An der Schwelle zur Neuzeit

Zur deutschsprachigen Erstausgabe von Meshullam da Volterras Reisebericht „Von der Toskana in den Orient“ aus dem Jahr 1481

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir erreichten Kairo am Sonntag, dem 17. Juni 1481. Ich durchquerte die Stadt, um Kairo und die Bräuche seiner Einwohner zu besichtigen. Wenn ich tatsächlich alles über ihr Ansehen, ihren Reichtum und ihre Einwohner aufschreiben wollte, würde dieses ganze Buch nicht ausreichen. Ich schwöre: Wenn man Rom, Venedig, Mailand, Padua und Florenz sowie vier weitere, benachbarte Städte zusammenlegen könnte, würden alle zusammen nicht einmal zur Hälfte heranreichen an den Reichtum und die Bevölkerungsstärke von Kairo. Daran ist kein Zweifel“, schreibt Meshullam da Volterra über die damals von den Mamelucken beherrschte Stadt am Nil. Der italienisch-jüdische Bankier und Kaufmann war im Frühjahr 1481 zu einer mehrmonatigen Reise in den Nahen Osten aufgebrochen. Nach Zwischenstationen in Neapel und auf Rhodos besuchte er unter anderem Alexandria, Kairo, Gaza, Jerusalem, Beirut und Damaskus. Im Herbst desselben Jahres kehrte er über Zypern, Rhodos, Kreta, Korfu und Poreč nach Venedig zurück.

Der Reisebericht, den da Volterra nach seinem Aufenthalt in Nahost geschrieben hat, stellt eine besondere, sehr empfehlenswerte Lektüre dar – und das aus mehreren Gründen: Bei der vorliegenden, von dem Historiker Daniel Jütte besorgten Ausgabe handelt es sich nicht nur um die erste Übersetzung ins Deutsche. „Von der Toskana in den Orient“ ist auch einer der wenigen hebräischsprachigen Reisetexte aus dem 15. Jahrhundert, der uns erlaubt, einen anderen, nichtchristlichen Blick auf die vielfältigen, politischen und militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse im Mittelmeerraum am Ende des Spätmittelalters zu werfen. Der Beginn einer neuen Epoche für Europa, zehn Jahre vor Kolumbus’ Reise in die westliche Hemisphäre, kündigt sich bereits hier an und verleiht dem Reisebericht des „Renaissance-Kaufmanns“, wie er im Untertitel der Buchausgabe genannt wird, zusätzliche Spannung: Der Text verknüpft religiös-tradiertes und selbst erworbenes Wissen, Frömmigkeit und Rationalität. Das „Ich“ des Erzählers – der Ausdruck seiner Neugierde, Freude und Angst, aber auch der Wunsch, bei den Lesern als glaubwürdig zu gelten – lässt dieses Selbstzeugnis teilweise sehr modern wirken. Jütte spricht darum von einem „Ego-Dokument“.

In einem ausführlichen Vorwort erhellt der Herausgeber das Umfeld des Händlers, dessen Lebensdaten unbekannt sind, vergleicht seinen Bericht mit anderen christlichen wie jüdischen Reisetexten aus jener Schwellenzeit und untersucht schließlich dessen Besonderheit und Bedeutung: „Von der Toskana in den Orient“, so resümiert Daniel Jütte, „markiert zwar innerhalb der Gattung keine radikale Zäsur, aber stellt stilistisch wie inhaltlich eine Synthese zwischen der für ältere Gattungstraditionen typischen sakralen Zentrierung einerseits und einer neuartigen Beschreibung individuellen Erlebens andererseits dar. Mit anderen, der Literaturwissenschaft entlehnten Begriffen: Meshullams Reisebericht verschränkt auf in der jüdischen Reiseliteratur neuartige und kunstvolle Weise Toposwissen und Beobachtungswissen.“

Woran macht sich das noch fest? Bei da Volterra handelt es sich um einen Pilger- und Geschäftsreisenden. Er spricht davon, dass ihn ein Gelübde veranlasst habe, ins Heilige Land zu fahren. Er besucht die jüdischen Gemeinden, ihre Geistlichen, Gotteshäuser und nicht zuletzt die zahlreichen Pilgerstätten. Zugleich scheinen es handfeste weltliche Interessen zu sein, die den Bankier und Edelsteinhändler ins östliche Mittelmeer führen – der übrigens, wie Jütte in der Einleitung erwähnt, bei der Florentiner Herrscherfamilie de Medici hohes Ansehen genießt. Die Beschreibung der aufgesuchten Städte, ihres regen Handels und architektonischen Besonderheiten, aber auch der Bewohner und ihrer Sitten, der Flora und Fauna sowie der oft abenteuerlichen Erlebnisse nimmt im Vergleich freilich einen größeren Raum im Reisebericht ein.

