„Vergegenwärtigen, was noch nicht da ist“

Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho untersucht die Macht von „Vorbildern“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 2001 machten in New Yorker U-Bahnstationen Plakate auf ein Britney Spears-Konzert aufmerksam. In der Zeit nach den Anschlägen sah man das Gesicht der Künstlerin auffallend oft verunstaltet; neben Zahnlücken oder Hitlerbärtchen standen Schmähungen wie „Amerikas Hure“ oder „Es ist vorbei“. Für Thomas Macho handelt es sich dabei um ein Beispiel für „Defacing“: der symbolischen oder tatsächlichen Zerstörung von Gesichtern als Form der Vorbild-Kritik. Viele sahen damals in Britney Spears eine Repräsentantin für all das, was falsch war an den USA.

Das Defacing zeugt gewissermaßen ex negativo von der Macht von Vorbildern. Diesen ist die im doppelten Wortsinn gewichtige Studie Machos gewidmet. Das deutsche Wort Vorbild zielt dabei gemeinhin auf normative Ideale, die herausragende Persönlichkeiten verkörpern sollen. Seltener begegnet es in seiner zweiten Bedeutung als Modell beziehungsweise antizipiertem Zukunftsentwurf. Dagegen unterscheidet das Englische zwischen „model“ und „example“, wie Macho betont.

Der in Berlin lehrende Kulturwissenschaftler beschäftigt sich verstärkt mit der zweiten, zunehmend zurückgedrängten Bedeutung. In 17 materialreichen, reich bebilderten Essays untersucht Macho das Phänomen des Vor-Bildes – also jenen Bildern, die das „vergegenwärtigen, was noch nicht da ist, als Entwürfe, Prophezeiungen, Befehle“ – in Abgrenzung zu dem der Erinnerung dienenden Nach-Bild, also dem Porträt. Bewehrt mit den Einsichten von Bild-Anthropologen wie Hans Belting oder Horst Bredekamp spannt Macho einen denkbar weiten thematischen Bogen: von den Höhlenmalern, die nur die selten zu sehenden Tiere verewigten, bis zu den Anthropotechniken Peter Sloterdijks, vom antiken Künstler Pygmalion und seiner zum Leben erweckten Elfenbeinstatue Galatea bis zu Claudia Schiffer.

Machos Buch will offenbar seinem Thema nicht nur inhaltlich, sondern auch formal entsprechen, so eindrucksvoll erscheint der von dem Karlsruher Gestalter Sahar Aharoni entworfene anthrazitglänzende Band von fast 500 Seiten mit seinem violettfarbenen seidigen Vorsatzpapier. Die kühle Perfektion des Buchdesigns steht jedoch im Widerspruch zum wuchernden Material, für das der Autor nicht immer die rechte Form findet: Ohne Furcht davor, der Leser könnte den roten Faden aus den Augen verlieren, folgt Macho jeder sich bietenden Gelegenheit zum seitenlangen Exkurs. Hinzu kommen noch unnötige inhaltliche Wiederholungen als Folge des Umstands, dass diese Publikation das Ergebnis einer Zusammenstellung von älteren Aufsätzen ist.

Der einleitende Befund Machos ist paradox: Einerseits würden (vorbildliche) Formen in der Gegenwart zunehmend bedeutungsloser werden, wie etwa die wachsende Regelunkenntnis in Sachen Orthografie belegt. Ebenso tendiere die Überzeugungskraft von Utopien und Zukunftsvorstellungen heute gegen Null, stattdessen werde die Gegenwart von einer Kultur des Erinnerns und Gedenkens beherrscht. Anderseits lebten wir in einer „vorbildsüchtigen Wirklichkeit“, träumen inzwischen auch Männer „in Zentimetern, und bei Bedarf wird verlängert oder vergrößert, was der Norm nicht zu genügen scheint.“

Doch der Aufstieg von Schönheitsidealen beruht primär auf medialen Effekten, wie Thomas Macho schlüssig aufzeigt. Der Weg ins Zeitalter der Brustvergrößerung und Bulimie wäre ohne die Erfindung von Fotografie und Illustrierten undenkbar gewesen. Wie sehr die Macht von Vorbildern häufig von Medien-Wirkungen abhängt, zeigt auch das Beispiel des unheimlichen „Werther-Effekts“: Unter den zeitgenössischen Lesern von Goethes Roman soll eine zweistellige Zahl von Selbstmorden auf die Wirkung des Schlusses zurückgegangen sein.

Der Dichter sah sich sogar genötigt, sein Werk um die Mahnung zu ergänzen: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ Was in der Goethe-Zeit eine Folge der bürgerlichen Leserevolution war, ermöglichen heute Nachrichten und Talkshows: Für Macho ist es nicht zuletzt die extensive Berichterstattung, die öffentlich zelebrierte Faszination für die Grenzüberschreitung, die zur Nachahmung verführt. So wurden nach dem Freitod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke 2009 deutlich mehr Schienensuizide registriert.

Inzwischen wurde in den Medien angesichts immer neuer Skandale und Rücktritte bereits eine „Krise der Vorbilder“ ausgerufen. Was Thomas Macho aber zu gefallenen Politikergrößen zu sagen hat, vermag nur teilweise zu überzeugen. Weil heute das Aufmerksamkeitsprivileg von den Eliten zum Volk gewechselt sei, weil es sich heute ein Politiker gefallen lassen muss, dass sein Tun und Lassen ständig beobachtet wird, glauben wir, ihn wie einen Freund zu kennen, so Macho. Eine „optische Täuschung“, wie sich in dem Moment zeige, wenn der Politiker bei einem Fehltritt ertappt und damit „plötzlich unheimlich fremd“ wird. Doch egal, ob es nun um, wie in Machos Beispiel, um einen Bordellbesuch geht, um eine plagiierte Doktorarbeit oder um Urlaubseinladungen aus der Wirtschaft – fremd werden einem Politiker mit solchen Fehltritten doch gerade nicht, sondern ganz im Gegenteil menschlicher, als dem Wähler lieb ist – zu menschlich offenbar, um noch als Vorbild zu taugen.

Titelbild

Thomas Macho: Vorbilder.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
480 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550302

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