Die deutscheste der Künste und der deutscheste der Stoffe

Tim Lörke legt eine kenntnisreiche Studie zur deutschen Mentalitätsgeschichte vor und bietet Einblicke in die verhängnisvolle Selbststilisierung des deutschen Bildungsbürgertums

Von Frank WeiherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Weiher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Thomas Mann 1943 mit der Niederschrift des „Doktor Faustus“ beginnt, sitzt der im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller auch über seine eigene kulturelle Leidenschaft zu Gericht: Seine lebenslange Liebe zur deutschen Musik steht für Thomas Mann insoweit auf dem Prüfstand, als dass er den Verquickungen von deutscher Kultur und Nazibarbarei nachgeht. Es ist die Idealisierung der deutschen Musik, die, spätestens im Kaiserreich, den Deutschen zu Kopfe stieg und sie nun in gleich zwei Weltkriegen nach der Weltherrschaft greifen ließ. Dies schildert eindrucksvoll, manchmal verworren, aber stets zu Recht dämonisch beklemmend Thomas Manns Roman. Der 2006 von Hans Rudolf Vaget in der Einleitung zu „Seelenzauber“ geforderte mentalitätsgeschichtliche Deutungsansatz für den „Doktor Faustus“ war ohnehin längst überfällig.

Lörke macht in seiner Dissertation „Die Verteidigung der Kultur. Musik und Mythos als Medien der Gegenmoderne“ keinen Hehl daraus, wen die hauptsächliche Verantwortung dafür trifft, dass die deutsche Kultur in jene Barbarei ungeahnten Ausmaßes umschlagen konnte: das deutsche Bildungsbürgertum. Ihr kollektives Bewusstsein verdankt sich, wie der Autor im einleitenden Kapitel schlüssig darlegt, eben nicht den tatsächlichen Früchten deutscher Kultur, sondern einer idealisierten Zuschreibung von Seiten des Bürgertums, das einleuchtend von der weltoffenen Bourgeoisie abgegrenzt wird. Die Antwort auf die Frage, was nun die Musik, als deutscheste der Künste, mit dem Faust, dem deutschestem der Stoffe, gemeinsam hat, bleibt Lörke dem Leser nicht schuldig: Musik, als außersprachliches Medium, der seit der Romantik „Übervernunft“ zugesprochen wird, ist der Zuschreibung und hierdurch der Instrumentalisierung letztlich schutzlos ausgeliefert. Gleiches gilt für den „Faust“ Goethes: bis zur Unkenntlichkeit verworren ist die Frage nach der Schuld des Helden, dem Ausgang der Wette, um die es Goethe am Ende nicht mehr ging, und schließlich wird ja auch Faust, mag er nun schuldig sein oder nicht, rehabilitiert und erlöst; kein Wunder, dass es nur wenige kümmert, dass „der deutscheste der Männer“, so Lörke, über Leichen geht. So weist der Autor auch zu Recht auf die, übrigens brillante, Studie von Michael Jaeger „Fausts Kolonie“ (2003) hin, in der zum ersten Mal Fausts Gigantomanie, stringent und textsicher, ausschließlich in einem schlechten Licht gesehen wird. Dieser Umstand alleine wäre Beweis genug für Lörkes These, dass die Kultur des kollektiven Bewusstseins sich nicht der akribischen Philologie, sondern der Zuschreibung von Seiten des Bildungsbürgertums verdankt. Kultur als identitätsstiftendes Leitbild für Nationen ergibt sich nicht aus den Werken, sondern daraus, was man aus ihnen macht oder machen kann. Mit Blick auf den Begriff der deutschen Leitkultur, der ja ebenfalls aus dem bürgerlichen Lager kommt, erweist sich Lörkes Befund, der sich eigentlich auf die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Arbeit am „Doktor Faustus“ (1947) bezieht, als überraschend aktuell. Und, auch wenn der Autor in diese Richtung nicht weiter reflektiert, ergibt sich hieraus ein konsequentes Plädoyer für eine textgenaue Philologie und kulturwissenschaftliche Arbeit, die es mit den Werken selbst wieder genauer nimmt.

