Wer waren die Peredwischniki?

Ingrid Mössinger und Beate Ritter schlagen ein bedeutendes Kapitel russischer Kunstgeschichte auf

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

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Die Peredwischniki (aus dem Russischen übersetzt: Gesellschaft zur Veranstaltung von Wanderausstellungen) – sie wurden auch die „Wandermaler“ genannt – waren eine Künstlergruppe, die sich 1870 in Sankt Petersburg zusammenfand und mit ihren Ausstellungen, die sie durch viele Städte Russlands gehen ließen, breiten Massen den Weg zur Kunst eröffnen wollten. Noch nie war in der russischen Kunstgeschichte der Drang der Künstler zum Volk so groß gewesen, noch nie waren so viele Bilder entstanden, die den vielfältigen, großen und kleinen Ereignissen im Leben der Bauern wie der Städter, eigentlich der Lebenswirklichkeit aller Schichten gewidmet waren. Bilder – Porträts, Interieurs, Landschafts- und Genredarstellungen, aber auch Historienbilder –, die den Betrachter im Innersten zu berühren vermochten und doch das Leben nur in einzelnen Facetten reflektierten. Es waren aber Verallgemeinerungen, was von dieser neuen realistischen Kunst auch erwartet wurde, die sich von den alten akademischen Regeln und Traditionen befreit hatte.

Das Nationalmuseum Stockholm hat in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Tretjakow-Galerie Moskau und dem Staatlichen Russischen Museum Moskau die bisher umfangreichste Ausstellung der Peredwischniki gezeigt, die nun bis zum 28. Mai an die Kunstsammlungen Chemnitz weitergereicht werden konnte. Mehr als 90 Gemälde sind aus dieser bedeutenden Epoche russischer Kunst von europäischem Rang zu sehen. Der diese Ausstellung begleitende opulente Katalog enthält erhellende Beiträge über die Geschichte der Peredwischniki: „Aufruhr und Tradition: die Kunst der Peredwischniki“ von David Jackson (Leeds), „Die Peredwischniki und Europa“ von Per Hedström (Stockholm), „Der lange Weg: Ilja Repins ‚Wolgatreidler‘“ von David Jackson, „Die Peredwischniki im Kontext der künstlerischen Traditionen Sankt Petersburgs“ von Sergej Kriwondentschenkow (Sankt Petersburg), „Pawel Tretjakow und die Peredwischniki“ von Galina Tschurak (Moskau) und „,Die Wahrheit steht über allem‘: Repin und die Peredwischniki“ von Wladimir Lenjaschin (Sankt Petersburg). Ganzseitig werden die ausgestellten Werke abgebildet und knapp kommentiert – und gerade über sie sollte hier gesprochen werden.

Die Wandermaler wollten in der Kunst die „Wahrheit des Lebens“ ausdrücken und eine eigene, dafür adäquate malerische Sprache finden. In einem direkten Zusammenhang zur Genremalerei, der Darstellung von Szenen des täglichen Lebens, stehen ihre Landschaftsmalereien, die, selbst wenn sie menschenleer sind, die baldige Ankunft des Menschen in ihnen spürbar werden lassen. Viele, so die Bilder Isaak Lewitans, sind zugleich Ausdruck kaum wahrnehmbarer Seelenzustände des Menschen. Die Wandermaler schufen einen besonderen Porträt-Typus, die psychologische Auffassung der Charaktere und eine betonte Zurückhaltung, ja Askese bei der künstlerischen Ausführung. Gerade Ilja Repin, der nahezu die ganze intellektuelle und künstlerische Elite Russlands porträtiert hat, vermochte die kompliziertesten Seelenstände des Menschen zu visualisieren. War Repin, die zentrale Gestalt in der Kunst der 1880er- und zu Beginn der 1890er-Jahre, ganz mit seiner Zeit verbunden und malte er richtige soziale Epopöen, so war Wassily Surikow der größte in der Reihe der russischen Historienmaler, wobei er die historischen Ereignisse gleichsam mit den Augen des Volkes betrachtete.

