Auf den Schultern eines Riesen

Hans-Peter Schwarz bilanziert die politische Ära Helmut Kohls

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mindestens drei Wege führen zu dem Phänomen Helmut Kohl. Der erste ist der direkte Zugang über seine Selbstzeugnisse. Drei Bände der „Erinnerungen“ von Helmut Kohl liegen vor. Der letzte Band, der bis 1994 reicht, ist 2007 erschienen, der vierte, in dem man gerne lesen würde, was der Altkanzler über seinen Abschied aus dem Kanzleramt und die Parteispendenaffäre schreibt, ist nicht erschienen, jedenfalls noch nicht. Auf dem zweiten Weg sind Journalisten tätig, die Biografien über Personen aus Helmut Kohls Umfeld geschrieben haben und zum Teil unveröffentlichtes Gesprächsmaterial hüten (vgl. „Der Spiegel“, 39/2012).

Den Königsweg zu Helmut Kohl hat der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz beschritten. Auf 1.000 Seiten glückt es dem Biografen, den Lebensweg Kohls aus der Ludwigshafener Provinz über die Zwischenstationen des „Kurfürsten von Mainz“ (Ministerpräsident ab 1969) und Oppositionsführer im Bundestag bis zum Gründungskanzler der deutschen Einheit und Architekten des geeinten Europa darzustellen, in einer großen Detailfülle und zugleich mit souveräner Anschaulichkeit. Die Prinzipien der Darstellung sind, wie in Schwarz’ vielgerühmter Adenauer-Biografie (1986/1991), „Wahrhaftigkeit, Empathie und zugleich kritische Distanz“ zu dem jeweils Porträtierten.

Tagebücher politischer Mitakteure und Partei-Protokolle, Gespräche mit Zeitzeugen und Weggefährten, amtliche Dokumente und Presseberichte sind die Quellen, aus denen Schwarz seine Darstellung schöpft. Sie ist ausgewogen im Urteil (als „Kontrastfolie: unersetzlich, unverrückbar, bieder“ wird Kohl in der „F.A.Z.“ vom 23.12.2005 von einer früheren Vertreterin des Juso-Flügels bezeichnet) und gut erzählt, auch im Blick auf die jeweiligen innenpolitischen und transnationalen Konstellationen, die am Ende der sechs Kapitel jeweils in einer „Betrachtung“ Gestalt gewinnen und somit den Stellenwert der Person in den Geschichtsläuften herauskristallisiert. Schon die Urszene der Biografie ist geschickt gewählt, der Große Zapfenstreich des Bonner Wachbataillons vor dem Kaiserdom zu Speyer am 17. Oktober 1998. Der Dom ist ein Symbol abendländischer Einheit und ein Relikt deutscher und europäischer Größe, oft Ort von Kohls Staatsempfängen. Die euroskeptische britische Premierministerin Margret Thatcher empfand einst jedoch den Staatsbesuch in Kohls „Hauskirche“ als „soooo deutsch“. Abschiedsgefühl, Geschichtsbewusstsein, Zukunftssorge sei die politische Signatur jenes Herbstabends 1998 gewesen, meint Schwarz. Aus Episoden wie dieser gewinnt seine Biografie eine Überzeugungskraft, die mit Einfühlungsvermögen, wo möglich, und ironischer Distanz, wenn nötig, beglaubigt wird.

Dem Leser tritt die „weltpolitische Statur“ von Kohls sechszehnjähriger Kanzlerschaft (1982-1998) vor Augen, in der nicht nur die deutsche Einigung mit Rücksicht auf die Nachbarn Polen und Frankreich vollbracht wurde, sondern auch die Zusammenführung der europäischen Staaten in der transatlantischen Partnerschaft und in der „Halbdistanz“ zu Russland stattfand und die „Besuchsdiplomatie“ mit der Großmacht China entwickelt wurde. Überhaupt zieht sich das paneuropäische Urerlebnis des jungen Helmut Kohl, der 1947 für die Junge Union Wahlplakate klebte und mit symbolischer Geste an der Grenze zum Elsaß einen Grenzschlagbaum hochstemmte, als roter Faden durch Schwarz’ Biografie. Europa ist für Helmut Kohl schon früh ein alternativloses transnationales Friedensprojekt, die Wirtschafts- und Währungsunion wird sein vielleicht größtes politisches Ziel. Was von diesem historischen Renommee bleibt, wird gewiss von dem Fortlauf der Euro-Krise abhängen. Überzeitliche Urteile sind des Biografen Sache nicht.

Zu den besonders lesenswerten Episoden der Biografie zählt das „homerische“ Ringen Helmut Kohls mit dem innerparteilichen Antipoden Franz Josef Strauß. Auch der gern geübte Vergleich Kohls mit Bismarck wird klug genug angestellt, um historischen Kurzschlüssen vorzubeugen: Beide haben an der Vereinigung der europäischen Demokratien und der Stabilisierung des Kontinents gearbeitet, doch von Bismarcks preußischem Nationalstaatsdenken ist Kohls grenzoffene Europa-Idee meilenweit entfernt. Den „schwarzen Riesen“ stellt Schwarz’ Biografie als einen verdienstvollen und glücklichen politischen Akteur dar, als einen europäischen Modernisierer mit staatsmännischer Umsicht, aber auch als „beharrlichen Machthandwerker“ (Thomas Schmid) und am Ende als einen unglücklichen, gestürzten Riesen. Auf den Schultern dieses „Riesen“ sieht man weiter.

Titelbild

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
1052 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044587

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