„Tristan, der Held, in jubelnder Kraft“

Robert Gerwarths Biografie über den kunstsinnigen Henker von Prag

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch seinen frühen Tod in mythische Dimensionen entrückt, genießt Reinhard Heydrich bis heute in rechten Kreisen den Ruf eines „Jung-Siegfried des Dritten Reichs“, der, wiewohl nicht einmal zur eigentlichen NS-Führungsriege zählend, womöglich gar den Zweiten Weltkrieg zugunsten Hitlerdeutschlands entschieden hätte.

Der vielleicht fanatischste Verfechter der Reinheit des Blutes, dessen Fanatismus man lange Zeit in der Furcht vor der Enthüllung seiner mutmasslich jüdischen Abstammung begründet sah, beschäftigte in den vergangenen 70 Jahren immer wieder die Phantasie von Schriftstellern und Filmemachern – von Heinrich Mann über Fritz Lang und Douglas Sirk bis hin zu Philip K. Dick, Maj Sjöwall und Per Wahlöö und in jüngster Zeit Laurent Binet.

Eine wissenschaftlich fundierte Biografie über ihn lag indes bislang noch nicht vor, und bis in jüngster Zeit wussten sich zahlreiche gleichermaßen von Freund und Feind mitgestrickte Legenden als vermeintliche Fakten selbst in seriöser Fachliteratur zu behaupten. Robert Gerwarths Biografie hebt daher geradezu zwangsläufig mit einer Art „Genealogie der Klischees“ an: Schritt für Schritt werden die gängigen Mythen als solche enttarnt und in ihrer Entstehungsgeschichte nachvollziehbar gestaltet.

Stilisierte „man“ – nicht zuletzt seine einstigen Untergebenen im Reichssicherheitshauptamt, die sich auf diese Weise erfolgreich moralisch zu entlasten vermochten – ihn unmittelbar nach 1945 – in konsequenter Umkehr des von der NS-Propaganda intendierten Bildes vom unbeirrbaren Kämpfer und Übermenschen – zur vielleicht „dämonischsten Figur“ des NS-Regimes und zum blonden Todesgott, der durch seine bloße Ausstrahlung alle in seinen Bann geschlagen und jeden Widerstand aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung, die Schwächen seiner Mitmenschen zu erkennen und den eigenen Machtinteressen nutzbar zu machen, im Keim erstickt habe, so folgte dieser personalisierten Deutung ab den 1960er-Jahren ein mehr funktionalistischer Ansatz, der Heydrich als emotionslosen und kühl berechnenden Manager des industriellen Massenmords wertete.

Der besondere Rang und das Innovative von Gerwarths Biografie liegt jedoch nicht in der letztlich banalen Feststellung begründet, dass Heydrich weder Dämon noch reiner Bürokrat im landläufigen Sinne, sondern, in des Wortes schlimmster Bedeutung, ein Mensch in seinem Widerspruch gewesen war – vielmehr kristallisiert sich hier als entscheidender Aspekt das Faktum heraus, dass diese Lebensgeschichte letztlich jeder Art von Zwangsläufigkeit zu entbehren scheint.

Wie wird ein Mensch zum Massenmörder? Dass sich diese Frage nicht beantworten lässt und dass man ihr bestenfalls auf dem Wege der Falsifikation näher zu rücken vermag, demonstriert Gerwarth auf eindrucksvolle Weise. Ein „kranker Außenseiter“ und „Psychopath“ war Heydrich ebensowenig wie die meisten anderen ranghohen Nationalsozialisten, sondern kam wie diese aus der „Mitte der Gesellschaft“. Dass der Sohn eines Opernsängers und Komponisten schon früh durch die nationalistische und nicht bloß latent antisemitisch getönte Gesinnung eines „bildungsbeflissenen Kleinbürgertums“ geprägt war, prädestinierte ihn ebensowenig für seine spätere Rolle als zentraler Agent der Vernichtung wie sein zeitweiliges Engagement in paramilitärischen Verbänden zu Beginn der 1920er-Jahre.

Auch dass sich sein Vater vehement und erfolgreich dagegen zur Wehr setzte, im öffentlichen Bewusstsein aufgrund des Namens „Süß“ seines Stiefvaters als Jude zu gelten, kann den späteren Fanatismus nur bedingt erklären. Gewiss war auch Heydrich selbst eifrig während der 1930er-Jahre nachzuweisen bemüht, dass er nichtjüdischer Abstammung sei, doch stellte auch dieses Bestreben, bei aller Brisanz, die diese Angelegenheit für sich beanspruchen durfte, letztlich nur einen Nebenstrang dar – allerdings einen Nebenstrang, aus dem sich posthum die Legende vom „dunklen Geheimnis“ des gefürchteten SD-Chefs konstruieren ließ: Nämlich das seiner jüdischen Abstammung, das ihn, in wahnwitziger Übersteigerung des jüdischen Selbsthasses, im Laufe der Jahre radikalisiert und fanatisiert habe. Auch davon könne laut Gerwarth jedoch keine Rede sein, und es mute überdies wie eine weitere Ironie der Geschichte an, dass ausgerechnet der jüdische Historiker Shlomo Aronson 1967 posthum den „Ariernachweis“ Heydrichs erbrachte – was jedoch Autoren wie Karl Dietrich Bracher und Joachim C. Fest nicht daran gehindert habe, in ihren Werken auch weiterhin vom Mythos des „Juden Heydrich“ verheißungsvoll zu raunen.

