„Eine Wanderausstellung der Aussichtslosigkeit“

Über David Bezmozgis Roman „Die freie Welt“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die freie Welt“ ist der erste Roman des kanadischen Schriftstellers russisch-jüdischer Herkunft David Bezmozgis. Als Autor debütierte er bereits 2004 mit dem Erzählband „Natascha“. Mit dem Erstlingsroman, der Anfang 2012 in brillanter Übersetzung von Silvia Morawetz erschien, gelang ihm gleich ein großer Wurf. In den USA wird der Autor zusammen mit Gary Shteyngart, Lara Vapnyar und Olga Grushin als „The new Nabokovs“ bezeichnet, wodurch der Sprachwechsel und das Schreiben in zwei beziehungsweise drei kulturellen Kontexten angedeutet wird.

Dem Roman ist als Epigraph Genesis 12,1 vorangestellt: „Und der Herr sprach zu Abram: ‚Geh aus deinem Vaterland und aus deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.‘“ Damit ist das Thema des Romans vorgegeben: Migration. Bezmozgis erzählt die Auswanderung der Familie Krasnansky. Diese ist auf den Zeitraum Juli bis November beschränkt und beschreibt hauptsächlich die Zwischenstation in Italien, wo die Familie zusammen mit anderen jüdischen Auswanderern aus der ehemaligen Sowjetunion auf ihre Visa und Einreisepapiere in die USA, nach Kanada und nach Australien wartet. Das Jahr der Auswanderung ist 1978, eine Zeit, in der es äußerst schwierig ist, solche Papiere zu erhalten.

Die Familie Krasnansky besteht aus drei Generationen: den Großeltern Samuel und Emma, ihren beiden Söhnen Karl mit Ehefrau Rosa und Alec mit Ehefrau Polina sowie zwei Söhnen von Karl, die noch im Kindesalter sind. Bereits dieser Aufzählung kann man entnehmen, dass die männlichen Figuren im Roman dominieren und das Thema vorgeben. Der Vater-Sohn-Konflikt ist kein expliziter, sondern bestimmt latent die Beziehung zwischen Vater und Söhnen – und somit auch die Entwicklung des Romans. Die Familie Krasnansky will nach Kanada, aber die kanadische Einwanderungsbehörde betrachtet die gesundheitliche Verfassung von Samuel als Risiko für die dortigen Krankenkassen. Die Dramatik der Situation ist gegeben: Wegen Samuel sitzt die ganze Familie in Ladispoli fest und es ist ungewiss, wann sie Kanada, ihre zweite Wahl, nachdem die Cousine von Emma die erhoffte Bürgschaft für die Einreise in die USA ausgeschlagen hatte, erreichen wird. Samuel steht den Seinigen nicht nur im Weg, sondern stellt sich noch stur und entwickelt sich zu einem Eremiten.

Der Leser ahnt langsam den tragischen Ausgang der Geschichte: Der Autor wird Samuel sterben lassen. Diese Vermutung begründet sich bereits im ersten Drittel des Romans, als Samuel beginnt, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. „Beim Schreiben erlag er beinahe wirklich der Täuschung, sich wieder im Kreise seiner geliebten Toten zu befinden. Während dieser Stunden empfand er sehr stark, wer diese Menschen gewesen waren. Das Gefühl weckte in ihm einen tiefen Schmerz.“ Dabei ist für Samuel nicht seine Gesundheit ausschlaggebend, um in die Vergangenheit zurückzublicken, sondern er, der Kommunist und ehemals leitender Funktionär, erlebt die Auswanderung aus der Sowjetunion als Verrat an seinen Idealen und seinem Ende 1942 im Krieg gefallenen Bruder Reuven. Dadurch thematisiert Bezmozgis wahrscheinlich erstmalig in der Literatur russisch-jüdischer Migration die zwiespältige Einstellung zur Auswanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Als Samuel geraten wird, seine Mitgliedschaft in der Partei zu verschweigen, „bloß um den Amerikanern zu gefallen“, ist ihm klar, dass dies „zu einer groben Verfälschung der historischen Tatsachen“ führt. „Samuel erinnerte sich an das Leben vor den Kommunisten und an das Leben nach den Kommunisten. […] Wer das nicht erlebt hatte, hatte nicht das Recht, über den kommunistischen Staat zu urteilen.“

