Kreativer Austausch oder digitaler Masochismus?

Internet-Schreibplattformen beleben die literarische Kommunikation, wenn sie die Chancen der Interaktivität und Dezentralisation nutzen – die Beispiele „literaturcafe.de“ und „leselupe.de“

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Wer gerne literarische Texte verfasst und über sie diskutiert, kann an Schreibwerkstätten teilnehmen oder Seminare zum kreativen Schreiben an Universitäten oder Volkshochschulen besuchen. Seit etwa 15 Jahren besteht eine weitere Möglichkeit: Auf Literaturplattformen im Internet können Privatpersonen Texte publizieren und sich mit Gleichgesinnten austauschen. Die insbesondere mit dem web 2.0 verbundenen Möglichkeiten der sozialen Interaktion kommen solchen Projekten entgegen. Texte können hier auch unter dem Schutz der Anonymität veröffentlicht und diskutiert werden, wodurch die Hemmschwelle, eigene literarische Versuche der Öffentlichkeit preiszugeben, sinkt.

Zwei prominente Beispiele solcher Plattformen sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Die professionell aufgemachte Website „literaturcafe.de“, Gewinner des alternativen Medienpreises 2004 und zugleich Partner von Amazon, wirbt damit, zu „Germany’s Best Book Sites“ zu gehören. Neben Berichten über Selfpublishing und E-Books, Buchkritiken, Literaturlinks, Hinweisen auf Literaturtermine, Werbung und einem Shop mit Fanartikeln werden unter den Rubriken „Prosa & Lyrik“ sowie „Textkritik“ auch eingesandte Texte publiziert und der Kritik unterzogen.

Veröffentlicht wird nicht jeder Text, es gehört, wie es auf der Homepage heißt, „auch Glück dazu“. Höchstens ein eingesandter Text pro Monat wird öffentlich besprochen und mit einer Bewertung von null bis fünf „Lesebrillen“ für sehr schlechte bis sehr gute Texte versehen. Versprochen wird dem Autor eines Texts nicht „dumpfe Lobhudelei oder pauschale Verurteilung“, sondern „eine begründete Auseinandersetzung über Sprache, Stil, Aufbau und Inhalt“. In den vergangenen zwölf Monaten wurden unter der Rubrik „Textkritik“ vier Gedichte, drei Prosatexte und ein Dramenbeginn veröffentlicht. Begeistert ist der für die Website tätige Kritiker von „feinen Stimmungsbild(ern) mit wenigen überflüssigen Wörtern“, er schätzt formales Gelingen und literarische Anspielungen und freut sich, wenn er „sich seine eigenen Gedanken machen“ kann und einem „nichts […] übergestülpt“ wird.

Das im März 2012 besprochene Gedicht „Allein“ von Andrea Schatt hält der Rezensent dagegen für „sinnentleertes Geschwafel“: „Nichts, aber gar nichts vermag ich diesem Buchstabengewimmel zu entnehmen, dass (sic!) auch nur ansatzweise einen nachvollziehbaren Sinn ergibt oder auch nur andeutungsweise was mit einem Gedicht zu tun hat!“ Da bereits die zweite Zeile „metrisch/formal mit der ersten so gar nichts zu tun“ habe, weigert er sich sogar, von „Versen“ zu sprechen.

Besonders hart trifft es auch die im September 2012 rezensierte Fabel „Der Bär“ von Bob Blume. Geschildert wird hier die Machtposition eines Bären, den niemand anzusprechen wagt und der die Tiere auffrisst, die sich ihm nähern, während die anderen verhungern, da sie nicht wagen, ihn um die Erlaubnis zum Fressen zu bitten. Seine Macht gründet auf den Gerüchten und Vermutungen, die über ihn in Umlauf sind, und sie beruht auf der mangelnden Selbsterkenntnis seiner Opfer; der letzte Satz der Geschichte lautet: „Alle waren sie tot, bevor sie erkennen konnten, dass auch sie Bären waren.“

