Das Wohnen in den Untiefen der Sprachen

Yoko Tawadas Hamburger Poetikvorlesungen „Fremde Wasser“

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2011 erhielt Yoko Tawada als Erste die Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik. In diesem Rahmen hielt sie drei Vorlesungen, die jetzt in dem Band „Fremde Wasser“ veröffentlicht wurden, zusammen mit siebzehn Beiträgen, die auf eine die Dozentur begleitende wissenschaftliche Tagung zurückgehen.

In einem vorgeschalteten Interviewteil, wählt Yoko Tawada das Wasser als alle drei Vorlesungen zusammenhaltendes Motiv, das sie als „Zwischenraum“ bezeichnet, als das verbindende Element zwischen den Ufern von Sprachen und Kulturen. Wasser wird hier als interkulturelle Scharnierstelle gelesen, an der sich Sprachbeziehungen, Sprachverwendungen und Sprachaneignungen zeigen. Ungewöhnlich aber für diese Poetikvorlesungen ist die Verweigerung, das eigene Schreiben direkt zu verhandeln. Yoko Tawada entscheidet sich für einen Umweg, indem sie vor allem anhand der historischen Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen Japan und anderen Nationen das spannungsreiche Verhältnis zwischen Kulturaustausch, Wissenstransfer und der Verteidigung des Eigenen behandelt. Gegliedert ist die Vorlesungsreihe in drei Etappen, die Yoko Tawada eng mit der Geschichte der ökonomischen wie kulturellen Öffnung Japans verknüpft. Jede Vorlesung ist nach einer japanischen Insel betitelt, die Landungsort fremder Völker war. Die historische Zeitspanne erstreckt sich vom frühen 16. bis hin zum 21. Jahrhundert.

Die erste Vorlesung ist der Insel Tanegashima gewidmet, auf der die ersten Europäer auf japanischem Boden landeten. Tawada stellt anhand kleiner Begebenheiten und Erlebnisse fest, dass es die Sprachen sind, die uns einen Zugang zur Welt ermöglichen und unser Verhältnis zur Welt prägen. Jede Sprache biete ihren jeweiligen nativen Sprechern ein anderes Weltverständnis. „Heute noch fällt es mir psychisch schwer, Wörter wie ,Rüssel‘, ,Maul‘, ,Schnauze‘ oder ,Pfote‘ zu benutzen. Ich fühle mich dann von der Tierwelt abgeschnitten.“ Es geht Yoko Tawada hier zunächst um die Irritationen der Sprache, um „ethnozentristische“ Denkmuster, die so stark in den Hirnstrukturen verankert sind, dass man auch nach Jahrzehnten von der erlernten Fremdsprache irritiert wird.

Als wichtigen Bezugspunkt zieht Tawada Roland Barthes’ „Das Reich der Zeichen“ hinzu, in dem er schreibt, „Osten und Westen“ seien keine Realitäten, und demnach auch nicht „historisch, philosophisch, kulturell oder politisch anzunähern oder entgegenzusetzen“. Dieser Aussage entnimmt Tawada die Quintessenz, dass man zwar „provisorische Trennwände“ ziehen müsse, um Differenzierungen überhaupt erst vornehmen zu können. Gleichzeitig aber, und das ist es, worauf es Tawada ankommt, müssen diese Wände sofort wieder eingerissen werden, weil die Differenzen eben nicht real sind. Tawada versucht, das Barthes’sche Verfahren in ein Bild zu gießen, sie stellt sich die Realitäten als verschiedene Wasser vor, als flüssige Medien, die zwitterhaft sind, nämlich substantiell und zugleich indifferent. Haben sich mehrere Wasser erst einmal vermischt, sind sie nicht mehr zu unterscheiden: Die Differenzen sind aufgehoben, die Realitäten verschwunden.

Weitergeführt wird das Bild des Wassers im Saft der Gurke, den Tawada wieder bei Barthes aufgreift, und sagt, „[d]as Flüssige [sei] der Übergang, kein Ziel“ hin zur Realität. Hierin mündet Yoko Tawadas erste greifbare poetologische Aussage, dass sie, vermittelt durch Barthes’ Lektüre der japanischen Kultur, gelernt habe, „nicht immer im Bild des Wassers zu bleiben, sondern immer wieder auf etwas Zählbares zurückzugehen, wie zum Beispiel auf die Spinnenbeine“, und damit auf etwas unterscheidbares, etwas unvermischtes.

Die erste Annäherung an so etwas wie eine interkulturelle Poetik, die Yoko Tawada in ihrer ersten Vorlesung formuliert, basiert darauf, dass das Eigene auch und zu allererst durch den Blick des Fremden verstanden werden kann. Es handelt sich hier um einen doppelten interkulturellen Übersetzungsprozess: Barthes liest die japanische Kultur, und Barthes’ Lektüre des ihm Fremden, das aber Tawadas eigene Kultur ist, liefert Tawada erst die Möglichkeit, die eigenen Prägungen als ethnozentristische wahrzunehmen und damit auch poetologisch zu reflektieren.

Die zweite Vorlesung, nach der Insel Dejima betitelt, thematisiert den interkulturellen Wissensaustausch. Yoko Tawada schreitet in der historischen Beschreibung dessen, was die Öffnung Japans zur Welt ist, weiter voran ins 17. Jahrhundert, wenn jetzt die Niederlande in Japan ankommen. Die neuen Besucher waren nicht darüber verärgert, dass ihnen bald nach ihrer Ankunft bis auf die kleine Insel Dejima das übrige Japan versperrt blieb, vielmehr gewöhnten sie sich in ihrem kleinen abgeschirmten Lager auf Dejima ein und begründeten dennoch eine fruchtbare Handelsbeziehung mit Japan, gerade weil sie, die Niederländer, nicht die kulturelle Souveränität Japans in Frage stellten.

Diese Gegenseitigkeit, die vor allem ein Agieren zweier zivilisierter Nationen auf Augenhöhe war, kontrastiert Yoko Tawada mit der etwa zeitgleichen Kolonisierung Südafrikas durch eben jene Niederlande. Dort wurden die Ureinwohner mit harter Hand massiv unterdrückt, ohne die dortige Kultur als gleichwertig anzuerkennen. Eine rigide Sprachpolitik unterdrückte die heimischen Sprachen, so dass sich nach und nach Afrikaans als vom Niederländischen abgeleitete Sprache entwickelte. Tawadas Punkt an dieser Parallelführung ist das Aufdecken einer gewissen Doppelmoral: Japan war nämlich auch eine Imperialmacht, die Südkorea und China als Kolonien betrachtete und sehr stark unterdrückte. Zugleich aber pflegte Japan mit dem Partner aus der Ferne, der europäischen Imperialmacht Niederlande, eine fruchtbare Handelsbeziehung, die für beide Seiten vorteilhaft war. Weniger der Austausch von Waren war das Movens dieser Beziehung, vor allem der Austausch von kulturellem und technischem Wissen war Gegenstand dieser Beziehung.

Als Japan schließlich erlaubte, dass auch europäische Bücher nach Japan importiert werden durften, entspann sich zudem ein reger Austausch von heimischen und fremden Wissenschaftlern, Übersetzungen entstanden und befruchteten nicht nur den japanischen Wissensdiskurs. Als erste Werke wurden anatomische und medizinische Abhandlungen ins Japanische übertragen, mit der Erkenntnis, dass das Körperbild der Europäer sich diametral vom japanischen unterschied. Mentalitätsgeschichtlich war es in Japan und Asien tabuisiert, den Körper zu öffnen. Die Europäer nun hatten ein Wissen vom Inneren des Körpers, das die japanischen Forscher faszinierte.

Die Öffnung, die Tawada historisch beschreibt, ist eine langsame, behutsame und auch gelenkte, denn der Zugang zur japanischen Gesellschaft war für Fremde stark reglementiert und auch die Japaner durften die Insel Dejima nur in Ausnahmefällen betreten. Das, was gemeinhin als Isolationszeit Japans gesehen wird, war nichts anderes als eine gelenkte, strategische Öffnung, die ausschließlich den Niederländern vorbehalten war. Bestrebungen Englands oder auch der USA wurden vehement abgelehnt.

