Eine Reise ins Tantenland

Vladimir Vertlib bricht „Schimons Schweigen“

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vladimir Vertlib „ist österreichischer Autor, Jude, in Russland geboren. Er hat Bücher zum Thema Migration und jüdische Identität geschrieben und ein paar weitere mehr.“ So wird Vertlibs Alter Ego dem Publikum seiner Lesung vorgestellt, dann folgt die Schilderung der eindrucksvollen Emigrations-Odyssee der Familie, die 1971 Leningrad verließ, als Vertlib gerade einmal fünf Jahre alt war, und die der Autor in seinem ersten Roman „Zwischenstationen“ aus kindlich-jugendlicher Sicht grandios beschrieben hat.

In „Schimons Schweigen“ begibt sich Vertlibs Alter Ego auf Lesereise nach Israel, er besucht zwischen seinen Lesungen Tanten und andere Verwandte, betrachtet die frühere Zwischenstation Israel nunmehr mit den Augen eines Erwachsenen. Schimon, der beste Freund des Vaters, hatte nach dem Krieg 15 Jahre geschwiegen, eine Postkarte mit Heldenplatzmotiv wurde mit einer von der Klagemauer und abermals 15 Jahren Schweigen beantwortet. Der unausgesprochene Heimat-Israel-Disput der beiden russischen Juden treibt den Protagonisten um. „Israel ist nicht irgendein Land“: Seine nähere Zuwanderungsgeschichte, die tägliche Terrorangst, die ausweglos erscheinende Zukunft und die Auseinandersetzung des russisch-jüdischen Autors aus Salzburg mit (s)einer Heimat, die er selbst als Fremde bezeichnet, sind die Themen des Romans.

Waren die „Zwischenstationen“ noch von einem unruhigen, ständigen Weiterziehen, einer Suche und oberflächlichen Hektik geprägt, so bleibt nun Zeit nachzudenken, genauer hinzuschauen, in die Tiefe zu gehen. Wieder wollen Menschen ihm Israel als Heimat, Vater- oder Mutterland aufzwingen, aber er ist alldem nun mehr als gewachsen, beobachtet, lebt und genießt das Leben zwischen den Kulturen. Der Leser erhält Einblick in die jüdische Kultur und Lebensweise und in die ganz spezielle Problematik Israels. Wie Juden, die in Russland nie Russen waren, es in Israel auf einmal nur noch sind. Wie er, „der ewige Jude im Hamsterrad“, es sich in Österreich „in der Rolle des sympathischen und netten Ausländers und Juden bequem eingerichtet hatte, ein Zuwanderer, den alle lobten, weil er sauberer war und besser Deutsch sprach als die türkischen Gastarbeiter“, einer der schwieg. Aber der Protagonist bricht dieses Schweigen, legt das angepasste Verhalten ab, entwickelt Gewaltfantasien gegen einen betrügerischen Wiener Immobilienmakler und wirbelt in der bürgerlichen Gesellschaft Österreichs den antisemitischen Staub auf.

Vertlib nutzt einmal mehr seine jüdische Identität, um die Anderen wie die Seinigen anzuklagen, wobei er, ganz nach Bedarf, beiden Lagern angehören oder sich von ihnen distanzieren kann. Er findet sprachlich ausgereifte, provokante Formulierungen: „Nur ein Diaspora-Jude mit Migrationshintergrund, der in einem Land wie Österreich lebt, kann einen Palästinenser wirklich verstehen.“ Er überrascht mit Ironie, absurden wie tragikomischen Erlebnissen und Bildern. Bei der kunstvollen Umsetzung der Idee einer die Lebensepisoden perspektivisch in sich einschließenden Lesereise, auf der der Autor nicht nur aus seinem neuesten Werk „Schimons Schweigen“ liest, sondern an dem er auch während der Reise schreibt, zeigt Vertlib, welche wunderbaren Möglichkeiten, bis hin zu sprachlicher Illusion, eine durchdachte Erzählstruktur bietet.

Das Thema des Romans mag nicht jeden gleichermaßen interessieren, die Art und Weise, die Form und die sprachlichen Mittel, die der Autor wählt, machen das Werk zu einem amüsant-aufregenden Lesegenuss. Vladimir Vertlib erzählt mehr, als Schimon hätte verschweigen können.

Titelbild

Vladimir Vertlib: Schimons Schweigen. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
269 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061842

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