Zwar stehen in Lörkes Studie mit Ferruccio Busonis „Versuch einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ und „Doktor Faust“, Hans Pfitzners „Palestrina“ und Hanns Eislers „Johann Faustus“ nicht gerade die künstlerischen Highlights des Zwanzigsten Jahrhunderts im Zentrum der Dissertation und nehmen sich neben Thomas Manns „Doktor Faustus“ – dem nun aber doch der größte Teil der Untersuchung zukommt – natürlich ziemlich schmalbrüstig aus, aber die Auswahl ist eben insoweit konsequent, als dass alle Werke die Verknüpfung von Musik und Faust-Stoff tatsächlich zum Inhalt haben. Lörke bleibt dem gewählten Ansatz und der erarbeiteten Unterscheidung von Werk und Zuschreibung treu; andernfalls wäre eine Arbeit über Faust und Musik, die alles fasst, was das Bildungsbürgertum je unter den Begriff des Faustischen gebracht hat, eine uferlose Qual geworden – nicht zuletzt für den Leser. Dieser kann sich übrigens über einen aussagekräftigen und treffsicheren Schreibstil freuen; Lörke kapriziert nicht, flüchtet auch nicht in akademische Attitüden zum Schutz vor inhaltlicher Armut. Selbst die akademische Pflicht- und Fingerübung, der einleitende Methodenteil, kommt ausgesprochen flüssig daher, was sicherlich zu einem gut Teil dem Umstand geschuldet ist, dass der gewählte methodische Ansatz hier schlüssig und einleuchtend gewählt ist.

Prüfstein einer Dissertation wie der vorgelegten, in der weit über 100 Seiten Thomas Mann und insbesondere dessen „Doktor Faustus“ gewidmet sind, ist natürlich der Umgang mit diesem, eben auch bedeutendsten, Gegenstand der Untersuchung. Die beinahe unüberschaubare Fülle an Sekundärliteratur zu Thomas Mann und seinem späten Roman, muss berücksichtigt und – idealerweise – auch noch gewinnbringend zu Rate gezogen werden. Lörke gelingt beides, da er den Forschungsstand zur Kenntnis nimmt, aber nicht dem Fehler unterliegt, Stereotypen zu wiederholen; so wird seine Dissertation nicht zu dem, wovon sie handelt: Zuschreibung. Mit seinen Verweisen auf Hans Rudolf Vaget, Dieter Borchmeyer und Volker Mertens – Ruprecht Wimmer fehlt – zieht Lörke die Forscher zu Rate, die in den letzten Jahren den detailgetreusten Blick auf das Thema ‚Thomas Mann und die Musik‘ gerichtet haben, und darüber hinaus gelingt es ihm, in diese sehr fruchtbare Richtung weiter zu denken. So schildert der Autor etwa Thomas Manns Verhältnis zu Theodor W. Adorno im Rekurs auf Vaget sehr kenntnisreich und macht auf die unüberbrückbaren Differenzen zwischen dem Autor und seinem musikalischen Berater erneut aufmerksam. Dass Mann nicht nur einen berühmten Abschreibfehler in Adornos Analyse von op. 111 Ludwig van Beethovens hinein gefuscht hat, wie immer wieder betont wird, sondern diese Analyse bewusst durch das Erdichten einer Abschiedsgeste in op. 111 dem Konzept des Romans unterwirft und somit schon von Adornos Weltanschauung – die am Ende des „Faustus“ zum Bruch führte – abrückt, wirft ein interessantes Licht auf Manns Verfahren bei der Wiedergabe von Musik in seinen Werken.

