Vorausschauender Rückblick

„Totalniy Futbol“ – ein Sammelband zur Fußball-EM 2012

Von Yvonne PörzgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Pörzgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fußball – ein Zirkus, ein Spektakel, ein Fest. Doch was passiert, wenn das Fest vorbei ist und der Zirkus weiterzieht? Was bleibt, im konkreten Fall, nach dem Ende der Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine?

Eine Erinnerung an das Spektakel wird der Sammelband „Totalniy Futbol“ sein, den der ukrainische Autor Serhij Zhadan im Suhrkamp Verlag herausgegeben hat. Er will die deutschsprachigen Leser auf eine „polnisch-ukrainische Fußballreise“ mitnehmen, wie der Untertitel erklärt. Doch wer wird noch auf diese Reise gehen wollen, wenn die 16 europäischen Teams wieder nach Hause gereist sind? Aktualität und Zeitgebundenheit sind Vor- und Nachteil des Bandes zugleich.

Zhadan versammelt für sein Projekt mit Essays und Erzählungen rund um den Fußball je vier AutorInnen aus Polen und der Ukraine. Viele davon sind in Deutschland bereits renommiert wie Paweł Huelle, Natasza Goerke und Juri Andruchowytsch. Die Autoren anderer Beiträge, Marek Bieńczyk zum Beispiel, sind auf dem deutschen Buchmarkt mit eigenständigen Publikationen noch wenig vertreten. Sechs der acht AutorInnen schreiben über die EM-Austragungsorte, in denen sie selbst geboren wurden: Huelle über Danzig, Natalka Snjadanko über Lemberg, Oleksandr Uschkalow über Charkiw. Nur Zhadan (Donezk) selbst und Andruchowitsch (Kiew) stellen hier Ausnahmen dar.

Im Vorwort „Menschen, die Fußball spielen“ gibt Zhadan an, das Jahr 1986 sei für ihn persönlich „das Jahr des allgegenwärtigen, allumfassenden Fußballs, des totalniy futbol“ gewesen: jeder hat sich für Fußball interessiert, war das Gesprächsthema Nummer eins. Die Euphorie im Land verschwand und tauchte erst 2006 wieder auf, als die Ukraine erstmals an einer Fußball-WM teilnahm. Zhadan geht so weit zu behaupten, Fußball ersetze „in diesem Land offenbar sehr erfolgreich die nationale Idee“.

So weit geht Paweł Huelle nicht. Am Anfang seiner Erzählung „Wie Herr Janek Legia Warschau besiegte“ liefert er erst einmal einen geografisch-historischen Überblick über die Besonderheiten der „Dreistadt“ aus Danzig, Sopot und Gdynia. Huelle ist bekannt für seine historischen Erzählungen und fügt auch in diese Fußballgeschichte mit Herrn Janek eine Figur ein, die sich an frühere Zeiten erinnert – in seinem Fall an den Zweiten Weltkrieg und das spätere sozialistische Polen.

Nostalgisch denken in Marek Bieńczyks „Der letzte Elfmeter“ Männer daran, wie und wo sie als Jugendliche in Warschau Fußball spielten. Die Clique ist inzwischen auseinandergefallen, aber wie das damals so war im alten Stadion Xlecia, das weiß noch jeder. Jetzt ist das Stadion zum modernen Nationalstadion umgebaut, mit dem keiner der früheren Bolzkumpels etwas anfangen kann. Mit dem Abriss des alten Stadions scheint die Jugend endgültig vorbei zu sein.

Natasza Goerke deckt in ihrem historisch-kultur-politischen Essay „Der Fußball und die polnische Frage (unplugged)“ alles ab, was der Ausländer über Polen, Posen und den dortigen Fußball zu wissen hat. Man erfährt, dass in Poznań das Einkaufszentrum Alte Brauerei 2008 als bestes Einkaufszentrum Europas ausgezeichnet wurde. Man lernt, dass im Zoo von Poznań vier Rentiere stehen, die vorher in Deutschland gelebt haben. Und Goerke verschweigt auch nicht, dass der erste Fußballklub in Poznań 1912 gegründet wurde.

Zum Teil bedienen die Texte auch die deutschen Klischees über Polen, etwa wenn Piotr Siemion in „S-L-A-S-K“ den Zugezogenen Trawiński sich an das Breslau der 1960er– bis 1980er–Jahre erinnern lässt: „Blinde Wände, weitläufige Plätze, darauf zwei desolate Autos beliebig abgestellt, abbröckelnde Flussufer, umgepflügte alte Friedhöfe. Nichts mit Beständigkeit, Tradition, Familiengräbern, stattdessen deutsche Gespenster, rachitische Wohnblocks, verfallende, überbelegte Altbauten mit Kohleöfen in den bruchstückhaft noch erhaltenen alten Stadtvierteln.“ Ein ähnliches Bild vermitteln die Fotografien von Kirill Golovchenko, die dem Band beigefügt sind: ein von Maulwürfen zerwühlter Fußballplatz, der verrostete Rahmen eines Fußballtors ohne Netz, grasüberwucherte Stadiontribünen. Aber auch: die neuen Fußballpaläste, Fans mit den Schals ihres Vereins, EM-Fanartikel in neumodischen Shops. Desolat oder Hochglanz, dazwischen scheint es nichts zu geben.