In Iwan Bogdanows Gemälde „Abrechnung“ (1890) fordert ein sich alles andere als bescheiden zeigender Bauer von einem höchst verwundert dreinblickenden Kaufmann seinen Lohn. Nikolai Ge porträtiert 1884 Lew N. Tolstoi bei der Arbeit und gibt Einblick in dessen Denkprozess. Dabei entstand das Bild eines Mannes von geistiger Kraft und schöpferischer Konzentration. „Unterwegs. Tod eines Siedlers“ (1889) von Sergej Iwanow berichtet vom tragischen Schicksal einer in die Heimat zurückkehrenden Bauernfamilie, der Ernährer ist tot, er wird von Frau und Kind beweint – wer soll nun den Wagen weiterziehen, dessen Deichseln in stummer Klage zum Himmel gereckt sind, als habe alles seinen Sinn und Wert verloren? Nikolai Jaroschenko bringt mit dem Gemälde „Der Heizer“ (1878) als erster das Thema des Fabrikarbeiters in die russische Malerei ein. Dem harten Leben der Berg- und Hüttenarbeiterfamilien widmet Nikolai Kassatkin eine Reihe eindruckvoller Gemälde, so in „Arme Leute sammeln Kohle in einer stillgelegten Grube“ (1894). „Verwaist“ (1891) vom gleichen Künstler: Vor einem frisch aufgeworfenen Grab knien zwei Kinder in auswegloser Trauer und Angst vor der ungewissen Zukunft. Alexej Korsuchin lässt Gläubige unterschiedlichen Standes und Alters in der Kirche vor dem Beichtstuhl warten; da wird geschwatzt, ermahnt, neugierig gemustert, unbewegt oder andächtig verharrt. Iwan „Kramskoi, seine Tochter porträtierend“ (1884) ist ein Bild im Bild, Der Profilkopf und die Rückenansicht des Künstlers korrespondiert im Hell-Dunkel mit dem Porträt der Tochter auf der Staffelei. Den Maler Iwan Schischkin hat er in einer Lichtung, auf einen Stock gestützt den Blick in die Ferne gerichtet, auf der Suche nach einem Motiv für ein neues Bild, dargestellt (1873). Der bereits unheilbar erkrankte Nikolai Nekrassow wird von Kramskoi 1877 wie eine ideologische Leitfigur in der Art einer modernen säkularen Ikone porträtiert.

Kein exaktes Ebenbild einer konkreten Landschaft, sondern eine poetische Vision der rauen Natur des Nordens will Archip Kuindschi geben. In „Mondnacht am Dnepr“ (1880) erzeugt er die Illusion eines hypnotisierenden Lichteffekts und versetzt den Betrachter mitten in die Landschaft hinein. Bei Isaak Lewitan verbindet sich die impressionistische Dynamik der Malweise mit einer spröden Raffinesse in der Farbigkeit. Ein lichtdurchfluteter „Birkenhain“ (1889) fasziniert mit seinem launischen Farbenspiel. Mit der „Wladimirka“ (1892) hat er jene traurig berühmte Straße dargestellt, auf der Strafgefangene in die Verbannung nach Sibirien getrieben wurden. Der Weg – ein Symbol der Leidensfähigkeit des Volkes als auch geistiger Pilgerschaft. Bei Wladimir Makowski sind die Seelenqualen einer vor Gericht „Freigesprochenen“ (1882), die ihr Kind an die Brust drückt, für ihre Familienangehörigen wie für den Betrachter noch deutlich zu erkennen. Dagegen zeigt der von Polizisten eskortierte „Verurteilte“ (1879) gegenüber der händeringenden Mutter Willenskraft und Standhaftigkeit. Der kühle Herbsttag spiegelt die Stimmung eines auf der Bank sitzenden jungen Paares wider („Auf dem Boulevard“, 1886/87), das einander fremd geworden ist und sich nichts mehr zu sagen hat. Wladimir Makowski wird eine Seelenverwandtschaft mit Anton Tschechow nachgesagt – in der tiefgründigen Analyse menschlicher Charaktere und Gefühle, die meist in ganz alltäglichen Szenen veranschaulicht werden.

