Mitte Europas

Das Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte sucht „Deutschland in der Imagination seiner Nachbarn“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 40, 2012 erschienen, nimmt das Deutschland-Bild der deutschen Nachbarstaaten ins Visier. „In elf Beiträgen, die als Fallstudien gelesen werden können, wird ausgelotet, wie ‚die Deutschen‘ in den Augen einiger ihrer Nachbarn wahrgenommen werden. Die geografischen und demografischen Dimensionen Deutschlands, seine ökonomische und militärische Macht, sein hoher gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungsstand, die geopolitische Schlüsselposition in der Mitte Europas wie auch seine imperialen und nationalen Aspirationen und Aggressionen erlaubten es seinen unmittelbaren Nachbarn und auch weiter entfernten Nationen zu keinem Zeitpunkt, Deutschland zu ignorieren.“ So José Brunner und Iris Nachum, die Herausgeber, im Vorwort des Bandes.

„Fallstudien“ bedeutet, dass teils recht spezifische Einzelaspekte mitteleuropäischer Geschichte zu einem sammelbandtypischen buntscheckigen Ganzen zusammengefügt wurden. Die Auswahl der Themen will eher originell als repräsentativ sein. Ein Handbuch zu Deutschland-Wahrnehmungen ist nicht beabsichtigt, und die vage Gruppierung der Beiträge in „Aufbrüche – Unklarheiten – Ambiguitäten“, „Klärungen – Fixierungen – Konsolidierungen“ und „Erinnerungen – Vermittlungen – Erzählungen“ ist wenig geeignet, Übersicht zu gewährleisten. Dennoch wird jedem der Anrainer, bis hin zu Luxemburg, zumindest ein Beitrag gewidmet. Nur Dänemark fehlt.

Teils greift die Betrachtung in die Vergangenheit aus. So werden „Slowenisch-deutsche Beziehungen“ im Habsburger Reich (Marta Verginella) dargestellt, und die politische Indienstnahme tschechischer Stereotypen vom Deutschen als Nazi und Okkupator während der 1940er– und 1950er–Jahre (Christiane Brenner). Als aufschlussreich erweisen sich Vergleiche: Thomas Serrier setzt Frankreichs Blick auf den ‚barbarischen‘ Osten, Deutschland, in Beziehung zum Blick der Deutschen auf Polen. Mathias Seiter vergleicht die Situation deutscher Juden in den kaiserzeitlichen Provinzen Elsass-Lothringen beziehungsweise Posen.

Die Rolle des armen Bruders reicherer Nachbarn, des ‚Wirtschaftsflüchtlings‘ und ‚Gastarbeiters‘, zumal des Opfers fremdenfeindlicher Aggressionen, haben Deutsche während der vergangenen Jahrzehnte selten gespielt. Seit kurzem füllen sie just diese Rolle aus – in der Wahrnehmung einiger Schweizer. Georg Kreis’ Aufsatz über „schweizerische Medien“ und die „Deutschenfrage“ stellt, empirisch fundiert, Wanderungsbewegungen aus Deutschland in die Schweiz während der Jahre 2007 bis 2010 dar sowie deren mediale Verarbeitung und Überhöhung. Mit wünschenswerter Präzision werden ideologische Voreinstellungen beteiligter Medien, Gebote politische Korrektheit und deren Unterhöhlung, demagogische Redeweisen und historische Reminiszenzen, die Nazizeit betreffend, auseinandergesetzt. Debatten um die „Überfremdung“ Schweizerischer Universitäten durch deutsches Lehrpersonal und Peer Steinbrücks deftigen Einlassungen über die Geschäftspraktiken Schweizerischer Banken wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. Auch Interventionen von Seiten der Schriftsteller und Intellektuellen werden rekapituliert. In Thomas Hürlimanns Fall haben sie eher verschärfend gewirkt, im Fall Franz Hohlers, Urs Widmers und Peter von Matts eher ausgleichend. Letzterer wird folgendermaßen zitiert: „Ich kenne viele Schweizer, sympathische und weniger sympathische, aber von keinem habe ich je gedacht, er sei ein typischer Schweizer. Und mit den Deutschen geht es mir gleich.“

Komödiantische Qualitäten zeigt Heidemarie Uhls durchaus seriöser Beitrag über österreichische Deutschland-Wahrnehmungen zwischen 1945 und 1995, Zweitem Weltkrieg und EU-Beitritt. Der Gegenstand selbst gibt dies vor, denn Selbstdarstellung und Selbstexkulpation eines Nachfolgestaats des „Großdeutschen Reichs“, der sich beharrlich, teilweise bis heute, als „erstes Opfer“ deutscher Aggression begreift, zeugen von eminentem schaustellerischem Ingenium.

Die meisten Beiträge wurden in deutscher Sprache verfasst, einige auf Englisch. Die sprachliche Qualität ist goutierbar, unidiomatische Ausdrucksweisen begegnen recht selten. Fußnoten tragen sorgfältige Quellennachweise bei. Die graphische Darstellungsform ist ansprechend geraten, als Schrifttyp wurde die Stempel Garamond gewählt. Fotografien und Karikaturen lockern das Erscheinungsbild des Bandes auf. Richtungweisende Wegmarken der Forschung werden nicht gesetzt. Wer aber an selten beachteten, teils kuriosen Episoden mitteleuropäischer Mentalitätsgeschichte – und deren Wirkungen bis in die Gegenwart – interessiert ist, wird „‚Die Deutschen‘ als die Anderen“ mit einigem Gewinn studieren.

Titelbild

José Brunner / Iris Nachum (Hg.): "Die Deutschen" als die Anderen. Deutschland in der Imagination seiner Nachbarn.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
310 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309869

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