Natalka Snjadanko zitiert mit dem Titel ihres Essays „Karpaty hat wieder verloren“ das Lied der Lemberger Band „Braty Hadjukiny“. Der Text setzt sich mit der polnisch-ukrainisch-galizisch-sowjetisch-postsowjetischen Identität der Stadt Lemberg auseinander, Fußball spielt dabei nur eine anekdotische Nebenrolle.

Schon einmal von Loban gehört? Valeri Lobanowskyj? Legendärer Spieler, mal erfolgreicher, mal abgestiegener Trainer von Dynamo Kiew, der sowjetischen und später der ukrainischen Nationalmannschaft? In „Lobans Rechenkünste“ errichtet Juri Andruchowytsch um diesen charismatischen Fußballer ein philosophisches System, in dem das Chaos zerstörerisch ist, weil es Lobans Glauben an die „Herrschaft der Gesetzmäßigkeit“ vernichtet.

Oleksandr Uschkalow berichtet in „Fußballfabrik“ von einem Spiel Ukraine-Estland in Tallinn. Zwischendurch erinnert er sich an Spiele, die er in der Kindheit gesehen hat.

In „Schwarzes Gold der Hoffnung“ erstellt Serhij Zhadan die Taxinomie eines Fußballfans: Ein lauterer Mensch kann nur Fan seiner Heimatmannschaft sein. Er verschreibt sich voll und ganz Fortuna. Ein wahrer Fan feuert nicht immer nur den ewigen Champion an.

Gemeinsam ist vielen Texten die Auseinandersetzung mit den Stadien, die nicht selten als störende Fremdkörper empfunden werden. Piotr Siemions Trawiński etwa sagt über das „nagelneue“ Stadion in Wrocław nur: „Rausgeschmissenes Geld!“. Bleibt zu beobachten, wie sich die Menschen nach der EM-Feuertaufe mit der teuersten Seifenschale der Welt (Natasza Goerke über das Stadion in Poznań), dem unbekannten Flugobjekt (Bieńczyk/Warschau) und der Sahnetorte (Siemion/Wrocław) in ihren Städten arrangieren werden.

Für Fußball interessiert man sich in Deutschland eigentlich immer, für Polen und die Ukraine mal mehr, mal weniger. Wenn dort etwas Unerhörtes passiert wie die Orangene Revolution 2004 oder der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine 2010, blicken die Deutschen gen Osten. Ansonsten richtet sich die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit eben bei Großveranstaltungen auf ein Land, ein Phänomen, das von Aktivisten dazu genutzt wird, auch Politisches ins Scheinwerferlicht zu ziehen. Das war 2012 beim Eurovision Song Contest in Aserbaidschan der Fall. Wer interessiert sich hierzulande sonst schon für die Menschenrechtsverletzungen in diesem Land, wer hätte vor der Fernsehshow „Unser Star für Baku“ den Namen seiner Hauptstadt gekannt? So ist es auch bei der Fußball-EM 2012 in der Ukraine. Über Julia Timoschenkos Gefängnishaft und ihren schlechten Gesundheitszustand wäre kaum so ausführlich berichtet worden, wären zu der Zeit nicht gerade die letzten Vorbereitungen für die EM gelaufen.

Wie steht es mit dem Interesse für Land und Leute? Zur Vorbereitung zeigten die Reiseteile großer Zeitungen Schönes und Widersprüchliches in Lemberg, Kiew und Breslau. Der „Spiegel“ lieferte ein Online-Quiz zur Landeskunde und klärte über Umgangsformen und Aberglauben auf. Wie viel bleibt davon in Erinnerung?

In den Austragungsländern herrscht während der EM Ausnahmezustand im positiven Sinn, doch im Anschluss droht wieder die Ernüchterung. Das ist auch Zhadan klar: Wenn die Spiele vorbei sind, gehen mit ihnen auch „die vieltausendstimmigen harmonischen Gesänge, die Verbrüderung und der Glaube an die eigenen Kräfte.“ Genau deswegen hat er aber sein Buchprojekt mit Schriftstellern durchgezogen. Sportjournalisten können bessere Prognosen aufstellen, treffender kommentieren: „Aber sie spüren selten, was passiert, wenn das Spiel zu Ende ist“ „Totalniy Futbol“ zeigt das Begeisterungspotential für Fußball in Polen und der Ukraine. Dieses Potential bleibt auch nach der EM vorhanden. Und deswegen lohnt es sich, auch nach dem Abpfiff im Finale von Kiew Zhadans Sammelband zur Hand zur nehmen.

Serhij Zhadan: Totalniy futbol. eine polnisch-ukrainsche Fußballreise.

Titelbild

Serhij Zhadan: Totalniy futbol. eine polnisch-ukrainsche Fußballreise.
Übersetzt aus dem Polnischen und Ukrainischen von Lisa Palmes.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
242 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518062166

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