Kleine Frauenfüße in Wanderschuhen und die sexuelle Ekstase des Engländers

Julian Barnes erzählt in „Unbefugtes Betreten“ von Freundschaft und Liebe, Sex, Trennung und Verlust

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In vierzehn Geschichten variiert Julian Barnes das Thema zwischenmenschliche Beziehungen. Die Erzählsammlung zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil umfasst neun Geschichten, die in England und Schottland der Gegenwart spielen.

Vier dieser Geschichten mit dem Titel „Bei Phil & Joanna“ beschreiben nicht ohne Spott eine Abfolge von Dinnerpartys, bei der sich mehrere Ehepaare mittleren Alters, gehobene Mittelschicht, informiert und oberflächlich, treffen und über vieles reden: Obamas Chancen gegen McCain, die Wahrscheinlichkeit eines Al-Quaida-Anschlags während der Olympischen Spiele 2012, Gelenkbusse, Rauchen, Ausländer, Orangenmarmelade, die EU und den Euro, Klimawandel und Darmkrebs, Sex und den englischen Charakter.

Nur das Thema Liebe meiden sie. Abgesehen von wenigen Absätzen sind die Geschichten in Dialogform und sprachlich undifferenziert, was es oft unmöglich macht, die Anzahl der Gäste oder den Sprecher zu identifizieren. Ob sie sich amüsieren oder sprachlich an die Gurgel gehen, lässt sich oft nur vermuten. Die Partys liefern den Freunden keine offensichtlich neuen Erkenntnisse, wohl aber eine Bühne zur Selbstdarstellung. Barnes muss sie nicht charakterisieren, sie verraten sich selbst.

Bühnenstark sind auch die beiden Freundinnen in dem dialogreichen, komischen Kammerstück „Mit John Updike schlafen“. Alice und Jane sind Schriftstellerinnen in einem gewissen Alter, alleinstehend und recht erfolgreich. Sie haben ein Literaturfestival besucht, auf dem sie vor Publikum einen ihrer einstudierten Auftritte hatten, mit Anekdoten über sich, Kollegen und Literatur im allgemeinen. Nun fahren sie mit dem Zug heim nach London und unterhalten sich über „Moby Dick“, alte Romanzen, Exliebhaber und Exmänner. Was manchmal dasselbe ist. Denn Alice hatte eine Sexaffäre mit Janes Exmann. Beide sind eifersüchtig aufeinander, jede bezweifelt den künstlerischen Wert der anderen. Sie sticheln und ärgern sich, die Stimmung wird aggressiver und schaukelt sich an der Frage hoch, ob Alice wirklich mit John Updike im Bett war. Jede kennt die Grenzen der Provokation. Wie bei ihrem Bühnenauftritt sind Dosierung und Timing der Beleidigungen entscheidend, denn beide Frauen brauchen einander. Eine Geschichte mit dem komisch-absurden Charakter eines gekonnten Ehestreits.

Wie man durch Grenzüberschreitungen eine Beziehung zerstört, schildert die Eröffnungsgeschichte „Ostwind“. Der frisch geschiedene Immobilienmakler Vernon lernt in einem ostenglischen Küstenort die Kellnerin Andrea kennen. Was als Sex-Affäre beginnt, wird zu einem Drama über Kontrolle und Macht, als Vernon Andrea heimlich ausspioniert und ihrem traurigen Geheimnis auf die Spur kommt.

„Unbefugtes Betreten“ variiert das Thema Grenzüberschreitung ironisch. Der frisch getrennte Geoff beginnt eine Sex-Beziehung mit der Bankangestellten Lynne. Beide verbindet ein typisch englisches Hobby, das Wandern. Geoff betreibt es mit akribischer Leidenschaft und geht damit Lynne gehörig auf die Nerven. North-Cape-Coolmax-Boxershorts mit Ein-Knopf-Schlitz und ergonomische Trekkingsocken, Goretex-Jacke mit Mesh-Futter – das sind seine Dauerthemen. Kleine Frauenfüße in Wanderschuhen versetzen ihn in sexuelle Ekstase. In seiner männlichen Pedanterie und Unsensibilität verläuft er sich im Gestrüpp weiblicher Gefühle und Logik.

In „Die Welt des Gärtners“ wird ein anderes urenglisches Hobby als Ersatz für Liebe und Leidenschaft betrieben. Ein kinderloses Paar legt sich nach acht Jahren Ehe ein Haus mit Garten zu. In Gesprächen über Kräuselkrankheit und Schwarzfleckenkrankheit, Knochenmehl, Kompost und unterschiedliche Ideologien zur Gartengestaltung treten unüberbrückbare Unterschiede zutage. Das Test-Set für Bodenanalysen wird zum Lackmus-Test einer Ehe, die der Ehemann irrtümlich immer als Zwei-Parteien-Demokratie betrachtet hat.

„Beziehungsmuster“ erzählt eine traurige Geschichte über den Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen nach zwanzig Ehejahren. Ein kürzlich verwitweter Mann reist auf eine schottische Insel, wo er die schönste Zeit mit seiner Frau verbracht hat. Reflexartig benutzt er immer den Plural: „Sie, ihr: Er wusste, er musste anfangen, sich stattdessen ein Pronomen im Singular abzugewöhnen. Das würde von nun an die Grammatik seines Lebens sein.“ Am Ende versteht er, dass nicht er den Kummer beherrscht: „Der Kummer gebot über ihn. Und in den kommenden Monaten und Jahren würde ihm der Kummer vermutlich noch viele andere Lehren erteilen.“

Teil zwei umfasst fünf Geschichten, die sich in Ton und Thema unterscheiden. Sie handeln von den fünf Sinnen und welche Folgen deren Verlust oder Nichtvorhandensein hat, wenn es um das Schaffen von Nähe geht.

In „Komplizenschaft“ lernt der Protagonist eine Frau kennen, die aufgrund mangelnder Durchblutung kein Gefühl in den Fingern hat und Handschuhe trägt, was wilde Fantasien bei ihm auslöst. „Pulse“, die dem englischen Original den Titel gibt, ist eine sensible Erzählung über einen Mann, der die Ehe seiner Eltern für perfekt hält. Sein Vater hat den Geruchssinn verloren und leidet darunter, seine Frau nicht mehr riechen zu können. Seine Ehefrau Janice hält ihn für psychopathisch und glaubt, dass seine Eltern ihm nur eine heile Welt vorspielen. Die unterschiedlichen Charaktere der jungen Eheleute führen immer wieder zu Missverständnissen und schließlich der Zerstörung ihrer Ehe. Barnes bleibt skeptisch: Es ist gut möglich, dass Janice recht hat, und der Erzähler einer Wunschfantasie nachhängt.

Drei Beiträge in Teil zwei sind historische Erzählungen. „Der Portraitist“ spielt in den USA kurz nach der Abschaffung der Sklaverei. Der taubstumme Wandermaler James Wadsworth, der seine Kunst in Verbindung mit seiner Taubheit zum Menschenbeobachten nutzt, nimmt diabolische Rache an einem brutalen Zolleintreiber, indem er ihn zeichnet, wie er ihn sieht. „Harmonie“ erzählt die Geschichte des Arztes M, der in den 1770ern in Wien die junge Pianistin Maria Theresia von P wegen ihrer Amaurose mit der Magnetismuskur behandelt, was ungeahnte Auswirkungen auf ihr Spiel, sein Leben und seine Karriere hat. „Carcassonne“ erzählt von Garibaldis gutem und schlechtem Geschmack bei der Wahl der Ehefrau. Eingestreut sind Reflexionen des Ich-Erzählers, eines Schriftstellers in der Gegenwart, über Fakt und Fiktion von Biografien und den Zusammenhang zwischen Liebe und Geschmack. „In welchem Maß handeln wir selbst, und in welchem Maß sind wir ein passives Objekt in jenem Moment leidenschaftliche bewegten Geschmacks?“

Zwischen ernst und spöttisch, essayistisch cool und emotional mitfühlend, stets unsentimental und skeptisch, navigiert Barnes durch schwieriges Terrain und erkundet die Fallstricke von Beziehungen. Wie nah kann, will oder darf man einem anderen Menschen kommen?

Scharf beobachtet, mit dem Seziermesser aufbereitet und elegant erzählt.

Titelbild

Julian Barnes: Unbefugtes Betreten.
Übersetzt aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044805

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