Anziehung aus der Distanz, Abstoßung aus der Nähe

Über Javier Marías’ Kammerstück „Die sterblich Verliebten“

Von Holger WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

María Dolz, eine junge Verlagslektorin in Madrid, die die Manuskripte noch liest, die auf ihrem Schreibtisch landen, frühstückt jeden Morgen in einem Café und beobachtet ein, wie sie glaubt, ideales Paar – Miguel Desvern, den Besitzer eines Filmvertriebs, und seine Frau Luisa Alday. Miguel wird von einem Obdachlosen beschuldigt, dessen Töchter in die Prostitution gezwungen zu haben, und erstochen. María sucht den Kontakt zu Luisa. Sie erfährt, dass das Ehepaar sie „die junge Besonnene“ nannte. Bei Luisa lernt María Javier Díaz-Varela kennen. Obgleich María eine Beziehung mit einem anderen Mann hat, Leonardo, beginnt sie eine Affäre mit Javier.Es verdichten sich Hinweise auf zwei andere Motive für den Mord an Miguel.

Der Plot folgt einem einfachen Grundmuster: es gibt eine Protagonistin (María), einen physischen (Javier) und einen unpersönlichen Antagonisten (den Tod), schließlich mehrere Nebenfiguren, die entweder im Umfeld der Tat einzuordnen sind, oder die im Arbeitsbereich der Protagonistin auftreten. Die Protagonistin macht eine Entwicklung durch, die grob dem Plot einer Heldenreise folgt. Wir lernen María in ihrem persönlichen Umfeld kennen, sie betritt nach der Kontaktaufnahme mit Luisa eine ihr unbekannte Welt, in der sie sich zurecht finden muss. Am Ende verlässt sie diese Welt und kehrt in ihre alte zurück, in der sie einen Band mit Erzählungen Balzacs herausgibt.

„Die sterblich Verliebten“ ist ein Kammerspiel, mit einem Ehepaar, dessen männliche Hälfte ermordet wird, einer Frau, die bis zum Tod des Mannes das Paar beobachtet, dann Kontakt zur Witwe aufnimmt, sowie einem Mann, der beiden Frauen auf jeweils andere Weise zugeneigt ist. Die Urgewalt, die den Roman durchzieht, ist der Tod. Durch den Tod, durch den Toten wirkt die Vergangenheit auf die Gegenwart, bewahrt sich gleichsam in dieser. Die Vergangenheit ist zugleich vergangen und anwesend, wobei die anwesende Vergangenheit die vergangene substituiert – in Form der Erinnerung, die immer absichtsvoll ist. In der Erinnerung wird Miguel zur Erzählung. In seinem Buch „Morgen in der Schlacht denk an mich“ schreibt Marías, dass die Welt von ihren Berichterstattern abhängt. Und in „Die sterblich Verliebten“ hängt Miguel ab von denen, die sich an ihn erinnern.

Der Plot selbst nimmt so wenig Platz ein, dass man ihn ohne ,Spoiler‘ kaum erzählen kann. Es wird mehr (nach-)gedacht als gehandelt, der Roman ist in seltsamer Verbindung abstrakt in der Erzählung und melancholisch in der Stimmung. Er ist bestimmt, für Marías nicht unüblich, durch Abschweifungen. María macht sich viele Gedanken über die Liebe, über Luisa und ihr Umfeld. Die Abschweifungen nehmen zwei Richtungen: Über die Vorstellungen von Liebe und gelingenden Beziehungen sowie mittels Gedanken über den Tod und darüber, wie dieser auf die Hinterbliebenen wirkt.

Es gibt kein Schicksal, das zwei Menschen als Liebende zusammenführt. Vielmehr haben Menschen die Neigung, private Mythologien zu erfinden, wie Marías in einem Interview erzählt. Marías geht davon aus, dass der Zufall zwei Menschen zusammenbringt und diese in der Folge die Liebe konstruieren.

Honoré de Balzacs Novelle „Oberst Chabert“ wendet Javier auf die Problematik der doppelten Grenzüberschreitung an, der von A nach B und wieder zurück nach A, wo B doch eigentlich einen irreversiblen Zustand beschreibt. Aber was ist, wenn nicht der Zustand das Problem ist, sondern der Pfad zwischen zwei Zuständen? Dieser ist bei Chabert ähnlich grausam angelegt wie bei Miguel. Auf eine endlos anmutende Inhaltsangabe einschließlich partieller Auslegung der Novelle durch Javier, dem María beeindruckt zuhört, folgt bald darauf Javiers ähnlich umfassende Relativierung dessen, was María für Mord hält. Die Relativierung ist schon früh im Roman vorbereitet durch Bezüge auf Shakespeare, das Erwähnen von, das Nachdenken über eine Textstelle aus „Macbeth“.

In diese Gespräche Javiers und Marías, die sich, durchsetzt mit inneren Monologen, jeweils über viele Seiten hinziehen, arbeitet Marías eher unauffällige Bewegungen ein. Man kann diese Gespräche bisweilen lesen wie einen Tanz, der aus Annäherung und Abstoßung besteht, der Andeutungen von Liebe und Tod und Verunsicherung Ausdruck verleiht.

Der Beginn des Buchs, einer der schönsten Romananfänge, ist eine Reflexion der Ich-Erzählerin María über die Sehnsucht nach dem eigenen Glück, das, wenn es schon unerreichbar erscheint oder abwesend ist, sich im anwesenden Glück, dem von Menschen in der Nähe, spiegeln muss. Es geht auch um die Liebe und das Begehren, darum, dass María nicht das Gegenüber begehrt, sondern, was sie fühlt, wenn sie die beiden Verliebten betrachtet. Das Ziel ihres Begehrens ist nicht dessen Erfüllung, das Ziel ist das Begehren selbst und seine Verstärkung, weil María sich, wie sie einmal im Roman denkt, gegen Ende, grenzenlosen Fantasien hingibt, die umso weniger ihre dennoch vorhandenen Grenzen spürbar werden lassen, je intensiver, und das sagt sie nicht gegen Ende des Romans, je intensiver der Schmerz wird, das Leiden am Begehren, das vielleicht der Ausdruck seiner stärksten Nähe zur Erfüllung ist.

Francois Truffaut lässt in seinem Film „Das Geheimnis der falschen Braut“ Louis zu Marion sagen: „Ich sehe dich an, und es ist wie ein Schmerz.“ Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen diesem Film, in dem ein Mann sich wie eine Frau und eine Frau sich wie ein Mann verhält, und dem Roman, in dem Javier Marías sich wie ein Mann und eine Frau verhält und dafür die Figuren Javier und María erfindet.

Titelbild

Javier Marías: Die sterblich Verliebten. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
430 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100478313

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