Ein dunkler Plan

Über Yves Raveys Krimi „Bruderliebe“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint bei den kleineren Verlagen ähnlich wie bei kleineren Buchhandlungen zu sein: sie sind flexibler, schneller und – da sie nicht so sehr zum großen ökonomischen Erfolg verdammt zu sein scheinen – auch mutiger. Immer wieder kann man beobachten, wie etwa Häuser wie Liebeskind, ars vivendi, Wagenbach oder die Edition Nautilus Bücher veröffentlichen, für die es keinen großen Werbeaufwand geben kann und die erstmal, weil ihre Autorinnen und Autoren nicht sehr bekannt sind, wenig Beachtung finden und in den Großbuchhandlungen selten oder gar nicht ausliegen.

Dann und wann aber bahnen sich Titel aus diesen Verlagen ihren Weg gerade über die kleineren Läden und über gute Besprechungen in den Medien. So haben etwa Michela Murgia mit „Accabadora“, Pete Dexter mit „Deadwood“, Andreas Séché mit „Namiko und das Flüstern“ oder Abbas Khider mit „Die Orangen des Präsidenten“ ihren Verlagen viel Beachtung und dem Buchhandel einen respektablen Umsatz verschafft. Auch dem Kunstmann Verlag gelingt so etwas immer wieder und nun legt er mit „Bruderliebe“ einen Krimi vor, der wohl in einem großen Publikumsverlag nicht erscheinen würde oder in der letzten Ecke der Verlagsvorschau nur minimale Erwähnung fände.

Der in Besançon lebende Kunstprofessor Yves Ravey beschreibt darin auf äußerst gekonnte Weise die aberwitzige Aktion zweier ungleicher Brüder. Der jüngere, Max, lebt seit langer Zeit in der kleinen französischen Grenzstadt, wo er aufgewachsen ist und wo er in einer Fabrik mittlerweile eine respektable Position bekleidet. Sein älterer Bruder Jerry, die beiden haben sich lange nicht mehr gesehen, war als Kämpfer in Afghanistan. „In der Nacht seiner Rückkehr fuhr ich auf die andere Seite der Schweizer Grenze, um meinen Bruder vom Bahnhof abzuholen. Als er mich sah, setzte Jerry seinen Koffer ab, um mich zu umarmen, heftig an sich zu drücken und mir zu sagen, dass er bereits eine gute halbe Stunde gewartet habe. Da wurde mir klar, dass sich seit seiner Abreise vor zwanzig Jahren nichts geändert hatte. Und sofort, trotz allem, was uns verband, unsere Kindheit, mein Vater und meine Mutter, kehrte die Anspannung zwischen uns zurück. Egal, auf dem Bahnsteig lagen wir uns lange in den Armen. Als er seinen Griff lockerte, fragte er mich, ob ich immer noch bereit sei, die Tochter meines Chefs zu entführen, die meine Avancen ignorierte, und ich nickte.“

In diesen wenigen Zeilen, die in diesen kleinen und sehr dunklen Roman einführen, stecken alle Motive und Themen. Da ist das nie geklärte Verhältnis der Brüder untereinander, die Frage, warum Jerry als junger Mann wegging und sich radikalisierte. Ihre jeweilige Beziehung zu den Eltern klingt hier an und wird im Verlauf des Buches immer wieder in knappsten Andeutungen gestreift. Und dann ist da natürlich Samantha Pourcelot, Tochter des Inhabers der Pourcelot-Werke, eines Mannes, der im Stile eines alten Industriekapitäns sein Unternehmen führt, von seinen Mitarbeitern geachtet und gefürchtet wird und ihnen ein Gefühl von familiärer Zugehörigkeit gibt. Warum will Max Samantha mit Hilfe seines kampferprobten und furchtlosen Bruders entführen? Ist es die Rache für ihre Abweisung? Aber warum rächt er sich dann nicht an ihr, sondern via Lösegeldforderung an ihrem Vater, seinem Boss? War es Jerry, der ihn auf die Idee brachte, um Geld für den bewaffneten Kampf, für seine Terrorzelle zu beschaffen?

Yves Ravey verknappt, ohne seinem Buch, seinem dramaturgischen Plan zu schaden. Ganz im Gegenteil, indem er nämlich gerade nicht jede Aktion, jeden Winkelzug, jede neue Wendung auserzählt, betätigt er beim Leser den Einschaltknopf für ein Kopfkino, das sich sofort munter in Bewegung setzt, so dass man sich seine eigenen Bilder von den Personen, der Fabrik, der Entführerwohnung macht beziehungsweise diese entstehenden Bilder mit vorgefertigten Bildern, mit Klischees aus Filmen abzugleichen beginnt. Das ist ungeheuer reizvoll. Trotzdem verlässt sich der Autor nicht ausschließlich auf die Wirkung dieses technischen Kniffs, denn er ist spielend in der Lage, einen veritablen Krimi ohne Polizei und/oder Detektiv zu zaubern, der auf nahezu jeder Seite eine Überraschung parat hat, dadurch immer in Bewegung bleibt und den Leser erfreut und zum Staunen bringt.

Angela Wicharz-Lindner hat „Bruderliebe“, das allen Lesern der ebenfalls herrlich leichten und klug-verspielten Romane von Tanguy Viel viel Lesegenuss bieten wird, in genau das Deutsch gebracht, das man für diese düstere, stellenweise aber auch komödiantisch und slapstickartig wirkende Wundertüte von einem Buch braucht.

Titelbild

Yves Ravey: Bruderliebe. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Französischen von Angela Wicharz-Lindner.
Verlag Antje Kunstmann, München 2012.
112 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783888977503

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