„Keine schönen Abenteuer“
Zum Buch „Zwei Seiten der Erinnerung. Die Brüder Edgar und Manfred Hilsenrath“ von Volker Dittrich
Von Natalia Blum-Barth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer heute 86-jährige Edgar Hilsenrath ist längst in der deutschen Literatur angekommen. Bereits mit 14 Jahren spürte der spätere Autor „den Drang zur schriftstellerischen Betätigung“. Dieser entstand aus dem dringenden Bedürfnis das während der Shoah Erlebte in Worte zu fassen. In einem Brief an Max Brod aus dem Jahr 1945 beteuerte der damals 18-jährige: „Innerhalb weniger Monate werde ich meine verwirkte Jugend in klaren Schriftzeichen niederschreiben. Es wird eine Anklage sein und eine Episode jüd(ischen) Leids.“ Abgesehen davon, dass es für den Autor sicherlich nicht einfach war, sich die grausame Vergangenheit vom Leib zu schreiben, war es noch schwieriger, das Geschriebene an den Leser zu bringen. „Und das Buch [Der Nazi & der Frisör] wurde von ungefähr sechzig Verlagen abgelehnt“. Erst Helmut Braun, der Nachlassverwalter und Herausgeber Rose Ausländers, wagte es, diese Holocaust-Satire 1977 zu verlegen. Die im Dittrich-Verlag erschienene zehnbändige Werkausgabe hat diese eigenwilligen Bücher und ihren Autor „wieder neu bekannt gemacht“.
Volker Dittrich, ehemaliger Verleger und wie aus dem Buch hervorgeht Freund von Edgar Hilsenrath, legt unter dem Titel „Zwei Seiten der Erinnerung“ eine Biografie über den bekannten Autor und seinen in der Literaturszene unbekannten Bruder Manfred Hilsenrath vor. „Zwei Seiten“ kann man hier buchstäblich verstehen: Während Manfred Hilsenrath hauptsächlich anhand der von Volker Dittrich im Mai 2011 aufgezeichneten Gespräche und Interviews zu Wort kommt, treten für Edgar Hilsenrath die aus seinen Romanen zitierten Passagen. Diese sind thematisch gesehen gut ausgesucht und illustrieren die Stationen seines Lebens sehr eindringlich. Sie geben auch einem Leser, der erst durch diese Biographie Hilsenrath als Romancier entdeckt, einen Eindruck vom Stil und von der thematischen Ausrichtung seiner Werke. Die Erinnerungen des Manfred gehen stellenweise auf diese Zitate ausführlich ein. Ab und zu präsentiert der Bruder „seine Wahrheit“, wodurch ersichtlich wird, wie Edgar Hilsenrath das Erlebte literarisch verarbeitet, modifiziert und transformiert.
Es sind zwei unabhängige Lebensprojekte, die einen gemeinsamen Anfang haben und einen sehr unterschiedlichen Verlauf nehmen. Was die Brüder trotzdem gemein haben, ist das klare Ziel für ihr Leben: Während Manfred Mathematik und Physik am City College of New York studiert, um Ingenieur zu werden, hält sich Edgar mit Kellnerjobs über Wasser, um an seinen Romanen zu schreiben. Während der Jüngere auf den Wohlstand, die Karriere und den gesellschaftlichen Aufstieg mit Ehefrau und Kind zusteuert, scheint der Ältere in den USA nichts erreicht zu haben und kehrt 1975 nach Deutschland zurück. Diese beiden unterschiedlichen Entwicklungen illustrieren, wie die Holocaust-Überlebenden mit ihrer Vergangenheit umgingen: Entweder, indem sie, wie Manfred Hilsenrath ausführt, von der Vergangenheit mit ihren Leidenskameraden nie gesprochen haben oder, wie Edgar Hilsenrath es kompromisslos anging, das Erlebte literarisch aufarbeiteten.
Volker Dittrich geht in seinem Buch chronologisch vor und gliedert es nach Orten, die zu Lebensstationen wurden: Leipzig und Halle, Sereth in der Bukowina, das Ghetto in Moghilev-Podolsk, Lyon, New York, Kalifornien, Berlin. Als Autor hält er sich zurück und verzichtet auf Kommentare mit historischen, faktischen Angaben zu diesen Orten. Sie werden dem Leser in den Erinnerungen Manfreds und den Schilderungen in den Romanen Edgars präsentiert. Diese Vorgehensweise ist gerechtfertigt, denn es geht nicht um eine Dokumentation über das rumänische Lager Moghilev-Podolsk, sondern um die Erinnerungen der Überlebenden. Diese sind von dramatischen, und auch Jahrzehnte später aus dem Gedächtnis nicht zu tilgenden Bildern geprägt. Sie wecken das Gefühl der Überlebensschuld: „Die haben die meisten von uns. Wir sind da, und die anderen sind gestorben – warum?“
Die Zeit in Frankreich, die die Familie Hilsenrath vereint mit dem Vater bis 1950 in Lyon verbrachte, blieb in bester Erinnerung: Von Franzosen wurden die Flüchtlinge hilfsbereit aufgenommen, erhielten Zuspruch und Unterstützung, wurden verständnisvoll und diskret behandelt. In Lyon lernte Edgar Hilsenrath eine deutsche Studentin kennen, die ihm einen Sohn gebar. Leider ist Hilsenraths Beziehung zu diesem nicht unkompliziert. So kann aber auch seine jetzige Beziehung zum Bruder Manfred charakterisiert werden. Mit seinen ehemaligen Verlegern, Braun und Dittrich, hat er mittlerweile ebenfalls keinen Kontakt mehr. Ist die mit 19 Jahren an Max Brod gerichtete Klage „Mir begegneten die Menschen immer nur mit lächelnder Gleichgültigkeit“ auch Jahrzehnte später aktuell? Oder ist Hilsenrath eine eigenwillige, mürrische Person, die von seinem Autorenerfolg geblendet wurde? Volker Dittrichs Buch hinterlässt einen anderen Eindruck. Im heutigen Leben Edgar Hilsenraths scheint es andere Personen zu geben, an denen er „Halt finden“ kann. Oder sie an ihm? Der Schluss des Buches mutet seltsam an und weckt Sorge um Edgar Hilsenrath.
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