Das erinnert ein wenig an Franz Kafka, ist sonst aber nicht weiter ambitioniert. Jedenfalls hat die Fabel eine überraschende Pointe, und immerhin geht es darum, nach dem Funktionieren von Machtverhältnissen und dem Wert von Selbstreflexion zu fragen. Malte Bremer – so heißt der Rezensent – sieht das anders: „Da wird zu viel angedeutet und verklausuliert, als dass sie noch aufklärerisch bzw. politisch wirken könnte; das ist auch sehr schwer in einer Demokratie, denn dort braucht man keine Fabeln, da wir Meinungsfreiheit haben. Fabeln gedeihen prächtig in Diktaturen jeder Couleur!“ Und schließlich wird dem mit nur einer Lesebrille ausgezeichneten Autor und uns mitgeteilt: „Das war vorauszusehen – das sollte eine Fabel werden! Sogar eine mit Moral (was Fabeln eigentlich nicht haben: Diese ist eine Erfindung von Pädagogen aus dem 19. Jahrhundert)“.

Spätestens hier fragt man sich, auf welche Weise der Rezensent zu seinen Urteilen gelangt. Seine apodiktischen Behauptungen über das literarische Genre ‚Fabel‘ sind – wie sein Verständnis des metrischen Elements ‚Vers‘ – ebenso merkwürdig wie unbelegt. Wer ist dieser Malte Bremer, der uns mit kleinen orthografischen Schwächen und großer Autorität belehrt?

Auf der Homepage von „literaturcafe.de“ erfahren wir, er ist „Jahrgang 1947, studierte Germanistik in Freiburg, liest viel, schreibt, (veröffentlicht aber nichts, und wenn, dann nur im literaturcafe.de), misstraut allen Adjektiven, ist Brillenträger und Weintrinker“. Bestimmt ist das also ein Mensch, mit dem man sich gerne, vielleicht bei einem Glas Wein, über Literatur unterhält. Aber warum ist Malte Bremer der einzige, der auf dieser Website seine Meinung über die eingesandten Texte äußern darf? Warum hat er keine Mitstreiter, warum werden nicht, wie im Netz mittlerweile üblich, Foren eingerichtet, auf denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutieren können? Nicht dass uns die Meinung von Herrn Bremer nicht interessieren würde – aber warum sollte gerade sie uns besonders interessieren? Vielleicht ist die kritisierte Fabel gar nicht so unangebracht: Alle waren sie tot, bevor sie erkennen konnten, dass auch Herr Bremer ein Dilettant ist. Es gehört also nicht nur „auch Glück dazu“, Texte hier publiziert zu sehen; man benötigt vor allem eine gewisse masochistische Neigung, um an diesem Kritik-Roulette teilzunehmen.

Grundsätzlich anders aufgebaut ist die seit 1998 bestehende Literaturplattform „leselupe.de“. Mit derzeit 4.500 registrierten Autoren, über 70.000 veröffentlichten Texten sowie mehr als 200.000 Bewertungen und monatlich 150.000 Lesern gehört „Leselupe“ nach eigenen Angaben zu den größten deutschsprachigen Literaturplattformen. Auch hier gibt es Informationen etwa zum Selfpublishing und einen Fan-Shop. Vor allem aber können die Nutzer, von ehrenamtlichen Redakteuren betreut, in verschiedenen Foren über eigene Texte diskutieren. Von dieser Möglichkeit wird ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Plattform wird tatsächlich als Schreibwerkstatt genutzt, in der bis in kleinste Nuancen gemeinsam an Texten gefeilt wird. So wird im Februar 2012 lebhaft über die Erzählung „Aljoscha“ von Gernot Jennerwein diskutiert – bis hin zur Auseinandersetzung über das Detail, ob Kirchenglocken „dumpf läuten“ können. Nachdem zwei Forenteilnehmer, Moony und Old Icke, darüber keine Einigkeit erzielen können, schickt der Autor Gernot Jennerwein einen Link zu einer Site, auf der die Glocken des Kölner Doms zu hören sind, und entscheidet sich schließlich für die Formulierung „am Stadtrand hörte man den tiefen Glockenschlag der Kasaner Kathedrale“. Es folgen mehrere auf der Plattform dokumentierte Neufassungen der Erzählung, die auf die Forendiskussionen reagieren.