Erzähltechnisch begründet die Erinnerung an Reuven die Retrospektive, in der der Leser von der Kindheit und Jugend Samuels erfährt. Dadurch wird die Zeit von Juli bis November, die Familie Krasnansky in Italien verbringen muss, erweitert und der Erzähler berichtet rückblickend von der Vergangenheit aller Hauptfiguren. So wird neben der Migration als zentrales Thema des Romans das thematische Spektrum erweitert. Das Überraschende ist dabei, dass der Sex dieses stark dominiert. Stellenweise kann man behaupten, dass der Sex zur Metapher für eine bewusste oder unbewusste Rebellion gegen die Enge, Zwänge und die Aussichtslosigkeit des Lebens erhoben wird. Gleichzeitig ist Sex eine Form der Freiheit, die man sich nimmt und an ihren Konsequenzen leidet wie Polina.

Die Parallelen, Gegensätze und Wiederholungen sind in diesem Roman sehr präsent, so dass ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Über drei Generationen wiederholt sich in der Familie Samuels das Muster der zwei Brüder, in dem auch die Rollenbesetzung unverändert bleibt. Das Brüder-Muster korrespondiert mit dem Schwester-Modell, das durch Polina und Brigitta vertreten ist. Wie Samuel und Reuven sich ideologisch gegen ihren Onkel positioniert hatten, scheinen sich auch Samuels Söhne gegen die Überzeugungen ihres Vaters zu wenden. Anders verhält sich Brigitta, die im Gegensatz zu Polina die Auswanderung ausschlägt und bei ihren Eltern bleibt. Auch Maxim und Mascha weisen Gemeinsamkeit auf und stehen für die Erpressung Alecs, der er erneut ausgeliefert wird.

Bezmozgis Figuren sind keine Helden, sondern Menschen mit Macken, Stärken und Ambitionen. Sie sind nie eindeutig und immer fähig, den Leser zu überraschen. Besonders hervorgehoben sei die Figur von Ljowa, einem Pechvogel, der sehr stark an Bernard Malamuds Interpretation des in der jüdischen Tradition bekannten Schlemihl-Typus erinnert.

Nicht zentral, aber auch nicht unwichtig ist die Figur des alten Roidmans, dessen verstümmelter Körper als Metapher für das gekappte kulturelle Gedächtnis der sowjetischen Juden gedeutet werden kann. Dmitri, Isa Judo, Alec und selbst Karl werden zu einem degenerierten Typ des jüdischen homo sowjeticus, der in der freien Welt vom Geld verblendet wird und sich kriminalisieren lässt. Angelo, der diese Transitemigranten zwecks eigener Bereicherung instrumentalisiert, wird zum Antibild des barmherzigen Samariters. In seinem Vornamen gipfelt die Pervertierung der Nächstenliebe. Die religiösen Momente stehen nicht im Vordergrund, tragen aber zu einer Stimmung bei, die an den biblischen Exodus denken lässt.

Sehr eindringlich sind die Passagen, in denen die von Emigranten zurückgelassenen Hunde beschrieben werden. Die Hunde von Ostia und Ladispoli kommen auch in Werken von Vladimir Vertlib und Julya Rabinowich vor und werden zum Symbol einer durch Verzicht geprägten Migration. Ihre ehemaligen Besitzer mussten sich sowohl der Ausfuhrregelungen der Sowjetunion beugen, als auch aufpassen, die Ausstellung der Einreisepapiere für die Länder in Übersee nicht zusätzlich durch die hohen finanziellen Auflagen für das mitgenommene Haustier zu gefährden.

Mit jedem Kapitel gerät der Leser immer stärker in den Bann des Romans. Bezmozgis ist ein hervorragender Erzähler. Er weiß seinen Leser zu fesseln und die Spannung kunstvoll zu steigern. Stellenweise merkt man, dass der Filmemacher Bezmozgis am Werk ist: die Übergänge der Kapiteln lassen den Atem anhalten, während die ausgesparten Schilderungen die Fantasie des Lesers beflügeln. Mit viel Sensibilität und Respekt nähert er sich an das Leben jener Generation, für die sich „eine Verwandtschaft mit der Vergangenheit“ nicht gehörte und die sich stellvertretend durch Samuel als „eine Wanderausstellung der Aussichtslosigkeit“ bezeichnet hat. „Die freie Welt“ ist schlicht ein bemerkenswerter Roman und ein empfehlenswertes Buch.

Titelbild

David Bezmozgis: Die freie Welt. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
350 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044027

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch