Es ist genug

Letzte Gedichte von Wisława Szymborska

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am ersten Februar dieses Jahres ist Wisława Szymborska 88jährig gestorben. Wenige Monate später erschien in Polen ein Band unter dem Titel „Wystarczy“ (Es ist genug), der die letzten 13 Gedichte der Nobelpreisträgerin von 1996 versammelt. Nun ist dieses poetische Vermächtnis der grande dame der polnischen Lyrik bereits auf Deutsch erhältlich. Der Verlag hat diese Gedichte zusammen mit zwei weiteren Bänden sowie zwei Einzeltexten aus früheren Jahren in einem schönen Band zusammengeführt. „Glückliche Liebe und andere Gedichte“ wurde noch gemeinsam mit Wisława Szymborska geplant, wie wir dem Klappentext entnehmen können.

Zumindest in chronologischer Hinsicht umreißt dieser Band gewissermaßen das Alterswerk der Dichterin. Er umfasst nämlich auch die beiden vorangegangenen Bände „Doppelpunkt“ und „Hier“, die im polnischen Original 2005 beziehungsweise 2007 erschienen sind. „Glückliche Liebe und andere Gedichte“ zeigt uns allerdings keineswegs eine unbekannte Wisława Szymborska – die Dichterin hat sich in ihrem letzten Lebensjahrzehnt nicht neu erfunden. Im Gegenteil: Wer Szymborskas früheres Werk auch nur in Auswahl kennt, dem tritt das lyrische Ich dieser Gedichte entgegen wie eh und je. Man findet auch in diesen Texten die zentralen Themen und den typischen Stil dieser Autorin wieder.

Vielleicht könnte man als Szymborskas ganz großes Thema dasjenige der conditio humana bezeichnen. In ihren Texten seziert die Dichterin immer wieder den Menschen, oder genauer ausgedrückt: das Menschsein. Mit gleichermaßen philosophischem wie soziologischem Blick erkundet sie beharrlich das, was den Menschen zum Menschen macht, was ihn charakterisiert und bestimmt. Dabei bleibt sie selbst stets der Menschlichkeit verpflichtet. Bei all dem Bedenklichen und Fragwürdigen, das sie am Menschen und an dessen Taten diagnostiziert, scheint die Dichterin doch davon überzeugt zu sein, dass wir letztendlich wohl doch in der besten aller Welten leben – trotz ihrer Schwächen. Diesen Schluss legen zumindest zahlreiche Gedichte nahe, in denen die Dichterin ganz bewusst andere Möglichkeiten bedenkt und durchdekliniert, wo sie Alternativen prüft und auslotet, was ebenso gut hätte sein können. So tastet sich ihr lyrisches Ich etwa im Gedicht „Es gibt welche, die“ an Menschen heran, die ein vermeintlich perfektes Leben führen – doch gelingt ihnen dies nur unter Preisgabe des Zweifelns, dem sie niemals erliegen: „Sie denken soviel, wie sich lohnt, / keinen Augenblick länger, / denn hinter dem Augenblick lauert der Zweifel.“ Solche Menschen kommen zwar glatt und erfolgreich durchs Leben; tauschen möchte das lyrische Ich mit ihnen allerdings nicht: „Manchmal beneide ich sie / – das geht zum Glück vorüber.“ Gerade in solchen Momenten wird aber auch deutlich, dass es Szymborska nie einfach nur um den Menschen an sich, den abstrakten Menschen, geht. Stellvertretend für die Autorin forscht das lyrische Ich ihrer Gedichte gerade auch nach dem je eigenen Menschsein, nach der eigenen Biographie, nach dem, was das „Ich“ überhaupt ausmacht. Eine besondere Sympathie zeigt Szymborska andererseits auch für jene Menschen, die nicht im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen, für die niemand sonst ein Auge hat, die Einsamen und Vergessenen („Jemand, den ich“).

