Von der Einbürgerung bis zur Ausrottung

Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1600 - 1945

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz nach der Gründung des Leo-Baeck-Instituts vor fünfundvierzig Jahren, entschloss man sich dort, eine umfassende Geschichte der deutschen Juden für die Zeit von 1600 bis 1945 zu erstellen. Indessen verging mehr als eine Generationenspanne, bis das Ziel erreicht wurde und die "Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit" erscheinen konnte. Doch die Forschungsarbeiten in den einzelnen Arbeitszentren des Instituts, in Jerusalem, London und New York sowie in der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in Deutschland, gehen heute noch weiter.

Trotz der erdrückenden Realität des Holocaust, der die deutsch-jüdische Geschichte auf tragische Weise beendete, waren die Autoren - alles namhafte Wissenschaftler - darauf bedacht, die historischen Entwicklungen nicht aus der Perspektive der Shoah zu betrachten, um den Blick auf frühere Hoffnung nicht zu verstellen. Aber auch sie kamen nicht umhin, die Tragweite des Antisemitismus zu bedenken, der, solange Juden in deutschen Ländern lebten, hier stets präsent war.

Am Anfang des vierbändigen Werks stehen die Juden noch abseits von ihrer nichtjüdischen Umgebung. Ihre Geschichte verläuft noch in den überkommenen Bahnen, bis dann im 18. Jahrhundert allmählich ihre politische und kulturelle Integration in die deutsche Gesellschaft einsetzt.

Acht Themen werden in jedem Band behandelt: Demographie, politischer und rechtlicher Status, sozio-ökonomische Struktur der jüdischen Gesellschaft, Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, jüdische Familie und Gemeinde, jüdische Religion und Kultur sowie der Anteil der Juden an der Gesamtgesellschaft und der allgemeinen Kultur. Aber auch Sujets, die oft sträflich vernachlässigt werden, haben die Wissenschaftler in Augenschein genommen, wie etwa die Rolle der jüdischen Frauen und die der Landjuden.

Der erste Band behandelt nach einem umfangreichen Prolog, der die frühaschkenasische Kultur und Gemeinde und die späteren Vertreibungen von Juden im Gefolge der Kreuzzüge skizziert, die Geschichte der deutschsprachigen Juden von Anfang des 17. Jahrhunderts, in dem wichtige demographische und politische Entwicklungen das jüdische Leben aus mittelalterlichen Zuständen nach und nach in die Moderne überführten, bis hin zur jüdischen Aufklärung. Das Buch endet am Vorabend des langwierigen jüdischen Emanzipationsprozesses, der dann im zweiten Band im Mittelpunkt steht. Im ersten Band wird unter anderem die Aufnahme der Juden in Brandenburg-Preußen geschildert, ferner das Aufkommen der Hofjuden, ihre Funktion in Wirtschaft und Politik, die Judenpolitik im 18.Jahrhundert und vor allem die erste Etappe der jüdischen Aufklärung, der Haskala, die mit dem Auftreten von Moses Mendelssohn einsetzte. Sie brachte zwar keine revolutionäre Wende hervor und übte auch noch keine unmittelbare tiefgreifende Wirkung auf die Lebenspraxis der Juden aus, gleichwohl bewirkte sie eine Gärung im geistig-kulturellen Bereich. Die jüdische Kultur wurde nun pluralistischer, und die hebräische Sprache, die bisher allein "heiligen Zwecken" gedient hatte, entwickelte sich Schritt für Schritt zu einer Sprache des säkularen Wissens. In diese Zeit fallen die Anfänge der modernen hebräischen Literatur.

Der zweite Band informiert über die Jahre von 1780 bis 1871: über das Einsetzen der Emanzipation mit den Toleranzpatenten Josephs II., gefolgt vom preußischen Judenedikt von 1812, er informiert über die liberale Judenpolitik in den französisch beherrschten deutschen Territorien, die Rückschläge in den politischen Krisenjahren 1819 mit den sogenannten "Hep-Hep-Unruhen" und die Konflikte im Vormärz. Der lange Weg der jüdischen Emanzipation fand schließlich 1871 mit der Übernahme der 1869 im Norddeutschen Bund gesetzlich geregelten Gleichstellung der deutschen Juden in die Reichsverfassung ihren Abschluss.

Diese Entwicklung vollzieht sich freilich nicht isoliert. Wie insgesamt in Deutschland wandelt sich die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung und damit auch ihre religiöse und kulturelle Situation. Wirtschaftlicher Erfolg, rechtliche Gleichstellung und sozialer Aufstieg kennzeichneten für die meisten jüdischen Familien mehr als andere Veränderungen den Übergang von der feudalen Welt in die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft.

Der problematischen Aneignung der deutschen Kultur in jüdischen Familien wird ebenfalls viel Raum gewidmet. Während die Aufklärung Mendelssohn und einige seiner Schüler auf den Weg der Philosophie geführt hatte, zog nun das herrschende Bildungsideal zu Beginn des 19. Jahrhunderts viele Juden zur Literatur und zu den darstellenden Künsten.

