Dichter und Diplomat

Zum Tod des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Ich erzähle von Dingen, die mich sehr stark geprägt haben. Zum Beispiel der Spanische Bürgerkrieg aufgrund der vielen Republikaner, die in Mexiko Zuflucht suchten und die uns halfen, eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Dann der Zweite Weltkrieg. Er hat uns damals Fünfzehnjährige sehr betroffen gemacht. Und schließlich die McCarthy-Ära, weil unglaublich viele von McCarthy verfolgte Schriftsteller nach Mexiko kamen“, hatte Mexikos bedeutendster zeitgenössischer Schriftsteller Carlos Fuentes vor zehn Jahren erklärt.

Zuletzt war in deutscher Übersetzung 2008 der Erzählband „Alle glücklichen Familien“ erschienen. Darin entwarf Carlos Fuentes ein vielstimmiges Porträt der mexikanischen Gesellschaft. Scheinbare Antagonismen prägten die Texte, die von einem immensen erzählerischen Elan getragen werden: Korruption und Ehrlichkeit, große Liebe und tiefe Enttäuschung, Revolte und Anpassung, Tradition und Moderne, Schönheit und Hässlichkeit.

Der literarische Spagat zwischen mexikanischen Wurzeln und kosmopolitischem Denken prägte stets das gewaltige literarische Œuvre, das mehr als ein Dutzend Romane, Novellen, Erzählungen, Dramen und Essays umfasst. Carlos Fuentes, der am 11. November 1928 als Sohn eines Diplomaten in Panama geboren wurde, ging in den USA, in Chile, Argentinien und Mexiko zur Schule, studierte später Jura in Mexiko City und Genf und schlug wie sein Vater die diplomatische Laufbahn ein. Er brachte es in den 1970er-Jahren bis zum Botschafter seines Landes in Paris. Da war Carlos Fuentes längst ein international renommierter Schriftsteller, der mit seinem Roman „Landschaft in klarem Licht“ (1958) den Durchbruch geschafft hatte.

Wie sein 1990 mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Landsmann Octavio Paz (auch er war Diplomat) hat sich auch Fuentes wiederholt als literarischer Enzyklopädiker betätigt – am nachhaltigsten in seinem Opus Magnum „Terra Nostra“ (1975). Die pädagogische Komponente ist in seinen Arbeiten ebenso unübersehbar wie die Freude am literarischen Theoretisieren und an experimentellen Spracherkundungen.

„Die Wirklichkeit ist mehr, als irgendeiner von uns sehen könnte oder zu sehen erhoffen könnte“, schrieb Fuentes in seinem 1990 erschienenen Essayband „Von mir und anderen“ und liefert damit gleichzeitig eine kleine Hommage an sein dichterisches Vorbild, den (in seinen letzten Lebensjahren) fast erblindeten Jorge Luis Borges.

So facettenreich wie die lateinamerikanische Literatur lasen sich auch die beiden letzten Romane. In „Die Jahre mit Laura Diaz“ (2000) präsentiert Fuentes in realistischer Marquez-Manier anhand des Lebenslaufes seiner Protagonistin, in den er die eigene Familiengeschichte integriert hat, einen narrativen Rückblick auf das 20. Jahrhundert.

Wesentlich pathetischer (und hier bisweilen an Vargas Llosa erinnernd) ging es im letzten großen Roman „Das gläserne Siegel“ (wie fast alle Werke in deutscher Übersetzung bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen) zu, in dessen Mittelpunkt der steinalte Stardirigent Atlan-Ferrara und dessen wechselvolle Liebe zur Sängerin Ines steht. Vollkommene Selbstverwirklichung und wahrhaftige Liebe – so die latente Botschaft – gibt es nur in der Kunst. Zwischen den Zeilen lässt sich die Figur des Dirigenten auch als alter ego des Cervantes-Preisträgers Carlos Fuentes interpretieren. Ein zutiefst melancholisches Buch.

Auf die Frage, warum seine literarischen Werke zumeist eine pessimistische Handschrift tragen, antwortete Fuentes 1999 in einem Interview: „Kennen Sie einen optimistischen Roman? Stellen Sie sich vor, Madame Bovary hätte eine American Express Card gehabt und sich alle Wünsche erfüllen können, das wäre niemals ein Roman geworden.“

Nun ist Carlos Fuentes, der mit allen wichtigen Literaturpreisen der spanischsprachigen Welt ausgezeichnet worden war, am 15. Mai im Alter von 83 Jahren in Mexiko City gestorben.