Der steile Weg nach unten

Andrea Gerster sperrt in ihrem Roman „Ganz oben“ einen Mann in Isolationshaft

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein dunkler, leerer Raum. Nichts als vier kahle Wände, blanke Armaturen, eine Latrine – und eine verschlossene Tür. Olivier Kamm sitzt in einer Gefängniszelle, ohne jedoch zu wissen warum. Und so versinkt er in Grübeleien, er beginnt zurückzuschauen, seine möglichen Missetaten zu betrachten und für sie bereits vorsorglich eine Verteidigungsrede vor Gericht zu imaginieren. Andrea Gerster erzählt in ihrem jüngsten Roman „Ganz oben“ das Schicksal eines Mannes, der sein Leben lang eben dort, ganz oben, war und nun in rasantem Tempo die Treppe des Erfolgs herunterfällt.

Wie kommt er hier hin? Warum ist er hier? Kamm hat offenbar sein Kurzzeitgedächtnis verloren und weiß nicht, warum er in Gefangenschaft ist. Daher gilt es nun, die jüngsten Ereignisse Stück für Stück zu rekonstruieren und zugleich einen Blick auf all die Missetaten zu werfen, die ihn in diese Lage gebracht haben könnten. Bisher war er immer ganz oben – da „ist die Aussicht am schönsten“ – nun kämpft er gegen seinen tiefen Fall. Eine unfreiwillige Intrige gegen den lappländischen Hotelier Erik und die Affäre mit seiner Frau? Ein tödlicher Unfall zu Jugendzeiten? Das mysteriöse Ableben seiner Freundin Maila im gemeinsamen Urlaub? All das konnte dem Rechtsmediziner aus begütertem Elternhaus bisher nicht viel anhaben, stets hatte sich der Solitär in Ausflüchte gerettet und herauszuwinden gewusst.

Doch nun treten durch die Retrospektive nach und nach all die düsteren Facetten aus Kamms Leben zutage, bis er schlussendlich „die Fratze eines Snobs“ offenbart. Um erneut jedweder Konsequenz auszuweichen und in der Isolation nicht den Verstand zu verlieren, beginnt Kamm nun, sich eine erklärende Verteidigungsrede für die Gerichtsverhandlung zurechtzulegen. Um die Fragmente seiner Erinnerung legt er sich eine Alternativgeschichte zurecht, in der jede seiner Handlungen zu entschuldigen ist. „Stell dich gerade hin, Bauchmuskulatur leicht angespannt, Schultern lockern, du musst daran glauben, dass du ein guter Mensch bist, dann bist du auch einer.“

Andrea Gerster erzeugt durch rasche Szenen- und Perspektivwechsel eine dichte Atmosphäre, springt rasch von Kamms Monolog zu seiner Introspektion und weiter zur Lebenserzählung. So fügt sich in „Ganz oben“ sukzessive ein Rädchen ins andere, bis sich schließlich auch die mysteriösen Umstände von Kamms Inhaftierung – zumindest scheinbar – klären. Mit großem Geschick und psychologischem Fingerspitzengefühl entspinnt Gerster so ihre Geschichte und lässt dabei einigen Platz für allerlei Spekulation. Raffiniert legt sie Spuren aus, auf deren Fährte sich der neugierige Leser rasch begibt, ohne dabei jedoch das Ziel zu erreichen. So hält Gerster stets die Fäden in der Hand, weiß die Handlung in der Schwebe zu halten und ihr stets neue Antriebe zu geben. „Ganz oben“ ist ein ebenso kurzweiliges wie intensives Stück Literatur.

Titelbild

Andrea Gerster: Ganz oben. Roman.
Lenos Verlag, Basel 2013.
163 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783857874352

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