Kunststoff und Naturfaser

Viola di Grados Debütroman „Siebzig Acryl, dreißig Wolle“ erzählt von Kleidern aus der Mülltonne, von fotografierten Löchern und chinesischen Schriftzeichen – und vom Erzählen

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Städte, die führen ein eindrucksvolles zweites Leben in der Literatur, Paris zum Beispiel, Venedig natürlich, auch Berlin darf in diese Reihe gestellt werden. Das nordenglische Leeds gehörte bisher nicht dazu. In Leeds herrscht immer Winter, das Licht ist fahl und gelblich, und die Straßen scheinen sich alle im Irgendwo unwirtlicher Slums aufzulösen. In Kindertagen schon ist die Heldin von Viola di Grados Roman „Siebzig Acryl, dreißig Wolle“ von ihren Eltern aus der norditalienischen Heimat in diese Tristesse verpflanzt worden, und mit einundzwanzig Jahren steht sie nunmehr vor einem eindrucksvoll zerrütteten Leben.

Camelia Mega, so ihr Name, hat vor drei Jahren ihren Vater verloren, der mit dem Auto und seiner englischen Geliebten im Straßengraben verunglückt ist. Camelias Mutter hat daraufhin von einem Tag auf den anderen ihren Beruf als Flötistin und das Sprechen aufgegeben, verlottert in ihrem eigenen Dreck und lässt sich lediglich noch von Löchern in allen Darbietungsformen faszinieren, die sie abfotografiert. Camelia selbst hat ihr Chinesisch-Studium an den Nagel gehängt, hält sich mit dem Übersetzen von Gebrauchsanweisungen für italienische Waschmaschinen über Wasser und streunt ansonsten durch die trübe Stadt, in der der Winter nicht aufhört und in der sie Kleider aus Mülltonnen an den Straßenrändern zieht.

Über ein solches Kleid aus dem Müll lernt sie Wen kennen, einen Chinesen, der zusammen mit seinem Bruder einen kleinen Laden in einem der vielen nicht gerade anziehenden Viertel der Stadt betreibt. Er erkennt das weggeworfene Kleid aus dem eigenen Geschäft wieder, und es beginnt zwischen den beiden etwas, das in anderen Romanen eine Liebesgeschichte geworden wäre, in di Grados trostloser Welt aber nur in die Enttäuschung münden kann. Wen bringt der abgebrochenen Sinologiestudentin die chinesischen Schriftzeichen bei, mehr will er aber nicht. Für die körperlichen Bedürfnisse bietet sich Wens geistig schlichter Bruder Jimmy an, mit dem Camelia gleichzeitig eine Affäre beginnt. Das führt alles zu nichts, es ist irgendwann zu Ende. Wen zieht sich zurück, und Jimmy teilt beiläufig nach dem Orgasmus mit, dass er im Chat ein Mädchen kennengelernt habe, das fortan an Camelias Stelle treten soll.

Erfolgreicher scheint Camelia mit ihrem Vorhaben zu sein, ihre apathisch Löcher ablichtende Mutter zurück ins Leben zu führen. Sie kann sie zu einem Fotografiekurs überreden. Dort verliebt sie sich in den Lehrer, und so wird Camelia auch hier zurückgesetzt, ein anderer tritt an ihre Stelle. Beim Versuch, Camelia vom Selbstmord mit dem Teppichmesser abzuhalten, stürzt der neue Liebhaber der Mutter über eine Mauer in die Tiefe und stirbt. Ein wenig hat die Enttäuschte nachgeholfen. Mutter und Tochter sind am Ende wieder zu zweit allein, wie nach dem Tod des Vaters. Es ist und bleibt Winter in Leeds. Egal, welcher Monat auf dem Kalender steht.

Nein, Viola di Grados Roman ist keine Milieustudie, ist auch nur ein bisschen ein abgründiger Spätpubertätsroman und erst recht kein Generationsbuch für die um 1990 Geborenen. Auch wenn die Autorin selbst um 1990 geboren wurde, wenn sie selbst asiatische Sprachen studiert hat und, wenn auch viel später, von Italien nach Großbritannien gezogen ist. So viel Autobiografisches muss wohl sein, schon aus Verkaufsgründen beim Debüt einer Anfang Zwanzigjährigen. Die Romanpremiere der Autorin, 2011 in Italien und nun auch auf Deutsch erschienen, ist zuerst und vor Allem ein ziemlich sprachmächtiges Stück Literatur.

Auf allen Registern spielt di Grado, die Bilder und Szenen aus dem öden Leeds werden mit genussvoller Übertreibung, dennoch aber in stets gelungenem und ganz eigenem Tonfall in Sprache gefasst. Selbstverständlich dürfen jugendliche Wildheit und Tabubrüche nicht fehlen; Kotze, Blut und Sperma fließen in Strömen im Roman – aber Viola di Grado spielt eben mit alledem, lässt es zur Attitüde werden, vielleicht auch hier und da zur Manier. Doch diese Gesten und Manierismen bilden zusammen ein weidlich gelungenes Ensemble zwischen Lakonik und ungestümer Bilderflut. Oder besser und viel passender: Sie werden zu einem Text, und was ein Text ist und welche Bedeutungen sich mit dem Begriff verbinden, das weiß auch die Autorin und das weiß schon der Titel.

Text heißt Gewebe, und di Grados Roman ist mit „Siebzig Acryl, dreißig Wolle“ beziehungsreich betitelt. Reichlich Künstliches, dazu dann aber eine gute Portion Naturstoff – wenn das heißen soll, das bei allem artistischen Spiel mit der nordenglischen Trübsinnigkeit im Kern ein dramaturgisch wie sprachlich überzeugendes Erzählen auszumachen ist, dann passt der Titel bestens. Denn Erzählen kann die Autorin, und souverän wird auch das textile Motiv wieder aufgenommen in der Geschichte. Camelia zerschneidet ihre aus dem Müll gezogenen Kleider wieder und wieder und setzt sie neu zusammen, näht aus ihnen eigentümliche, bizarre Gebilde. Mit der gleichen Schere aber schneidet sie, die zwischen dem empfindsamen Wen und dem dauererregten Jimmy Stehende, sich Zeichen in die Oberschenkel. Es sind die chinesischen Schriftzeichen, die sie in den Stunden mit dem nicht erreichbaren Geliebten gelernt hat. Zeichen, Schrift und Text – mit leichter Hand und gekonntem Griff wird aus der Story über den trüben Winter in Leeds zugleich eine lockere Etüde über postmodernes Erzählen. Auch das geht auf und fügt sich in das gelungene Ganze.

So darf man der Autorin mit vollem Recht einen beeindruckenden Einstieg ins literarische Leben attestieren – mit ihrem Erstling hat sie inzwischen in Italien gehörig reüssiert und den renommierten „Premio Campiello“ für das beste literarische Debüt erhalten. Der Preis ist verdient, und die ihm gebührende Aufmerksamkeit ist dem Roman nun auch in der deutschen Übersetzung zu wünschen.

Titelbild

Viola di Grado: Siebzig Acryl, dreißig Wolle.
Übersetzt aus dem Italienischen von Judith Schwaab.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
254 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873879

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