Größte Tragödie der italienischen Arbeitsmigration

Mario Desiati war einer der Anwärter des wichtigsten italienischen Literaturpreises Premio Strega. Jetzt liegt auch sein Buch „Ternitti“ in einer exzellenten Übersetzung vor

Von Katrin SchmeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Schmeißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Mario Desiati 2003 (geboren 1977 in Locorotondo) seinen ersten Roman „Neppure quando è notte” veröffentlichte, veränderte das sein Leben entscheidend, da es ihn mit Personen aus dem italienischen Verlagswesen zusammenführte. In diesem Kontext ergab sich ebenfalls die Zusammenarbeit mit dem Autor und Intellektuellen Enzo Siciliano bei der renommierten Literaturzeitschrift „Nuovi Argomenti“ (derzeit unter der Leitung Dacia Marainis), wo er – wie er selbst formuliert – „sich das Metier abzuschauen versuchte“. Denn: „Ein möglicher Reifeprozess bedarf dieses Kontextes und der persönlichen Beziehungen.“ Ab 2004 war er für Mondadori tätig und ist derzeit Chefredakteur bei Fandango.

Seither publizierte er „Vita precaria e amore eterno“ (2006), „Il paese delle spose infelici“ (2008), „Foto di classe. U uagnon se n’asciot“ (2009), mehrere Gedichtsammlungen und schreibt für die überregionale, bedeutende Tageszeitung „La Repubblica“. Zudem war er für die Edition einiger, jungen Autoren gewidmeten Anthologien verantwortlich. Den sich angesichts der Vielzahl an verfassten und von ihm herausgegebenen Texten einstellenden Eindruck, dass er nun längst kein Newcomer mehr in der literarischen Szene ist, vermitteln auch die Würdigungen seines Schaffens. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem Premio per l’impegno e la letteratura civile Paolo Volponi, dem Premio Europeo Narrativa Giustino Ferri-Lawrence und dem Premio Mondello per la narrativa italiana. Mit seinem 2011 veröffentlichten Roman „Ternitti“ gelang ihm der Aufstieg unter die letzten fünf Nominierten für den diesjährigen Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis des Landes.

Bereits der Titel dieses Buches, der auf die Asbestzement herstellende Firma Eternit verweist, aber auch „Dach“ bedeutet, öffnet den Raum für das Sujet: Angesiedelt zwischen 1970 und 2010, verfolgt das vielschichtige Werk die Themenstränge einer individuellen Entwicklung sowie einer problematischen Auswanderung im Zusammenhang mit der Arbeitssituation. En détail erzählt Desiati den Lebenslauf von Domenica Orlando, Mimì genannt, einem träumerischen Mädchen mit viel Fantasie und jungenhaften Kaprizen, ihre ärmliche Kindheit zwischen Schule und dem Meer, die Emigration der Eltern, Bauern, nach Niederurnen in der Schweiz, wo sie lange in einer ehemaligen Glasfabrik notdürftig mit anderen Zuwanderern aus der Basilikata, Sizilien, Kampanien, Apulien leben und die Mutter als Schneiderin, der Vater in der Asbestproduktion arbeitet.

Auf eine kurze Liebe der nunmehr 15-jährigen zu Ippazio folgt – allein mit Kind – die Rückkehr in die Heimat, wo sie ihren Lebensunterhalt mit Fabrikarbeit verdient. Mehr als ein Jahrzehnt später der erweist sich die Arbeit der ehemaligen Emigranten jedoch als fatal: 2000 Einwohner der Kommune Capo di Leuca erkranken und sterben zum Teil an den Spätfolgen der Staublungenkrankheit Asbestose. Unter ihnen befindet sich Domenicas Vater. Doch während sie ihre Tochter großzog, bleibt sie innerlich jung: Im entscheidenden Moment erhebt sie sich aus den Niederungen ihrer Existenz. Von diesem einprägsamen und eindringlichen Plot profitiert der mit einer chronologischen Aneinanderreihung von Momentaufnahmen beziehungsweise Situationen (durch die Patronatsfeste in Kapitel gegliedert) insgesamt souverän gesetzte, stringente Roman.

Im Vordergrund steht mit der Protagonistin eine deutlich gezeichnete, couragierte, unsentimental-entschiedene, auch solidarische Frauenfigur des Meridione, die – einem archaisch-vitalen, leidenschaftlichen Lebensprinzip folgend – kraftvoll gegen die Zwänge des sozialen und kulturellen Status quo ankämpft. Gerade die Forcierung eines authentischen Sachverhaltes mittels einer fiktiven unbeugsamen Frauenfigur macht den Text zu engagierter Literatur – die nicht mehr mit traditionell nüchternem Sozialrealismus aufwartet, sondern durch ein latent märchenhaftes Element durchbrochen wird. Verstärkt wird es in dem weitestgehend umgangssprachlich gehaltenen Text durch eine Fülle an Adjektiven und Metaphern, die den Sätzen Ausdrucksstärke geben und dem – durch das Überwiegen von Prosa gekennzeichneten Werk – einen bildhaft-intensiven (manchmal fast schon zu pathetischen oder: dem Kitsch nahen) Erzählstil verleihen.

Aufgrund dieser Akzentsetzungen hebt sich der Autor deutlich von literarischen Vorbildern wie Pier Paolo Pasolini und Pier Vittorio Tondelli, aber auch von der schriftstellerischen Tradition Süditaliens mit Giovanni Verga, Luigi Pirandello und Leonardo Sciascia ab. Vergleichbar ist er vielmehr mit Davide Enia, der mit „Così in terra“ (ebenfalls für den Premio Strega vorgeschlagen) eine ähnliche thematische Konfliktlage aufgriff und den Süden ebenfalls als Erfahrungsmosaik, als letzte Heimat zeigt.

Augenmerk verdient die nun vorliegende Übersetzung ins Deutsche von Annette Kopetzki: Bestechend die gewissenhafte Nähe zum Original in der Syntax, vor allem aber eine ausgesprochen gelungene, virtuose Ausdifferenzierung des sprachlichen Registers. Dadurch wird insbesondere der poetische, streckenweise betont sinnliche Charakter des Romans fassbar. Außerdem führt ein versierter Umgang mit Wortneuschöpfungen und dialektalen Textstellen zum Eindruck einer insgesamt sensiblen, sehr gut lesbaren, fast schon „dynamischen“ Übertragung. Dem Leser ermöglicht das eine bereichernde, informative wie gleichzeitig emotional fesselnde Lektüre.

Dass sich der Autor, die Übersetzerin und der Verlag dieser – bisher kaum wahrgenommenen – größten Tragödie der italienischen Arbeitsmigration angenommen haben, ist auf jeden Fall zu begrüßen.

Titelbild

Mario Desiati: Zementfasern. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 20120.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132444

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