Der dritte Band umfasst die Zeitspanne von der Reichsgründung 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Die Juden sind jetzt zwar im Besitz der lang ersehnten rechtlichen Gleichstellung, doch mit der völligen Integration in die deutsche Gesellschaft hapert es weiterhin. Sobald sozioökonomische Probleme auftauchen, werden diese wie eh und je Juden angelastet. Zudem formiert sich in politischen Verbänden und Parteien eine neue Judenfeindlichkeit, die sich nicht selten rabiat rassistisch äußert. Trotzdem zogen sich die Juden nicht aus der Öffentlichkeit zurück. Im Gegenteil, gerade Juden haben für die deutsche Gesellschaft und Kultur, sowohl in der Kaiserzeit als auch später in der Weimarer Republik, viel getan. Sie bildeten kulturelle Zentren in Wien, Prag und Berlin, wurden Schriftsteller und Literaturkritiker, betätigten sich in der Musik, in den bildenden Künsten, in den Wissenschaften oder wirkten als Mäzene. Für jüdische Gelehrte, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler war die spätere Kaiserzeit geradezu ein "Goldenes Zeitalter", in dem sie weltweite Reputation erwarben. Gegenüber inneren Gefahren blieben Juden gleichfalls nicht untätig und gründeten 1893 zur Abwehr des Antisemitismus den "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens".

Ganz offensichtlich hatten nach der Gründung des Deutschen Reiches die meisten Juden in Deutschland ihre Rückständigkeit bald hinter sich gelassen und waren nun überwiegend bürgerlich, gebildet und verhältnismäßig säkularisiert. Aber nur wenige waren wirklich reich. Es gab weiterhin Inseln der Armut, hauptsächlich im Süden und im Osten Deutschlands.

Der vierte Band behandelt den relativ kurzen Zeitraum von der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, also von 1918 bis 1945. Die Weimarer Zeit bot Juden neue gesellschaftliche und kulturelle Chancen. Aber auch sie wurde von widersprüchlichen Tendenzen bestimmt. So wurde die fortschrittlich-liberale Politik der zwanziger Jahre immer wieder durch Kräfte der Reaktion in Frage gestellt. Dennoch erlebte die Weimarer Republik eine außerordentliche Blüte jüdischen Gemeinde-, Religions- und Kulturlebens in Deutschland. Zuversichtlich sprachen Juden schon von einer "Renaissance des Judentums". Aber der Antisemitismus blieb ungebrochen und bereitete mit den Boden vor für die Machtergreifung der Nazis. Diese setzten sofort alle Hebel in Bewegung, um die Emanzipation der Juden rückgängig zu machen. Rigoros beendeten sie deren Teilhabe am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben Deutschlands. Obwohl die Juden ins soziale und politische Ghetto zurückgezwungen wurden, ging, unter der Ägide der Reichsvertretung der deutschen Juden und durch Gremien wie den Jüdischen Kulturbund und die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung, ihr organisatorisches, kulturelles und geistiges Leben unter den harten und zunehmend restriktiven Bedingungen dieser Jahre weiter, mehr noch, in gewisser Hinsicht gewann jüdisches Leben neue Tiefe und Kraft. Ernst Simon nannte jene Zeit sogar eine Epoche "des geistigen Widerstandes" gegen die Tyrannei. Aber die Nazis haben Juden nicht nur ausgegrenzt und entrechtet, sondern auch systematisch verfolgt und brutal ermordet. Im Epilog werden kurz die unterschiedlichen Schicksale der Juden in der Nachkriegszeit gestreift.

Beeindruckend ist in allen vier Bänden, die mit zahlreichen, gut ausgewählten Abbildungen und Karten, Literaturhinweisen, Zeittafeln und Registern ausgestattet sind, die Fülle sorgfältiger Recherchen und fundierter Kenntnisse. Sie werden lebendig und verständlich vermittelt und bieten einem breiten Publikum wichtige Orientierungen zur deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit. Da viele Autoren an dem Werk beteiligt waren, wirken die Bände insgesamt etwas uneinheitlich und unausgeglichen, was ihre Qualität indessen keineswegs mindert.

Titelbild

Michael Brenner / Steffi Jersch-Wenzel: Emanzipation und Akkulturation 1780-1871.
Verlag C.H.Beck, München 1996.
402 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397034

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Titelbild

Mordechai Breuer / Michel Graetz: Tradition und Aufklärung 1600-1780.
Verlag C.H.Beck, München 1996.
390 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397026

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Avraham Barkai / Paul Mendes-Flohr: Aufbruch und Zerstörung 1918-1945.
Verlag C.H.Beck, München 1997.
420 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397069

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Titelbild

Steven M. Lowenstein / Paul Mendes-Flohr: Umstrittene Integration 1871-1918.
Verlag C.H.Beck, München 1997.
428 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397042

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