Ein Volk auf Wanderschaft

Jüdisches Leben sorgfältig recherchiert und illustriert

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Juden waren stets ein Volk auf Wanderschaft. Da sie immer wieder verfolgt und vertrieben wurden, mussten sie häufig ihren Wohnort wechseln. Nicht wenige, insbesondere orthodoxe Juden, betrachten noch heute nur einen Ort auf dieser Welt als ihre authentische Heimat: die heilige Stadt Jerusalem, "Gottes frühe Adresse", wie es der zeitgenössische Jerusalemer Dichter Jehuda Amichai einmal ausgedrückt hat. "Im Osten weilt mein Herz, ich selbst an Westens Rand", mit diesen Worten beschrieb der Dichter Jehuda Halevi einst die Sehnsucht der Juden nach ihrer verlorenen Heimat.

Acht renommierte Historiker und Wissenschaftler haben die Geschichte des Judentums sorgfältig recherchiert und anschaulich nachgezeichnet, wobei sie sich auf einige ausgewählte Schlüsselpunkte konzentriert haben. Fundiert und unterhaltsam erzählen sie nicht nur von den entscheidenden Wendepunkten in der Geschichte des jüdischen Volkes, sondern vermitteln darüber hinaus ein farbiges und faszinierendes Bild vom Leben der Menschen in den einzelnen Epochen: im Palästina des Altertums, dann unter christlicher und muslimischer Herrschaft, unter dem Nationalsozialismus und in verschiedenen heutigen Staaten. Dabei reflektieren die Autoren auch aktuelle Fragen und berücksichtigen moderne Entwicklungstrends. Jedes der acht Kapitel greift ein eigenes Thema aus der jüdischen Vergangenheit auf, das direkte Relevanz für die Gegenwart besitzt. Viele, auch unbekanntere Aspekte werden berührt. Nur hin und wieder kommt es zu leichten Überschneidungen, die aber nicht störend ins Gewicht fallen.

Seth Schwarz befasst sich mit den Ursprüngen der jüdischen Geschichte, die durch den Kampf um Unabhängigkeit im Land Israel und durch einen im Jerusalemer Tempel zentralisierten Opferkult bestimmt war. Oded Irshai schildert die Geschichte der Diaspora von den Anfängen bis zu der Zeit, als das römische und das persische Herrschaftsgebiet von zwei neuen Religionen, dem Christentum und dem Islam, erfasst wurde. Obwohl die Juden in der zweiten Epoche ihrer Geschichte als Minderheit unter der Herrschaft anderer Völker lebten und von ihrer Duldung abhängig waren, bewahrten sie sich durch ihre religiösen Institutionen eine gewisse Autonomie. Fesselnd liest sich die Darstellung jüdischen Lebens unter muslimischer Herrschaft.

Als im 7. Jahrhundert in Arabien der Islam auf der Bühne der Weltgeschichte erschien, hatten die Juden schon lange in der Diaspora gelebt. Seit dem Aufstieg des Islam wohnten Juden und Muslime in einem riesigen Gebiet zusammen, das sich von Marokko bis an die Grenzen Chinas erstreckte. In den ersten Jahrhunderten des Islam genossen die Juden im Allgemeinen Sicherheit und Wohlstand, später litten sie unter Unsicherheit und Erniedrigung. Im mittelalterlichen Andalusien erreichte die jüdische Assimilation an die kulturellen Entwicklungen der muslimischen Gesellschaft einen gewissen Höhepunkt.

Nicht alles, was hier zur Sprache kommt, dürfte allgemein bekannt sein, zum Beispiel, dass an der Bauplanung der Alhambra in Granada, einem der Wunderwerke maurischer Baukunst, der jüdische Wesir Jehoseph und der Sohn des Wesirs und Hofdichters Samuel ibn Nagrela beteiligt waren und dass die wichtigste Erfindung, die die Sepharden in die Länder des Islam mitbrachten, der hebräische Buchdruck war.

Ora Limor nimmt die wechselvolle Geschichte der Juden unter christlicher Herrschaft genau in Augenschein und erklärt, wie es zu einer, viele Jahrhunderte andauernden Verunglimpfung der Juden kam, die oft in Pogrome ausartete. Limor betont aber auch, dass man trotz der negativen Seiten die positiven Aspekte im Zusammenleben zwischen Juden und Christen nicht übersehen dürfe.

Den Weg vieler Juden nach Osten verfolgt Jane S. Gerber. In Polen entstand ein bedeutsames Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Um das Jahr 1500 habe die Zahl der polnischen Juden, so Gerber, etwa zehntausend betragen, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sei sie dann auf eine dreiviertel Million angestiegen. Später zu Zeiten des letzten Zaren Anfang des 19. Jahrhunderts wanderten dann viele Ostjuden nach Westeuropa.