Ilja Repins Bilder gehören mit ihrem demokratischen Pathos und ihrer ausgeprägten sozialen Tendenz zu den Spitzenleistungen der Wandmaler dieser Zeit. „Unerwartet“ (1884-88) kehrt der Exilant, offenbar ein politischer Häftling, in sein Elternhaus zurück (man hat hier auch das Gleichnis von der Heimkehr des Verlorenen Sohnes erkannt), ungläubige Überraschung malt sich in den Gesichtern und Gesten der Familienangehörigen – wie soll es nun mit ihm weitergehen? Repin versagt uns eine eindeutige Antwort, und gerade in der Ungelöstheit des Dilemmas liegt die Kraft und Bedeutung dieses so berührenden Werkes.

In Repins „Verweigerung der Beichte (vor der Hinrichtung)“ (1879-85) verweigert zwar der zum Tode verurteilte Revolutionär dem Priester die Beichte, doch blickt er wie gebannt auf das Kreuz, das jener in den Händen hält. Im Widerstreit der Gefühle scheinen den stolzen, selbstbewussten Verurteilten Zweifel und Unentschlossenheit befallen zu haben. Der stumme, unlösbare Konflikt der beiden Charaktere hat einen Punkt maximaler emotionaler Spannung erreicht. In der berühmten Szene der „Wolgatreidler“ (1870-73) hat der Maler jeder einzelnen Figur einen individuellen Charakter und ein eigenes Thema gegeben, so dass sie in ihrer Gesamtheit eine Vielfalt, einen Typenreichtum verkörpern, wie er sich auch in der Realität findet.

In einem ebenso monumentalen Gemälde (1880-91) geht Repin auf eine Episode aus dem 17. Jahrhundert zurück, als die Saporescher Kosaken sich der Unterwerfung durch den osmanischen Sultan Mehmed IV. widersetzten und ihm mit einem verächtlichen und von spöttischem Humor nur so strotzenden Brief antworteten. Jede einzelne dieser wilden, lebenslustigen und freiheitsliebenden Gestalten hat er charakterisiert, zu denen ihm Zeitgenossen Modell standen.

Ein virtuoses Meisterwerk ist Alexej Sawrassows „Feldweg“ (1873), auf dem die Spiegelung in den Pfützen sich mit dem wolkenverhangenen Himmel zu einer expressiven Darstellung der Landschaft verbindet, die große Gefühle hervorruft. Seine lyrische Auffassung der heimatlichen Natur, das bewusste Bestreben, ihr inneres Leben zu erfassen, ist von der folgenden Künstlergeneration aufgegriffen worden. Auch wenn Iwan Schischkin nur einen winzigen Flecken Natur („Giersch. Pargolowo“, 1884/85) darstellt, wird daraus ein ganzheitliches, von der motivischen Anlage her vollendetes Werk. Fjodor Wassiljew wiederum lässt uns in „Moor im Wald. Herbst“ (1872) die Sumpflandschaft in einem visionären, romantischen Licht erstrahlen.

In einer Zeit des sozialen und politischen Wandels im vorrevolutionären Russland haben die Wandermaler für sich die besondere Funktion der liebevollen Einzeldarstellung, der Erschließung seelischer Vorgänge wie messerscharfen analytischen Dokumentation erkannt. Was ihre Werke auszeichnet, sind Leidenschaft, Engagement und künstlerische Reife, und zudem sind sie ein Spiegelbild des russischen Charakters und Geistes, der damals in Russland herrschte.

Titelbild

Ingrid Mössinger / Beate Ritter (Hg.): Die Peredwischniki. Maler des russischen Realismus.
Kunstsammlungen Chemnitz, Chemnitz 2012.
303 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783930116133

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