Denkmäler für Maulhelden

Adam Seides Kneipenroman „ABC der Lähmungen“ ist ein Lobgesang auf das große Scheitern

Von Andreas ThammRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Thamm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bei Erich“ in der Hannoveraner Altstadt geht es hoch her. Hier trifft sich die Künstlerszene der Stadt in den 1970er-Jahren, es wird getrunken und gedichtet, ab und zu prügelt man sich. Der Chronist der Szene verstarb 2004 an einer Lungenentzündung, jetzt erscheint Adam Seides „ABC der Lähmungen“ zwischen zwei festen Buchdeckeln im Verlag Walde + Graf.

„Auch das sie in der Bierpinte Wein trinkt, hat die Form eines Protestes, einer Verweigerung, einer Herausforderung“, so heißt es über „Anna“ und bei V wie „Verena“ steht: „Sie hat schon einige Male versucht, Männer nach ihren Vorstellungen umzumodeln, aber als sie sie umgemodelt hatte, da gefielen sie ihr nicht mehr, und sie ließ sie so sitzen wie sie waren.“

Das „ABC der Lähmungen“ ist tatsächlich ein kleines Lexikon, das geht bei „Alfredo“ los und endet bei „Wolle“. Nachnamen hatte „Bei Erich“ wohl niemand, höchstens einen Spitz-, einen Kosenamen. Erstmalig erschien das ABC 1979 im postkriptum Verlag in Hannover: Kleine, pointierte Liebeserklärungen, winzige Denkmäler für die szenebekannten Gesichter der Stadt. „Damit kam er in der Stadt nicht nur ins Gespräch mit denen, die sich portraitiert lasen“, schreibt Günther Müller in seinem Nachwort, „sondern heftiger ins Gerede der Leute, die sich nicht im Buch wiederfanden.“

Das mag daran liegen, dass Seide von A bis W nie hämisch wurde. Die gewidmeten Miniaturen erzählen von den Pralhänsen und Maulhelden, denen, die an der Spritze hingen und denen, die nicht vom Bierglas loskamen. Wir lesen im „ABC der Lähmungen“ oft die großen Geschichten vom Scheitern, reduziert auf fünf Zeilen; und doch verlässt Seide nie das Genre des Lobgesangs.

Bei all dem obligatorischen Mief, der der Leser aus der 1970er-Jahre-Altstadt-Kneipe in Niedersachsens Hauptstadt entgegenschlägt, hält die postum veröffentlichte Sammlung einer expliziten sprachlichen Betrachtung freilich nicht stand. Das „ABC der Lähmungen“ ist nicht schick und nur selten elegant. Teilweise ist das eine herrliche Sammlung der billigen Phrasen und Allgemeinplätze, man trifft auf ein Volk, das „Fünfe gerade sein lässt“, von dem man sich „eine Scheibe abschneiden kann“. Es ist eine Herde „ganz feiner Kerle“.

Es macht nichts, denn die Prosa hat – um einen aussortierten Begriff aus der Gruft zu holen – eine gewisse Authentizität. Seide gelingt es in wenigen, oft programmatischen oder klischeebeladenen Zeilen eine Atmosphäre zu konstruieren, die dem Leser diese schrägen Figuren erstaunlich nahe bringt. Es drängt aus diesen Sätzen, dass sie von einem Augenzeugen geschrieben worden sind, und man sieht den Autor in der Kneipe stehen, selbst wenn man nie dort war, direkt neben Elke, von der er schreibt: „Elke ist Künstlerin. Dabei wäre das gar nicht nötig.“

All das ist herrlich miefig und herrlich anachronistisch. Ein Sittengemälde, eine verspätete Milieustudie einer deutschen Szene, die es nicht mehr gibt. Eine Welt, wo das „Zahnpastalächeln“ der Feind war und in jeder Figur der eigentliche Roman steckt. Der aber gar nicht erzählt werden muss.

Walde + Graf ein junger Verlag aus Zürich macht daraus in Zusammenarbeit mit dem „Adam Seide Archiv“ einen besonders liebevoll gestalteten Band, inklusive Originalfotos aus der Kneipe „Bei Erich“, sowie den Kommentaren von Harry Oberländer, Günter Müller und Andreas Maier. Er lässt noch einmal teilhaben an einer Zeit, die zum Glück und leider vorbei ist.

Titelbild

Adam Seide: ABC der Lähmungen. Ein Kneipenroman.
Herausgegeben von Harry Oberländer und dem Adam Seide Archiv.
Walde + Graf Verlag, Zürich 2012.
100 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783037740460

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