Auch wenn er nur fragmentarisch erhalten geblieben ist – der Text setzt kurz vor der Ankunft auf Rhodos im Mai 1481 ein –, „Von der Toskana in den Orient“ ist eine richtige Fundgrube für Judaisten, Historiker und Literaturwissenschafter genauso wie für interessierte Leser. Der Bericht gibt einen spannenden wie anschaulichen Einblick in die Gedankenwelt eines europäisch-jüdischen Reisenden am Ende des 15. Jahrhunderts. Der Leser erfährt viel über seine Fremd- und Selbstwahrnehmung: Ambivalent sind da Volterras Erfahrungen mit Christen und Moslems – und dementsprechend schwankt seine Einstellung ihnen gegenüber zwischen Polemik und Bewunderung, Ablehnung und Dankbarkeit.

Zugleich entwirft er ein kleines, detailreiches Bild von den politischen Geschehnissen und den ökonomischen Beziehungen der Völker im östlichen Mittelmeerraum. Es ist die Epoche, in der sich die Osmanen der Seemacht Venedig entgegensetzen, immer mehr Gebiete im Südosten Europas erobern und so den Orienthandel der Europäer erschweren, was diese veranlasst, neue Wege nach Indien und China zu suchen. Der Bankier schildert die Probleme für die fremden Händler: So erwähnt er beispielsweise die Abgaben, die Nichtmuslime entrichten müssen, um Städte wie Alexandria zu betreten, oder erzählt von den Gefahren für Leib und Leben, die ihn zwingen, sich auf dem Weg von Kairo nach Gaza als „Ismaelit“, das heißt als Araber und Türke zu verkleiden, um nicht als Jude oder „Franke“ erkannt und ausgeraubt zu werden. Doch auch wenn es Risiken auf westlicher wie östlicher Seite für die Reisenden gibt: Da die Bedingungen für Fahrten ins Heilige Land zu jener Zeit insgesamt gut sind, nehmen Wallfahrer und Kaufleute aus Europa die Strapazen auf sich. Die Hoffnung auf Heilsgewinn, auf Sozialprestige, auf Geschäfte sowie die „touristische“ Neugier auf die Exotik und den Luxus des Orients sind meist stärker als ihre Angst.

Die hier erwähnten Themen in da Volterras Bericht stellen lediglich einen Teil dessen dar, was dieser kurze, dabei sehr informative und flüssig zu lesende Text beinhaltet. Letzteres ist primär ein Verdienst des Herausgebers, der eine Übersetzung fertiggestellt hat, die einen nicht durch eine allzu wörtliche Übertragung ermüdet. Hervorzuheben ist noch, dass Jütte in seiner Editionsarbeit erstmals auch den Versuch unternommen hat, die zahlreichen Zitate und Anspielungen aus der Bibel sowie der rabbinischen Literatur im Reisebericht nachzuweisen.

„Von der Toskana in den Orient“ liefert somit nicht nur viel Material für die Beschäftigung mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen an der Schwelle zur Neuzeit. Auch auf sprachlicher und literarischer Ebene stellt es eine ergiebige Quelle dar, da der Text viel über das Leben, Denken und Handeln des Kaufmanns selbst aussagt: Der Rückgriff auf religiöse Zitate und Wendungen wie auch der bewusste Gebrauch vieler italienischer Wörter ermöglichen ihm, sich selbst und den Lesern das Fremde „eigen“ und damit verständlich zu machen. Zugleich kann er ihnen, die er im Bericht wiederholt anspricht, dadurch auch „spielend“ sein Wissen und Können unter Beweis stellen.

Titelbild

Meshullam da Volterra: Von der Toskana in den Orient. Ein Renaissance–Kaufmann auf Reisen.
Übersetzt aus dem Hebräischen, kommentiert und eingeleitet von Daniel Jütte.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012.
152 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783525300350

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