Über Jahre hinweg zieht sich die Diskussion über den von „Old Icke“ seit 2003 in mehreren Fassungen eingestellten Text „Nur ein Betriebsunfall“. Hier geht es um eine missglückte Abtreibung und die Geburt eines blinden Kinds, mit dem die alleinstehende Mutter und ihre unter schwierigen sozialen Umständen lebende Familie überfordert sind. Die Forenteilnehmer bescheinigen, dass es sich um eine „bedrückende Geschichte“ handle, „auch wenn sie sehr an Klischees erinnert“. Die Autorin entgegnet darauf: „klischee hin und her, ich schwöre, es war so.“

Und schon ist man mitten in einer Auseinandersetzung über grundlegende literaturtheoretische Fragen wie Authentizität, Fiktionalität und den Kunstcharakter eines Texts. „Krümelkacker Ralph“ etwa vertritt die Meinung, „ob die Geschichte so passiert ist oder nicht, (sei) doch zweitrangig“, die Hauptsache sei, dass sie „unter die Haut“ gehe. Gerade aus diesem Bewusstsein heraus wünscht er sich aber eine bessere Inszenierung von Authentizität, indem er sich für mehr Berliner Dialekt und eine genauere Milieuschilderung ausspricht. Die Verfasserin reagiert darauf wiederum mit dem Hinweis, es falle ihr schwer, „erlebtes, was einen so sehr schockiert hat, umzumodeln“, während „Socke“ den Begriff „halbdokumentarischer Text“ ins Spiel bringt. Die Diskussion innerhalb der ‚Community‘ wird, wie aus einigen Beiträgen hervorgeht, am Telefon fortgesetzt.

Im Januar 2010 ist ein Gast des Forums anderer Meinung als die bisherigen Teilnehmer: „was für ein blödsinn! kam nicht noch jemand ins tierheim? jeder lindenstraßendrehbuchautor schreibt am fließband besseres. wieso veröffentlicht man sowas? alles nur mitteilungsdrang? wer bewertet sowas aus welchen gründen gut?“ Dominik Klama urteilt schließlich im Februar 2012: „Aber so geht das doch nicht! So kann man das nicht machen. Das bringt fast gar nichts. […] Interessieren würde uns der Bericht, wenn etwas in ihm vorkäme, von dem wir noch nie gehört hätten oder an das wir noch nie gedacht hätten.“ Formal sei der Text „nur zweckmäßig, zur Informationsvermittlung gut geeignet, künstlerisch aber nicht bemerkenswert. Was, bitte schön, sollte einen Leser veranlassen, sich mit einem Text zu beschäftigen, der ihm ausschließlich Altbekanntes in einer formal nicht weiter spannenden Manier vorträgt?“

Wieder geht es hier literaturtheoretisch ans Eingemachte, indem ein Anspruch auf Innovation, Originalität und besondere formale Gestaltung formuliert wird. Interessant in Bezug auf die Beurteilung der Struktur der Plattform ist Klamas Vermutung darüber, warum der Text im Forum bislang zustimmend beurteilt wurde: „Dass wohl nirgendwo in der Leselupe Texte so in Serie verschlungen und gelobt werden, wie wenn sie von Foren-Redakteuren verfasst wurden, daran habe ich mich irgendwo mittlerweile schon gewöhnt.“

Auch in der „Leselupe“ gibt es also Hierarchien, die möglicherweise die Diskussion beeinflussen – doch immerhin kann auch über dieses Problem offen diskutiert werden. Hier finden harte, aber produktive Auseinandersetzungen statt, wie sie in einem literaturwissenschaftlichen Seminar kaum besser geleistet werden könnten. Die Möglichkeiten der weitgehend dezentralen Interaktion im Netz werden von dieser Text-Werkstatt aufs Beste genutzt.