In ihrer zweiten Vorlesung beschreibt Yoko Tawada also die unterschiedlichen Motivationen, die interkulturellen Begegnungen unterliegen können. Diese werden in zwei Extremformen dargestellt: Kolonialismus und Wissenstransfer. Ist der Kolonialismus beziehungsweise Imperialismus bestrebt, andere Kulturen zu unterdrücken und auszubeuten, setzt der Wissenstransfer darauf, beide Seiten voranzubringen. Aber aus beiden politischen Strategien können schließlich auch künstlerische Artefakte entstehen, die die eigene beziehungsweise fremde Kultur bereichern.

In ihrer dritten Vorlesungen schließlich, betitelt nach der Insel Uraga, auf der erstmals die Amerikaner anlandeten, spannt Tawada den Bogen allmählich in die Gegenwart hinein, indem sie davon erzählt, wie Japan von den Amerikanern unter Druck gesetzt wird, sich auch dem Handel mit Amerika zu öffnen. Sukzessive wurde das Schreckgespenst einer möglichen militärischen Intervention inszeniert.

Yoko Tawada parallelisiert diese historische Dimension erneut mit einer anderen, nämlich der Literarisierung dessen, was man im weitesten Sinne mit nationalen Stereotypen bezeichnen kann. Zunächst geht Tawada von einer historischen Figur aus, der Geisha Okichi, die „ein moderner Mythos in Japan“ sei und die unter anderem bei Brecht und einem japanischen Autor namens Yamamoto im Zentrum künstlerischer Bearbeitungen steht. Mit der Wahl Okichis als dramatis persona ist bereits die drohende Gefahr des amerikanischen Imperialismus in den jeweiligen Stücken installiert. Die Geisha Okichi wurde abgestellt, dem ersten amerikanischen Konsul als Krankenschwester zu dienen. Die Folgen für Okichi waren schwerwiegend, denn sie wurde durch ihren Kontakt zu dem Ausländer aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Und doch wurde ihre Geschichte zu einem nationalen Mythos. Dank Okichi wurden die schwierigen Beziehungen zwischen Amerikanern und Japanern gemildert, gerade weil Okichi offenbar die fremden Gesten zu lesen verstand, und durch ihr stummes Verstehen konnte auch der Konsul die Japaner als menschlich erleben. Als er genesen war, soll er den Japanern gegenüber freundlicher gesonnen gewesen sein.

Puccini schließlich macht in seiner „Madame Butterfly“ ebenfalls eine Geisha, Cho-Cho-San, zur zentralen Handlungsfigur, die einen amerikanischen Offizier heiratet. Dieses Bündnis ist zwar für die Frau ein dauerhaftes, aber für den Amerikaner nicht, denn es war durchaus üblich, eine Ehe in Japan einzugehen, die mit dem Verlassen des Landes aufgelöst war. Doch selbst die fast vollkommene Aufgabe der eigenen kulturellen Wurzeln, die Abkehr vom eigenen Glauben und die Konversion zur christlichen Lehre, die Verstoßung von den Eltern, all das wird nicht helfen, den Amerikaner zu halten. Cho-Cho-San wird Selbstmord begehen. Und genau darin sieht Yoko Tawada einen Bruch, denn „[z]weihundert Jahre lang starb keine einzige Geisha für einen niederländischen Geliebten“. Der Bruch darin ist einerseits das Leugnen historisch verbürgten Verhaltens, Geishas heirateten mitunter mehrmals, andererseits ist es der eurozentrische Blick Puccinis, der der Geisha keine andere „Wahl“ lässt.