Ausführlich beschreibt David Sorkin die Begegnung von Juden mit der Moderne sowie ihre Integration in verschiedene Gesellschaften. Im Zeitalter der Emanzipation schufen die Juden Mittel- und Westeuropas eine säkulare bürgerliche jüdische Kultur, die nicht auf dem jüdischen Gesetz, der Halacha, sondern auf einer emanzipatorischen Ideologie beruhte. Die neue jüdische Kultur entwickelte wie die bürgerliche Kultur insgesamt eine öffentliche Sphäre, in der die Volkssprachen galten. Ihr wichtigstes Medium war die Presse, ferner die erzählende Literatur und die bildende Kunst.

Während dieses Zeitraums bildete sich jedoch noch ein anderes Emanzipationsmodell heraus, dessen Ziel die Schaffung einer selbständigen nationalen Einheit des jüdischen Volkes war. Die Ursprünge des jüdischen Nationalismus, das Wirken Theodor Herzls und der Aufbau der jüdischen nationalen Heimstätte werden in diesem Zusammenhang eingehend gewürdigt.

Der Antisemitismus der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der mit der Berliner Bewegung Adolf Stoeckers an die Öffentlichkeit trat, wird in einem anderen Kapitel behandelt, in einem weiteren die Zeit des Nationalsozialismus. Ilustriert werden diese schlimmen Jahre unter der Kapitelüberschrift "Die schwärzeste Stunde" durch Bilder, die man zwar schon oft gesehen hat, die aber auch beim wiederholten Betrachten ans Herz gehen, wie etwa die Aufnahmen "Jüdische Kinder im Ghetto", "Eine jüdische Familie auf der Flucht", "Deutscher Polizist erschießt eine jüdische Frau und ihr Kind in der besetzten Ukraine" aus dem Jahr 1942. Das Registrierfoto einer jungen Jüdin im Todeslager Auschwitz erschüttert ebenso wie Aufnahmen ausgemergelter überlebender KZ-Häftlinge nach der Befreiung.

Die Zeit nach Auschwitz, in der große Teile der jüdischen Welt traumatisiert waren, die sieben Kriege Israels, die Masseneinwanderung sowjetischer Juden nach Israel, der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Westeuropa, vor allem in England und in Frankreich, die den Juden Westeuropas nolens volens aufgezwungene Auseinandersetzung mit dem Terrorismus seit den frühen siebziger Jahren sind weitere Themen. Auch die gegenwärtige Situation von Juden in den muslimischen Ländern, in Lateinamerika, der Rückgang der äußeren Bedrohungen, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel im Jahr 1994 werden kurz erwähnt.

Zuletzt wagen die Autoren einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen zu Beginn des neuen Jahrtausends:"Wird es gelingen, den jüdischen Charakter zu bewahren?" Immerhin sei in vielen Diasporagemeinden ein demographischer Niedergang zu beobachten. Selbst Israel scheint an jüdischem Charakter zu verlieren. Mit der bangen Frage: "In welchem historisch authentischen Sinne werden die Juden in einem nachreligiösen Zeitalter Juden bleiben können?" schließt der bemerkenswerte Band.

Doch leider hält er für den aufmerksamen Betrachter und Leser einen Wermutstropfen bereit. Denn das jüdische Leben in der Bundesrepublik wird völlig ausgespart, sowohl das der Nachkriegszeit als auch das nach der sogenannten Wende. Weder der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden noch die Verdienste Galinskis und Bubis' um ein gedeihliches Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden, noch die ostjüdische Einwanderung, die vielen jüdischen Gemeinden nicht nur Probleme, sondern den meisten eine neue Blütezeit beschert und manche jüdische Gemeinschaft vor dem Aussterben bewahrt hat, wird von den amerikanischen Autoren erwähnt. Das ist bedauerlich, ebenso die Tatsache, dass bis auf den Herausgeber Nicholas de Lange - er lehrt am Institut for Hebrew and Jewish Studies an der Universität von Cambridge - kein anderer Autor vorgestellt wird.

Doch davon abgesehen, bietet das großformatige Buch mit seinen zahlreichen, teils farbigen Abbildungen einen reichhaltigen Anhang mit Auswahlbibliographie, Bildnachweisen und Personen- und Sachregister.

Titelbild

Nicholas de Lange: Illustrierte Geschichte des Judentums.
Campus Verlag, Frankfurt 2000.
450 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3593363895

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