellungskataloge (etwa „Nell i Stormen. En ung Svenska mitt i den moderna konstens genommbrott“, Landskrona 1999, „Aktion und Sturm. Holzschneidekunst und Dichtung der Expressionisten“, Göttingen 2003) oder wurden falsch datiert und beschrieben („Sammlung Nell Walden“, Bern 1966 ist eigentlich „Schenkung Nell Walden“, Bern 1967; ein Ausstellungskatalog namens „Sammlung Nell Walden“ erschien anlässlich einer Ausstellung in Aarau 1957, wird aber nicht aufgeführt). Auffällig ist auch, dass der von Pirsich besorgte Band „Das dichterische und bildnerische Werk“ (1987) von einem der wichtigsten „Sturm“-Mitarbeiter der Spätzeit, Thomas Ring, ebenso fehlt wie Walter Fähnders’ Veröffentlichungen zu Senna Hoys „Kampf“, zur Präsenz der niederländischen und flämischen Avantgarde im „Sturm“ und zur Moderne und Avantgarde, A.H. Huussens Monografie „Sophie van Leer, een expressionistische dichteres“ (1997) zu Waldens holländischer Sekretärin, die mit zwanzig Beiträgen 1915-17 eine prominente „Sturm“-Dichterin war, Raimund Meyers Veröffentlichungen zu „Dada in Zürich“ (1985, 1990, 1994), wo die Galerie Dada 1917 immerhin zwei Sturm-Ausstellungen zeigte und eine Dada-Soirée dem „Sturm“ widmete. Lücken, die nicht nur in der Bibliografie auffallen, sondern auch ihre Spuren im weiteren Katalog hinterlassen haben. Befremdend – und hier hätte der Katalog mehr Denkmal sein können – ist die Tatsache, dass die Dichtung, die im Sturm einen sehr wichtigen Platz einnahm, nur am Rande thematisiert. In einem interessanten Beitrag beschreibt Gertrude Cepl-Kaufmann die frühe expressionistische Dichtung im „Sturm“ sowie das Ambiente der expressionistischen Boheme, aus der „Der Sturm“ hervorkam. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der experimentellen „Sturm“-Dichtung, die mit August Stramm einsetzt und für den „Sturm“ in den 1920er-Jahren typisch ist, inklusive Schwitters’ Merzdichtung, fehlt jedoch. Hier mag man einwenden, dass der Katalog eine Kunstausstellung begleitet. Dieses Argument erklärt aber nicht das Fehlen schwedischer und dänischer Künstler, von denen eine Vielzahl in der „Sturm“-Galerie ausstellten (siehe etwa „Schwedische Avantgarde und Der Sturm in Berlin“, Lund/Osnabrück 2000), ebenso wie die „Junge Slowenische Kunst“ (1929 im „Sturm“) im „osteuropäischen“ Ensemble nicht hätte fehlen dürfen; ihrem Auftritt 1929 in der Galerie und der Zeitschrift wurde im Vorjahr eine Ausstellung und Katalog in Ljubljana gewidmet.
Unter dem Strich ist der Katalog weder eine umfassende Bestandsaufnahme noch eine solide Basis für weitere Forschung, wobei durch das Fehlen eines Personen- und Sachregisters viele Daten, die der Katalog anderen Forschern hätte bieten können, in den Bleiwüsten der Anmerkungen untergehen lässt. Der geduldige Leser wird vieles Bekanntes wiederfinden und auch Neues entdecken, etwa im ersten Teil des zweiten Bandes, das den Beziehungen zu Wuppertal und dem Rheinland gewidmet ist und gewissermaßen legitimiert, dass die Gedenkausstellung zum hundersten Jahrestag der Gründung der „Sturm“-Galerie nicht in Berlin, sondern in Wuppertal stattfindet. Wie dort ausführlich dargelegt wird, gab es durchaus viele Beziehungen zwischen dem „Sturm“ und der Stadt. Eine davon betrifft Else Lasker-Schüler, die sowohl Georg Lewin auf Herwarth Walden taufte, sich den Namen „Der Sturm“ ausdachte (obwohl er vielleicht in der Luft lag) und auch dem „Blauen Reiter“ zum Namen verhalf. Sie wurde nur wenige Monate vor Eröffnung der ersten Kunstausstellung von Herwarth Walden für Nell Roslund verlassen. Eine kuriose Spiegelung des Schicksals, dass ausgerechnet in Lasker-Schülers Geburtsstadt der 100. Geburtstag der „Sturm“-Galerie gedacht wird.
Das Resultat ist eine Ausstellung mit hervorragenden Werken bedeutender Vertreter der historischen Avantgarde und der klassischen Moderne. Dazu bietet die Ausstellung viele Entdeckungsmöglichkeiten: Werke von Künstler, die in deutschen Museen selten oder nie zu sehen sind, zumindest nicht in den Kontexten, in denen sie in den 1910er- und 1920er-Jahren aktiv waren. Werke, die durch den manchmal wenig gerechten Gang der Geschichte verschwanden – zum Beispiel hinter dem Eisernen Vorhang, wo eine Aufarbeitung der Avantgarde länger auf sich warten ließ. Oder auch Werke weiblicher Avantgardisten, die im männlich dominierten Kunstbetrieb marginalisiert und in den Abstellkammern der Kunstgeschichte ins Abseits gerieten – jetzt in der Ausstellung emblematisch vertreten durch Else Lasker-Schüler, die vor hundert Jahren aus dem „Sturm“ verschwand, als die Galerie ihre Türen öffnete.
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