Burroughs beerbt Becketts Enkel

Gedrechselt, poliert und detailsüchtig: Jamal Tuschicks Erstling

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn junge Autoren sich anschicken, die Geschichte ihrer Generation zu erzählen und beim Leser die prägenden Jahre der eigenen Initiation heraufzubeschwören, so ist Skepsis angebracht, ob sich am Leitfaden der eigenen biographischen Realität eine lesenswerte Geschichte entwickeln lässt. Es muss ja keine große Geschichte sein.

Jamal Tuschick, geboren 1961 in Kassel, schildert in seinem Erstling eine Clique, die in Kassel aufwächst, dort zur Schule geht und versucht, im Musikgeschäft Tritt zu fassen. Die Musiker und ihr Anhang sind schon seit Schülerzeiten in wechselnden Konstellationen zusammen, und mit mäßigem Erfolg spielen sie gegen die Gleichgültigkeit ihres Publikums an. Sie zitieren William Blake und Mick Jagger und tragen in der Clique farbige Namen, Namen wie Burroughs, Joy oder Cat Stevens, doch bestimmen weder Farbe noch Freude noch Erfolg ihr Leben. Die Alltagsrealität der 70er und 80er Jahre, die hier dargestellt wird, erscheint eher seltsam verschleiert, abgedämpft und dunkel bis zur Morbidität, gedämpft nicht zuletzt durch Drogen- und Alkoholkonsum. Im Mittelpunkt der Band, der Clique und der Erzählung steht der charismatische Teichmann, der stadtbekannte Musiker, ein Borderliner, der gern mit imperialer Geste auftritt, aber sein Leben nicht meistern wird.

Teichmann hat, wie sein leibhaftiger Großvater Samuel Beckett, Schriftstellerblut in den Adern, und als er sich - in der Mitte der Erzählung, gegen Ende der 80er Jahre - plötzlich umbringt, gehen seine Aufzeichnungen und Tagebücher partienweise in die Erzählung ein. Fortan ist Selkirk Barrenboyne Burroughs der Erzähler, Teichmanns Antipode. Auch Burroughs, der Gitarrist der Band, ist eine janusköpfige Figur. Er führt uns in die 90er Jahre: Mit geborgtem Geld kauft er sich Aktien, und als im Nahen Osten der Krieg gegen Saddam Hussein beginnt, gehört er zu den ersten Kriegsgewinnlern.

Teichmanns Tagebuch ist für Burroughs ein Medium der Selbstbegegnung. Immer wieder zitiert Burroughs aus den Aufzeichnungen des Verstorbenen, und diese Zitate machen ein grundlegendes Problem des Romans deutlich: sie unterscheiden sich in nichts vom Ton und Tenor der Gesamterzählung, und folglich hat Jamal Tuschick, ihr Autor, kein Register für die unterschiedlichen Stimmen seiner Erzähler gefunden. In allen Partien, in allen Zitaten, in allen sprachlichen Gesten herrscht derselbe strapazierte, gedrechselte und polierte Duktus vor, der auch den Verfasser charakterisiert. Jamal Tuschick ist wie seine Figur Joy "detailsüchtig", sein Interesse gilt dem einzelnen Satz, doch die Konstruktion seiner Geschichte gerät ihm aus dem Blick. So erschöpft sich sein Buch über weite Strecken im Beobachten, Beschreiben und Registrieren und findet nicht zum Erzählen. Den bemühten Sätzen geht vielfach die Poesie verloren ("Angestachelt von der eigenen Grobheit, wirft der Sportler die silbenrunden Wortkörperchen der Hochsprache einer Mundart zum Fraß vor"), umständliche Konstruktionen verhindern Verständlichkeit ("Das Sexgeschäft auf der Kaiserstraße war in einem Verdrängungsprozess schon unterlegen, der dem ambitionierten Mittelstand eine Bresche in die Gegend geschlagen hatte"), und selbst die einfachen Bilder sind nicht selten unstimmig oder gar unfreiwillig komisch: "Auf der Rückbank seines Peugeots lag eine Jacke, die er über ihre Beine breitete; ganz unbesorgt, dass die Jacke dabei schmutzig wurde." Was müssen das für Beine sein!

Es gibt Ausnahmen, kurze Passagen, in denen sich die Verkrampfung löst und das Erzählen gelingt: Teichmanns Zeit als Zivildienstleistender im Altenheim gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Teichmann testet jedes Medikament selbst, misst Blutdruck, spritzt bald wie ein Arzt und lässt sich von den Alten in die Hand kacken, wenn er das Laken nicht wechseln will. Eindrucksvoll sind auch die Erlebnisse von Teichmanns Mutter, die dreizehnjährig die Luftangriffe auf Kassel erlebte. Für einen Roman freilich ist das zu wenig, selbst wenn "Keine große Geschichte" angepeilt wird.

Titelbild

Jamal Tuschick: Keine große Geschichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
185 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3518121669

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