Natürlich umfasst Szymborskas Befragung des Menschen auch Themen wie Liebe („Auf dem Flughafen“) und Tod („Interview mit Atropos“). In vielen anderen Gedichten wiederum erweitert die Lyrikerin ihren Blick auf die gesamte Schöpfung: Dann nimmt sie bisweilen die Perspektive eines Tiers ein (etwa im „Monolog eines ins Zeitgeschehen verwickelten Hundes“) oder versucht, sich die Befindlichkeit einer Pflanze zu vorzustellen. Selbst Dingen begegnet sie mit erhöhter Aufmerksamkeit: „Ich weiß nicht, wie es sonstwo ist, / aber hier auf der Erde gibt’s von allem recht viel. / Hier produziert man Stühle und Wehmut, / Scheren, Geigen, Zärtlichkeit, Transistoren, / Staudämme, Scherze, Tassen.“ Szymborska nimmt Gegenstände ebenso ernst wie Lebewesen, ihr Blick auf das Leben und die uns umgebende Realität ist von einem weiten Horizont geprägt und ihr Urteil fällt vielleicht gerade deshalb nachsichtig, ja liebevoll, stets großzügig aus. In „Bekenntnisse einer lesenden Maschine“ lässt Szymborska einen Computer über Ausdrücke wie „Seele“ oder „ich bin“ räsonieren – und als Lesende freuen wir uns heimlich mit, wenn die „Maschine“ offenkundig an ihre Grenzen stößt. Zum Stichwort Seele fällt dieser nämlich nichts weiter ein als: „Vorläufig habe ich festgelegt, es sei eine Art Nebel, / angeblich dauerhafter als sterbliche Organismen.“ Auch in diesem Gedicht wird letztlich wieder etwas Tröstliches über den Menschen ausgesagt: Die Maschinen mögen unser Leben immer stärker dominieren, doch bleibt die Genugtuung, dass der Mensch letztlich vielleicht gerade dank seiner Seele etwas weniger sterblich – vor allem aber: um einiges lebendiger – ist als ein Computer.

Ihre Gedichte würzt Szymborska fast durchgehend mit leisem Humor oder milder, verschmitzter Ironie, hier und da aber auch mit einer Prise Nachdenklichkeit, einem nachsichtigen Lächeln und einer Spur Lebensweisheit. Bei all dem bleibt die Dichterin jedoch verständlich: Die Themen ihrer Gedichte treffen den Nerv der Zeit, indem sie wesentliche existentielle Fragen stellen. Szymborska drückt sich dabei in einer Sprache aus, die offensichtlich vielen Menschen einen Zugang erlaubt: Beide Aspekte vermögen sicher ein Gutteil der Popularität der Lyrikerin – auch außerhalb Polens – zu erklären.

Eine erfahrene Autorin wie Szymborska interessiert sich ganz selbstverständlich auch für die eigene Arbeit. Das Nachdenken über das Schreiben und ganz besonders über dessen Produkt selbst – das Gedicht – ist eine weitere Konstante im Werk der Autorin. Nur in frühesten Gedichten hatte Szymborska noch Reime und klassische Strophen verwendet. Später verzichtete sie ganz auf Reime, und Strophen dienen seitdem nur noch der Gliederung ihrer Gedichte. Ansonsten dominiert ein Stil, den man in mancher Hinsicht als prosaisch bezeichnen könnte. Das Poetische selbst hat sich deshalb nicht einfach zurückgezogen; es ist nach wie vor im Unerwarteten und Überraschenden zu finden, etwa wenn die Dichterin Wörter nebeneinander platziert, deren Nachbarschaft frappieren muss, oder wenn das lyrische Ich einen ungewohnten Blickwinkel auf die geschilderten Dinge, Menschen und Begebenheiten einnimmt, der neue Assoziationen ermöglicht.

Als Übersetzer der Gedichte zeichnen Karl Dedecius und Renate Schmidgall. Leider wird im Band nirgends genauer angegeben, wer von den beiden denn nun welche Übersetzung beigetragen hat. Da einige Textes des Bandes „Doppelpunkt“ aber bereits früher in einer von Dedecius besorgten Gedichtauswahl auf Deutsch erschienen sind, darf man wohl vermuten, dass die Übertragungen der beiden neueren Bände „Hier“ und „Es ist genug“ Renate Schmidgall zu verdanken sind. Man kannte und schätzte Renate Schmidgall bisher vorwiegend als Übersetzerin von polnischer Prosa, doch in neuster Zeit wagt sie sich vermehrt auch an Lyrik – neben Wisława Szymborska überträgt sie etwa Piotr Sommer, Maciej Niemiec und zuletzt auch Adam Zagajewski. Karl Dedecius hat sich zweifelsohne größte Verdienste bei der Vermittlung polnischer Lyrik im deutschsprachigen Raum erworben, und diese Leistung soll hier keineswegs geschmälert werden. Zugleich hat Dedecius aber auch einen gewissen eigenen Ton etabliert, an dem man seine Übersetzungen oft erkennen konnte. Es ist daher nur zu begrüßen, wenn gerade auch bislang mehrheitlich von Dedecius übertragene Autoren wie Adam Zagajewski und Wisława Szymborska im Deutschen nun eine weitere Stimme bekommen.

Wenn Wisława Szymborska ihren letzten Gedichtband mit „Es ist genug“ überschreibt, so mag dies auf den ersten Blick Überdruss und Resignation, ja Todessehnsucht ankünden. Doch Szymborska ist eine optimistische Dichterin, und so begegnet man in diesen Gedichten viel eher einem altersweisen Lächeln: Es ist, wie es ist – und es ist gut.

Titelbild

Wisława Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte.
Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
103 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423141

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