Zum Nationalsozialismus gebracht haben dürfte Heydrich mit Sicherheit erst seine Verlobte und spätere Ehefrau Lina von Osten, die, glühende Nationalsozialistin, zunächst mit Befremden feststellen musste, dass ihr Zukünftiger weder „Mein Kampf“ gelesen hatte, noch dessen Verfasser und Joseph Goebbels mit besonderem Respekt begegnete, sondern beide mit spöttischen Bemerkungen bedachte. Womöglich war die Aussicht auf beruflichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung nach dem unehrenhaften Scheitern seiner Marinelaufbahn die letzte realistische Chance, die sich Heydrich zu bieten schien, seinem Leben zu einer soliden Grundlage zu verhelfen. So oblag es ihm, allein durch die Lektüre von Spionageromanen qualifiziert, als Himmlers rechte Hand einen Sicherheitsapparat von tödlicher Effizienz zu etablieren.

Dass Heydrich im Berliner Nachtleben regelmässig bis zur Besinnungslosigkeit betrunken randalierte und zur allgemeinen Erheiterung anderer Kneipenbesucher, die ihn nicht erkannten, diesen mit dem KZ drohte, gehört laut Gerwarth ebenso ins Reich der Legende wie das Gerücht vom selbst von seinen Vorgesetzten gefürchteten, übereifrigen Beamten, der sogar über den Führer eine Akte mit möglicherweise belastendem Material angelegt habe. Wohl aber vernichtete Heydrich nicht alle Dokumente, von denen man ihm dies befahl, sondern legte sich in der Tat geheime Reserven an, auf die sich, wie im Falle der Affäre „Fritsch-Blomberg“, wirkungssicher zurückgreifen ließ.

Auch fürchtete Himmler, wie vielfach kolportiert wurde, Heydrich keineswegs – Gerwarth attestiert beiden durchaus so etwas wie freundschaftliche Nähe. Gleichwohl sei Himmler vor allem erleichtert darüber gewesen, dass Heydrich ins Protektorat „Böhmen – Mähren“ abkommandiert werden sollte, da sich so seiner rechten Hand persönliche Nähe zu und mutmaßlicher Einfluss auf Adolf Hitler verringerte und wieder zu seinen eigenen Gunsten verschöbe.

In Prag bot Heydrich, der den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz organisiert und die Wannsee-Konferenz geleitet hatte, ein Muster für spätere Klischeevorstellungen vom gebildeten Nazi. Einerseits spielte er Violine und Klavier, vergoss bei Mozart und Wagner Tränen und betrieb privat historische Studien über Wallenstein , den er als Wahrer des Reichsgedankens würdigte. Andererseits wurde er durch all’ dies nicht daran gehindert, zahllose Unschuldige ermorden zu lassen und sein bildungspolitisches Engagement im Bezug auf die tschechische Bevölkerung darauf zu fokussieren, dass diese künftig lediglich über ausreichende Intelligenz verfügen mochte, den Befehlen eines Deutschen Gehorsam zu leisten.

Bei einem Attentat, das Heydrich weitgehend unverletzt überstand, gelangten einige Kunststofffasern seines Rücksitzes in seine offene Wunde und lösten eine Blutvergiftung aus, die knapp eine Woche später zu seinem Tod führte. Die Racheaktionen des Regimes, das nun über einen weiteren Märtyrer verfügte, ließ nicht lange auf sich warten und traf sowohl Tschechen als auch Juden, die sich als eigentliche Drahtzieher des Anschlags dem deutschen Volke besser verkaufen ließen. Heydrichs Tod hinterließ in der Vernichtungsmaschinerie des „Dritten Reiches“ keine Lücke, die Endlösung konnte reibungslos weiterbetrieben werden, und da das Heldentum des rein juristisch gesehen als „braver Soldat“ gefallenen Reinhard Tristan Eugen Heydrich durch keine Verurteilung als Kriegsverbrecher geschmälert wurde, konnte seine hinterbliebene Frau erfolgreich die Zubilligung der Rente einer Generalswitwe für sich einklagen.

Gerwarth beschreibt sein Verfahren als „kalte Empathie“: Als Historiker sei er zu kritischer Distanz verpflichtet und dürfe nicht in die Rolle eines Anklägers verfallen, wenngleich die ohnehin für sich sprechenden Taten Heydrichs dies gewiss nicht leicht sich bewerkstelligen ließen. Durch die Verschränkung von „privater Lebensgeschichte“, „politischer Biographie“ und „Strukturgeschichte“ ist ihm ein gleicherweise faktengesättigtes wie auch fesselndes Zeitgemälde geglückt, das, ohne je reißerisch zu wirken, auf anschauliche und eindringliche Weise „Handlungsmotivationen, Strukturen und Kontexte“ sinnfällig werden lässt.

Titelbild

Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Udo Rennert.
Siedler Verlag, München 2011.
479 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783886808946

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