Yoko Tawada zeigt mit diesen Vergleichen vor allem, wie sich historisch sehr differenzierte Gemengelagen in einer künstlerischen Umsetzung vereindeutigen, Fronten zwar klar hervortreten, damit aber das historische Bild auch zu Gunsten einer Partei verschieben. Die Fremden werden bei Brecht, Yamamoto und Puccini durchweg negativer dargestellt als es die historischen Zeugnisse nahelegen. Tawada zeigt damit auch, wie fremde Stoffe in die westliche Kultur übersiedeln, nämlich durch die lange Geschichte interkultureller Beziehungen. Wären nicht die Portugiesen, die Niederländer und später die Amerikaner gewesen und hätten auf ihre je eigenen Weise Einfluss auf Japan ausgeübt, hätte es Okichi/Cho-Cho-San nie in Stücke europäischer Dramatiker geschafft. Oder, wie Yoko Tawada schreibt: „Nur mit amerikanische Hilfe war es möglich, eine Geisha zur Heldin zu machen.“

Angekommen im 21. Jahrhundert, bei der Erdbeben- und Reaktorkatastrophe in Fukushima des März 2011, stellt sich Yoko Tawada die Frage, ob in der anschließenden Flucht so vieler Ausländer aus Japan, eine „zweite Epoche der Isolation“ beginnt. Doch sie verneint diese Frage vehement, „weil das Meerwasser die Welt in einer einzigen Kugel zusammenhält“. Zwar können die Menschen fliehen und Japan kann sich isolieren, aber „[d]as verseuchte Wasser bleibt nicht an einer Stelle“. In der Welt des 21. Jahrhunderts ist Isolation nicht nur eine verfehlte Politik, sondern auch vollkommen unmöglich, weil fremde Wasser in jeder Sekunde an unsere Küsten branden.

Will man nun versuchen, die disparaten Element dieser drei Poetikvorlesungn zu verstehen, also abseits der oberflächlichen Gliederung, das lesen, was Tawada hier als interkulturelle Poetik einem zu lesen gibt, dann wäre es wohl das Wohnen in den Sprachen. Das Leben in den Sprachen, das Erleben von Sprachen, das Einleben in Sprachen und auch das Ausleben von Sprachen als Aneignung fremder Kulturen, wird immer wieder in anderen Konstellationen durchgespielt und scheint eine der Grundbewegungen dieser drei Vorlesungen zu sein. Der Titel „Fremde Wasser“ meint in dieser Perspektive das Eintauchen in die Sprachen, das Sich-hineinwagen, das Einleben in die fremden Wasser der Sprachen und Kulturen.

Neben den drei Vorlesungen, die gut hundert Seiten umfassen, ist der größte Teil des Buches „Fremde Wasser“ den wissenschaftlichen Beiträgen vorbehalten, die hier aber im einzelnen nicht näher behandelt werden können. Sämtliche Beiträge aber, siebzehn an der Zahl, widmen sich sehr differenziert dem vielfältigen Werk Yoko Tawadas und können und sollen als Kommentare zu den drei Vorlesungen verstanden werden. Viele Punkte werden deutlich, die Tawada selbst nur streifen kann. Eine Vielzahl der Beiträge widmet sich dezidiert dem Wasser beziehungsweise dem Maritimen in Yoko Tawadas Werken, so etwa Hansjörg Bay, Andrea Bandhauer, Ottmar Ette oder Ortrud Gutjahr. Und Aspekte wie Interkulturalität (Michaela Holdenried), Transkulturalität (Julia Genz) oder Schriftmetaphoriken (Monika Schmitz-Emans) werden in Teils mehreren Aufsätzen ausführlich behandelt. So entsteht in dieser besonderen Konstellation von Poetikvorlesung und wissenschaftlichen Beiträgen ein spannendes, umfangreiches und das Werk Tawadas umfassend verknüpfendes Buch, das auch gestalterisch hervorsticht und in seiner ganzen Aufmachung überzeugt.

Titelbild

Yoko Tawada: Fremde Wasser. Literarische Essays / Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik 1. Die Gläubigen, die übersetzen 2. Die Händler, die übersetzen 3. Die Moderne, die übersetzt – nach Fukushima.
Herausgegeben von Ortrud Gutjahr.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2012.
510 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783887697778

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch