Nachrichten aus einer viel gelästerten Zeit

Wie das baden-württembergische Städtchen Creglingen in einen Historikerstreit geriet

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Namen "Liebliches Taubertal" trägt die im nördlichen Baden-Württemberg gelegene Region nicht umsonst: Hier wandert und radelt man entlang der malerischen Romantischen Straße, vorbei an idyllischen Städtchen; Busse mit Touristen machen Halt beim Weikersheimer Schloss, bevor es weiter nach Rothenburg geht. Auf dem Weg dorthin liegt Creglingen. Dieser Ort allerdings hat ein Ereignis zu bieten, mit dem in Reiseführern kein Renommee einzufahren ist: Es liegt fast 70 Jahre zurück.

"Er hatte mitangesehen", schrieb Lion Feuchtwanger 1933 in seinem Roman "Die Geschwister Oppenheim" über das damalige Geschehnis, "wie völkische Truppen unter Führung des Standartenführers Klein aus Heilbronn den Ort besetzten, die Synagoge umstellten, den Gottesdienst - es war ein Samstag - unterbrachen. [...] Die Männer brachten sie aufs Rathaus [...], es wurde jeder einzelne mit Stahlruten und Gummiknüppeln geschlagen, so dass die meisten, als sie das Rathaus verließen, erbärmlich ausschauten. Ein Siebzigjähriger, ein gewisser Berg, starb am gleichen Tag; am Herzschlag, erklärte man später."

Berg war nicht am Herzschlag gestorben. Im Ort konnte man die Schreie der Gefolterten hören. Der Name des Standartenführers Fritz Klein war von Feuchtwanger beibehalten worden, Berg allerdings hieß tatsächlich Stern. Hermann Stern war ein angesehener Bürger und Gemeinderat in Creglingen, bis zu jenem von Feuchtwanger beschriebenen 25. März 1933. Stern und Arnold Rosenfeld, der andere an diesem Tag zu Tode geprügelte Jude, waren die ersten Opfer systematischer Verfolgung in Deutschland nach Hitlers Machtergreifung.

1983 hat ein Geschichtslehrer, der aus Hamburg in die Provinz gekommen war, den Finger in die Wunde gelegt: Hartwig Behr veröffentlichte einen Artikel über die damaligen Gräueltaten, allerdings mit wenig Resonanz. Was eine Diskussion hätte auslösen können, wurde geflissentlich übersehen. Auch einem anderen ist das Schicksal der jüdischen Bürger Creglingens nahe gegangen. Gerhard Naser, Leitender Regierungsdirektor am Regierungspräsidium Stuttgart, stammt aus Creglingen. Nach einem Treffen mit Juden, die aus dem Tauberstädtchen fliehen mussten, machte er es sich zur Aufgabe, "die schmerzlich erlebte Sprachlosigkeit überwinden zu helfen". Das war 1995. Naser und Behr, die zuweilen anonyme Drohbriefe erhielten, tauschten sich bald aus.

Ihr gemeinsames Buch-Projekt sollte sowohl die historischen Geschehnisse beleuchten und Interviews mit Emigranten enthalten als auch die nicht stattgefundene Aufarbeitung nach 1945 dokumentieren. Gemeinsam mit dem Historiker Simon Erlanger machten sie sich an die Arbeit. Wenig später stieß noch der evangelische Theologieprofessor Horst F. Rupp aus Würzburg hinzu. Rupp ist pikanterweise der Enkel eines der Täter des 25. März: Karl Stahl war NSDAP-Ortsgruppenleiter und erstellte die Listen der zu verhaftenden Juden. Nach dem Krieg wurde er - als einziger - zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, konnte sich danach aber wieder in sein bürgerliches Leben einfinden.

Zwischen Naser und Rupp kam es zum Streit. Von inhaltlichen Differenzen war die Rede, aber auch von "nicht mehr hinzunehmenden Zumutungen" und Eitelkeiten. So liegen nun zwei Bücher zum Thema vor. Fast zeitgleich - um das Datum der Reichspogromnacht herum - wurden die beiden Werke im vergangenen Jahr vorgestellt. "Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen" lautet der Titel des Buches von Behr und Rupp. Es wählt einen historischen Ansatz, geht zurück zu den Wurzeln antisemitischen Denkens im 16. Jahrhundert und steuert anhand von exemplarischen Personendarstellungen auf den 25. März 1933 zu.

Dieses Datum steht im Mittelpunkt des von Naser herausgegeben Bandes "Lebenswege Creglinger Juden. Das Pogrom von 1933. Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit". Das von 15 Autoren verfasste Werk - in dem die Opfer zu Wort kommen - versteht Naser als politisches Buch. Darin würden "Ross und Reiter genannt". Behr und Rupp gehen in ihrem Buch - aus juristischen Gründen, wie sie sagen - eher dezent mit Namensnennungen um, während bei Naser etwa der bisher als honoriger Bürger geltende Erich Schweikhardt als Ortsgruppenleiter der NSDAP und Mitglied der Waffen-SS identifiziert wird.

Der vor kurzem verstorbene Schweikhardt hatte durch eine von ihm verfasste Stadtchronik eifrig an einem Creglingen-Bild mitgestrickt, das die Zeit des Nationalsozialismus beschönigte. "Die heute so viel gelästerte Zeit", schrieb er 1976 in der Jubiläumsbroschüre des Turnvereins Creglingen, "hat auch ihre guten Seiten gehabt, und das Herz des Volkes, auch unsere deutsche Turnerschaft miteinbegriffen, hat es treu und ehrlich gemeint und ist an manchen Dingen, die man leider später unserem Volk anlasten konnte, so unschuldig wie ein neugeborenes Kind." Unschuldig - man wäre es nach 1945 gerne gewesen; je länger man es sich einredete, desto mehr glaubte man auch, es tatsächlich zu sein. Dabei herrschten, sagt Behr, in Creglingen fast "österreichische Verhältnisse" - "die meisten wählten NSDAP, als sie es noch gar nicht mussten." Bereits 1932 hatten die Nazis in der protestantisch geprägten Stadt an der Tauber 75 Prozent der Stimmen erhalten.

Eine lange Verdrängungsgeschichte.

In Creglingen war in den letzten Jahren kaum die Bereitschaft zu erkennen, den dunkelbraunen Fleck in der Geschichte einmal näher zu betrachten. Eine Initiative, die Realschule nach den beiden ermordeten Juden "Stern-Rosenfeld-Schule" zu nennen, war 1992 am Votum des Gemeinderats gescheitert. Mit einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Creglinger Pogroms "wollte man nichts zu tun haben", wie es im Naser-Buch heißt. Zögerlich nur erklärte man sich 1998 bereit, eine Gedenkfeier am jüdischen Friedhof abzuhalten.

Auch wenn Bürgermeister Hartmut Holzwarth sich bemüht, den Eindruck des Verdrängens zu vermeiden, unterliefen ihm doch höchst ungeschickte Formulierungen, etwa in einer Stellungnahme zu dem nun geplanten Jüdischen Museum. Initiiert wurde dieses bezeichnenderweise von einem Außenstehenden, einem Amerikaner: Arthur S. Obermayer, der mit seiner 100 000-Dollar-Spende das Projekt erst ermöglichte, ist der Nachfahre von Creglinger Juden, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert waren. Sein Interesse richtet sich darauf, "nicht den Tod, sondern das Leben der jüdischen Gemeinde" abzubilden. Dieses sei, so seine von Geschichtslehrer Behr nicht geteilte Meinung, schließlich über 300 Jahre hinweg in friedlicher Nachbarschaft zur christlichen Gemeinde vonstatten gegangen. Der Bürgermeister freut sich über diesen Ansatz, und ganz besonders darüber, dass es Obermayer nicht um "einseitige Schuldzuweisungen" gehe: Das klingt fast so, als könnten die Juden doch eine Mitschuld daran tragen, dass sie schikaniert, enteignet, erschlagen, deportiert und später aus dem Geschichtsbewusstsein verdrängt wurden. Auch Holzwarths Rede vom "kollektiven Kniefall", den Naser von den Creglingern verlange, zeugt nicht gerade von einer sensiblen Umgangsweise mit dem historischen Erbe. Bereits 1953, so Behr, fand eine deutliche Uminterpretation der Ereignisse statt, die ihre Gültigkeit bis heute hat: "Wir waren's nicht." Creglingen sei ein "exorbitantes Beispiel für den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte", sagt Naser. Die Vorstellung des Naser-Buches fand so nicht in Creglingen statt, sondern bei der Israelitischen Gemeinde Württemberg in Stuttgart.