Wahrscheinlich hätte Lörke es sich einfacher machen, und als einen der Hauptverantwortlichen für die verhängnisvolle Verquickung von deutscher Musik und deutscher Politik Richard Wagner herausstellen können. Die Hasstirade, die ein gewisser Holzschuher im „Doktor Faustus“ angesichts der Tatsache vom Stapel lässt, dass man das Vorspiel der „Meistersinger“ in einem Konzert mit Berlioz spielt, hätten hierzu wohl Anlass genug geboten. Wagnerkenntnis und philologische Genauigkeiten bewahren den Autor jedoch vor dieser Fehleinschätzung und auch davor, das Verhältnis Manns zu Wagner schlechter zu machen, als es de facto war. Das ständig bemühte Lied, Mann betrachte Wagner stets mit der Skepsis Friedrich Nietzsches, pfeift Lörke nicht mit; trotz solider Kenntnis, im Endeffekt aber natürlich wegen ihr, zeigt der Autor zum Teil sogar einen erfrischend neuen Blick auf Nietzsche und Wagner, als wichtige Bestandteile des sogenannten ‚Dreigestirns‘.

So zeigt Lörke etwa, dass Nietzsches Kritik am Künstler Wagner diesen für Mann noch attraktiver machte, da der synthetische Aspekt seiner Kunst ihn in die Nähe von Manns Arbeitsweise rückt. Auch für Leverkühn weist er dieses Verfahren nach, so dass der Komponist als Künstler ‚up to date‘ geschildert wird. Allegorie oder Symbol – müßige Frage – für Hitlerdeutschland ist Leverkühn so im eigentlichen Sinne beides nicht mehr.

Der wahrscheinlich größte Pluspunkt bei Lörkes Auseinandersetzung mit Mann und dem „Doktor Faustus“ besteht aber wohl darin, dass der Verfasser Manns vermeintliche Wandlung von unpolitischen Ästheten zum politisch verantwortlichen Autor genauer unter die Lupe nimmt, als dies dann doch bisher der Fall war; übrigens auf erstaunlich wenigen Seiten. Für Lörke rückt Mann nicht von seiner Idee der Kultur ab, oder modifiziert diese enorm, sondern er erweitert diesen Kulturbegriff lediglich um Aspekte der zivilisierenden Vernunft. Das klingt bescheiden, trifft aber erstaunlich gut den Kern, um den es Mann geht. Für den „Doktor Faustus“ nutzt Lörke das hierdurch gewonnene Potential gut. Denkt man es in Richtung anderer Romane weiter, wie „Zauberberg“ oder „Joseph und seine Brüder“, springt ins Auge, dass sich dieser Ansatz nicht, wie die Ansätze, die Mann einen strikten Humanismus unterstellen, an den Werken beißt.

Hiermit ist auch schon das größte Manko von Lörkes Studie angesprochen: der Blick, ja selbst der Seitenblick, auf Manns Gesamtwerk bleibt überraschend mager. Zwar wurde dieser auch nicht versprochen, und der gewählte Ansatz legt die vorgenommene Einschränkung nahe, dennoch hätte er der Studie nicht geschadet, sondern sie bereichert. Geschadet hätte dieser Blick ihr nicht, weil er die Thesen nicht widerlegen würde; bereichert hätte er sie, weil er sie stützt.

Positives Gegenstück zum Bildungsbürgertum ist nach Lörke für Thomas Mann und Adrian Leverkühn das Volk. So zeigt Frau Schweigestill denn auch mehr Verständnis für Adrian als der Humanist Zeitbloom. Erklärt nicht dieser Umstand schon Leverkühns Liebe zum Vorspiel zum dritten Aufzug der „Meistersinger von Nürnberg“? „Nürnberg als ästhetischer Staat“ (Borchmeyer) ist auch zeitlebens ein unerreichtes Ideal für Mann, der einen primär politischen Staat dann doch nie wollte.

Für die Gegenwart, aber auch schon für die BRD des geteilten Deutschlands, diagnostiziert Lörke, dass es kein Bildungsbürgertum mehr gebe. Dies ist nach der Lektüre kein pessimistischer Blick, sondern dann doch eher ein zu optimistischer, und so kann der Rezensent dem Autor in dieser Hinsicht nicht zustimmen.

Titelbild

Tim Lörke: Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne ; Thomas Mann - Ferruccio Busoni - Hans Pfitzner - Hanns Eisler.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
305 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826039348

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch