Der wahre Marx ist der ganze?

Über Andreas Arndts Band „Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang einer Theorie“

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es dürfte nur ein Jahrzehnt in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben haben, in dem die Marx’sche Theorie Gegenstand unzähliger akademischer Publikationen und Kontroversen wurde. Vielgestaltig waren diese Auseinandersetzungen und vergessen scheint ihre Leidenschaft für das Verästelte, Feine bis Grobschlächtige: Ihre Versenkungen in die politisch-ökonomischen Manuskripte und deren junghegelianische Anreger, ihre Zerlegungen des Verhältnisses von Logischem und Historischem in der Kritik der politischen Ökonomie. Vergessen scheinen auch bestimmte Frontverläufe – verlief die Grenze zu anderen Exegeten beispielsweise dort, wo man die Genese der Sowjetunion in seine Ausformulierung der Theorie der asiatischen Produktionsweise miteinbezog. Als Marxologie oder bloße Philologie von einer Mehrheit ihrer potentiellen Leserschaft abgetan (barg doch deren orthodoxe oder spontaneistische Gesinnung die Blockierung einer angemessenen Praxis der Theorie), blieb ihre Wirksamkeit begrenzt.

Bereits vor dem Ende des zumindest behaupteten Deutungsmonopols des Marxismus-Leninismus wurde es aber um das Marx’sche Werk wieder dunkel. Und genau in einer solchen Dämmerung hebt ja bekanntlich die Eule der Minerva an zu ihrem Flug: 1985 publizierte Andreas Arndt sein Werk „Karl Marx“ mit dem paradox anmutenden Untertitel „Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie“; denn ein Versuch ist kein großer Wurf – oder gerade deswegen? Abseits der Spitzfindigkeit nennen wir es ruhig: eine Singularität. Ein Versuch, nicht nur eine einzelne „Periode“ der Marx’schen Theorie oder ein Werk dieses Kritikers, sondern einen Zusammenhang zu entwickeln, der dieses kaum bewältigbare Œuvre umfasst: Dies ist im Deutschen bis dato noch nicht geleistet worden.

Arndts Werk unterscheidet sich von all jenen Publikationen aus diesem Jahrzehnt allein dadurch, dass sie nach dem ‚Ende der Geschichte‘ keine Neuauflage erlebten. Sie sind rar in Bibliotheken und Antiquariaten. Ihr Wert und Preis befinden sich vermutlich in einem angemessenen Verhältnis: Marx-Lektüren sind damit konfrontiert, wieder und wieder von Neuem durchgeführt zu werden. Doch im Programm des Akademie Verlags ist nun eben auch ein Dokument erschienen: Arndts Bibliografie wirkt konzentriert und wohlgewählt. Auf welchen Schultern die gegenwärtige Aneignung der Marx’schen Theorie stehen könnte, kann daran beurteilt werden. Ein linearer Fortschritt (in) der Geschichte, und sei’s in der Erforschung einer Theorie, ist damit zu bestreiten. Allein aus der verwendeten Literatur bewahrheitet sich das Versprechen des Titels einen Zusammenhang herzustellen, wenn auch einen historischen.

Denn eine Aktualisierung der Arndt’schen Bibliografie oder des gesamten Werks, etwa durch Einbeziehung neuerer philologischer Befunde oder aktueller Diskussion um die Wertformanalyse, wurde nicht angestrebt. Und diese Anstrengung, nämlich ein neues Werk zu verfassen, hätte es verunmöglicht, die Genese des Philosophierens des Autors selbst nachzuvollziehen. Die beim Lesen sich verfertigende Kritik (Probleme einer substantialistischen Werttheorie oder der Bestimmungen des Verhältnisses zur Hegel’schen Logik) finden sich mit einem Nachwort konfrontiert, das die Schwierigkeiten jenes „Versuchs“ benennt und auf die Schriften verweist, die manch kritisierbare Tendenz aufheben. Das Verhältnis Arndts zum Hegel’schen Philosophieren verändert sich nämlich in seinen späteren Texten: „Die Arbeit der Philosophie“ und „Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs“ müssen hier genannt werden, die eine Selbstreflexion der Sätze zur Bestimmung der Hegel’schen Spekulation in seinem „Karl Marx“ sind. Hegel wird in Arndts „Frühwerk“ als jemand kritisiert, der „den Dualismus Kants nach der Seite des Prinzips der Unabhängigkeit der Vernunft auflösen“ (Arndt) wolle. Die Schwierigkeit solcher Lesarten sieht Arndt. Eine Aktualisierung musste nicht angestrebt werden, denn nicht das übliche schematische Geklapper hebt an, wenn in diesem Buch von Hegel die Rede ist: Arndt betreibt nicht die Reduktion der Hegel’schen Logik hin zu einer Subsumtionslogik oder solch plumpe Thesen wie der, dass Hegel Gesellschaft nicht begrifflich hätte fassen können. Wer eine genauere Lektüre Hegels will, dem werden im Nachwort die entsprechenden Referenzen an die Hand gegeben. Durch die Lektüre des hier rezensierten Textes wird trotz alledem begreiflich, warum die methodologischen Überlegungen Marxens wesentlich durch das Hegel’sche Philosophieren bestimmt sind. Und dies bietet genügend Stoff, um zumindest (wer will schon mehr?) über die Marx’sche Theorie nachzudenken.

Das bis ins Jahr 1985 geleistete Nachdenken über Marx wird einer trefflichen Prüfung unterzogen: Arndt flechtet die unterschiedlichen Interpretationen gewisser Begriffe, Werke oder Phasen ein in seine Entfaltung des Zusammenhangs dieser Theorie. Er verweist auf zu Erlesendes, kritisiert explizit oder implizit, indem er etwa eine bloß einzelwissenschaftliche Lektüre des Œuvres klar zurückweist. Dass sich hier ein Autor mit Marx befasst, der den spekulativen Idealismus durchdrungen hat, dies lässt einen im Lesen öfters erstaunen: Wie konzis und dicht er in wenigen Sätzen die junghegelianischen Auseinandersetzungen fasst, wie klar er die philosophischen Probleme Bruno Bauers, Ludwig Feuerbachs oder Max Stirners erläutert, die Marx’schen Kritiken darstellt – wann ist dies einmal so geleistet worden? Habermas’ Bonmot, dass wir immer noch „Zeitgenossen der Junghegelianer“ seien, kann hier ohne Kenntnis der Originalschriften nachvollzogen werden. Der methodologische Individualismus Stirners, die überbestimmte Annahme eines Gattungswesens bei Feuerbach oder der Avantgardismus Bauers sind wiederkehrende Positionen innerhalb einer intellektuellen Linken. Und inwiefern dies Missverständnissen, unangemessenen Rekonstruktionen Hegels geschuldet, a fortiori: inwiefern der Zusammenhang der Marx’schen Theorie nur im Verhältnis zu Hegels Arbeit am Begriff zu erlangen ist, bringt Marx selbst zum Ausdruck – in Briefen, Exzerptheften, an prominenten Stellen im „Kapital“, den „Grundrissen“ oder in den „Theorien über den Mehrwert“. Und diese Stellen sind Marken auf Arndts Weg im Zusammenhang einer Theorie. Und sein Werk macht Lust, sich stets aufs Neue in den vielen blauen Bänden zu verlieren.

Arndt geht nicht ohne Grund genetisch vor: Kaum ein Marx’sches Werk, und sei es ein vermeintlich abseitig politisch-publizistisches, das nicht miteinbezogen wird. Von der Dissertation über Epikur und Demokrit bis hin zu den letzten Schriften wird ein Geflecht von roten Fäden verfolgt, das endlich einmal seiner philosophischen Komplexität gemäß ausgebreitet wird. Zwar gibt es einzelne Untersuchungen zu Werken oder bestimmten Problemen Marxens, die gewisse Fäden herauspräparieren, aber nirgends wird so einleuchtend ein Denken rekonstruiert, welches sich bereits in den „Thesen über Feuerbach“ ,reif’ äußert: das menschliche Wesen sei in „seiner Wirklichkeit […] das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Allein deshalb ist die Marx’sche Theorie Gegner des Dogmatischen, verlangt sie von sich selbst die stets wieder historisch zu leistende Bestimmung, keine objektiven Bewegungsgesetze anzunehmen, die überhistorisch feststünden und aus irgendwelchen Klassikern nur nachzubeten seien. Gleich ob es nun das Verhältnis von Basis und Überbau, ein geschichtsphilosophischer oder ökonomischer Determinismus, die Lehre vom falschen Bewusstsein ist – all dieses Halbwissen über Marx erfährt hier seine Kritik durch Marx selbst.

Arndt kritisiert Unterscheidungen wie jene Louis Althussers oder Theodor W. Adornos, die zwischen einem frühen und einem späten oder reifen Marx einen klaren Bruch verorten. Und der viel gescholtene Engels erlebt so seine begrifflich-systematische Einordnung als derjenige, der Marx zur Kritik des Feuerbach’schen Gattungswesens anregte. Die vermeintlichen Brüche in den Marx’schen Versuchen, eine konsistente Kritik am Bestehenden zu entwickeln, werden so als ein wirklich sich im Prozess befindliches Denken einsichtig: Dass Marx eine Kritik der kapitalistische Produktionsweise zuerst als eine Kritik des Geldsystems formulierte, wie er die Schwierigkeiten eines solchen Anfangs bedachte, um letztlich zu jener „Mikrologie“ zu gelangen, die „die Waarenform des Arbeitsprodukts oder die Werthform der Waare“ als „ökonomische Zellenform“ (MEW 23, VIIIf.) begreift – dies wird minutiös dargelegt. Wer bereits mit den Problemen der Kritik der politischen Ökonomie vertraut ist, dem werden die explizierten Unterscheidungen behilflich in der Auffrischung sein und gewiss erschütternd, glaubte man beispielsweise den „Fetischcharakter der Ware“ als Dreh- und Angelpunkt der Kritik. Warum dieses Werk „Das Kapital“ und nicht „Der Wert“ heißt, wie es aktuelle Lesarten nahelegen, dass Bände zur Lohnarbeit, zum Staat und Weltmarkt folgen sollten, und wie offen Arndt eben Leerstellen der Marx’schen Theorie benennt (gerade die eine Theorie des Politischen betreffenden), dies weist den Autor selbst als nicht-doktrinären Denker aus.

Achtung ist Arndt hierfür auch deshalb entgegenzubringen, weil er sich zu Zeiten der sogenannten ‚Systemkonfrontation‘ in bundesdeutschen philosophischen Instituten nicht davor scheute, auch das politisch-praktische Wirken Marxens miteinzubeziehen, ohne sich in biografischen Anekdoten zu verlieren (Rubels „Marx-Chronik“ sei für solcherlei Bedürfnisse als Begleitlektüre empfohlen) – und ohne ins Pathos gleich welcher Gesinnung abzugleiten. Denn Marx kommt immer mal wieder in Mode, und ins Feuilleton so gut wie nie, ohne seiner Kritik den Stachel abzubrechen. Mit Arndt erscheint ein Marx wieder in all seiner Gefährlichkeit: als ein dem Endgültigen und Selbstgenügsamen gegnerisches und leidenschaftliches Denken.

Hatte nicht jede Krise ihre Marx-Renaissance? Ja, sag es ruhig noch einmal alter „Mohr“ (Engels), denn die nächste Krise „ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken“ (Marx, „Kapital“). Nach den katastrophischen Weltläufen ist so nicht mehr zu hoffen, aber zumindest kann mit Arndt etwas von diesem Kriseln begriffen werden. Gewiss sind dafür 49,90 Euro zu investieren. Diese Investition ist aber krisenfest und müsste bei ‚sachgemäßer‘ Anwendung Glück und Freude einbringen.

Titelbild

Andreas Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
275 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783050046914

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