Die angestoßene Debatte lässt sich aber nicht mehr so leicht abschalten. Rupp, der dem Vorstand der Stiftung "Jüdisches Museum Creglingen" angehört, hat große Zweifel an der Redlichkeit des Unternehmens. Für ihn ist der 25. März 1933 ein zentrales Thema. Dem unter anderem aus Bürgermeister Holzwarth und einem Vertrauensmann Arthur S. Obermayers bestehenden Vorstand wirft er vor, ein Heimatmuseum errichten zu wollen, um der langen Verdrängungsgeschichte ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Rupp, dem von Geldgeber Obermayer der Rücktritt aus dem Vorstand nahegelegt wurde, sieht sich "sizilianischen Methoden" ausgesetzt: Sitzungsprotokolle seien verfälscht worden, der Beirat werde nur unzureichend über die Besprechungen informiert, man versuche durch Satzungsänderungen sich des unbequemen Kritikers zu entledigen. Und nun fordert Rupp den Rücktritt von Bürgermeister Holzwarth.

Dieser hält das Ganze für eine Rufschädigungskampagne. Von Geschichtsklitterung und Protokollverfälschungen könne keine Rede sein: Man wolle die Erinnerung an den 25. März keineswegs tilgen, aber auch nicht in den Mittelpunkt rücken. Das von Rupp beanstandete Papier sei lediglich ein Protokollentwurf gewesen. Mittlerweile, so der Bürgermeister, habe die Konfrontation allerdings ein Stadium erreicht, in dem jegliches Vertrauen zerstört sei. "Ich werde darauf hinarbeiten, dass Herr Rupp dem Vorstand nicht mehr angehört. Er ist nicht mehr tragbar und schadet der Stiftung." Eine dahingehende Satzungsänderung wird in der nächsten Sitzung diskutiert, denn "Herr Rupp versucht seit dem Frühjahr immer wieder, vom Grundgedanken der Stiftung abzurücken, und er ist nicht willens, Mehrheitsbeschlüsse mitzutragen", sagt Holzwarth.

Dass mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Ermordung der Creglinger Juden um die "richtige" Gewichtung des Geschehenen gekämpft werden muss, und die Diskussion um das Jüdische Museum den Charakter einer Farce annimmt, lässt eine Vermutung aufkommen: Die unproduktive Auseinandersetzung um die Art und Weise der öffentlichen Erinnerung deckt nach und nach den eigentlichen Gegenstand der Erinnerung zu. Ein ernsthafter Umgang mit der eigenen Geschichte kommt anscheinend nur dann in Betracht, wenn es keinem weh tut. So steht tatsächlich zu befürchten, dass die Historiker, die sich an die Umsetzung der Vorgaben der Stiftung machen werden, den Weg des geringsten Widerstands gehen sollen.

An einem Schauplatz wie Creglingen offenbaren sich jedoch die weiterhin funktionierenden Abwehrmechanismen. Die noch lebenden Creglinger Juden wurden zur Gestaltung des Museums bisher nicht befragt. Stattdessen werde im Vorstand die Meinung vertreten, so empört sich Rupp, dass die Vorgänge für die damalige Zeit nichts Außergewöhnliches gewesen seien, sondern "Ereignisse im Fluss der Geschichte, die von emotionalen Aspekten frei gehalten werden müssen."

Titelbild

Gerhard Hrsg Naser (Hg.): Lebenswege Creglinger Juden. Das Pogrom von 1933. Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit.
Eppe Verlag, Bergatreute 1999.
292 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3890890571

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Hartwig Behr / Horst F. Rupp: Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
278 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3826018346

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