Familienaufstellung in Israel

Über Zeruya Shalevs obsessiven, doch großen Roman „Für den Rest des Lebens“

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zeruya Shalev ist eine der bekanntesten israelischen Autorinnen, bekannt für ihre radikale und schonungslose Art, mit der sie aus der Sicht von Frauen die Kämpfe um ihr Liebesglück mit ihren Partnern und in ihren Familien beschreibt – eindringlich bis hin zur Verstörung, wenn sie, wie etwa in „Liebesleben“, die Unterwerfung einer jungen Frau unter einen erheblich älteren Mann thematisiert oder wie in „Späte Familie“ das Scheitern einer Ehe schreibend unerbittlich nachvollzieht.

Zugleich lassen sich in ihren Büchern immer wie in einem Brennspiegel die Konflikte der israelischen Gesellschaft nachvollziehen; einer, man möchte sagen, angesichts von Traumatisierungen und ständigen Kriegsgefahren hochnervösen Gesellschaft eines kleinen Landes, in dem über ein paar Ecken jeder jeden zu kennen scheint, in der die Luft von permanenten Spannungen zu vibrieren scheint. Und die Autorin, 1959 in einem Kibbuz geboren, weiß hautnah, worüber sie schreibend reflektiert und fingiert, wenn etwa in ihren Büchern die Intifada am Rande vorkommt. Sie wurde vor einigen Jahren selbst bei einem Terroranschlag verletzt.

In ihrem neuen Buch „Für den Rest des Lebens“ geht es, wie der Titel schon andeutet, auch wieder ums Ganze. Das Ganze ist in diesem Falle die allmählich aufkommende fixe Idee der Hauptperson des Buches, der Universitätsdozentin Dini, deren Mutter im Sterben liegt, ein russisches Kind zu adoptieren. Shalev schreibt im ständigen Wechsel aus der Perspektive der sterbenden Mutter Chemda, ihrer Tochter und deren Bruder Avner. Dinis und Avners Familien, ihre Partner und Kinder werden jeweils aus ihrer Sicht beschrieben, so dass die Perspektive ständig zwischen den drei Figuren Mutter-Tochter-Sohn wechselt. Das erlaubt eine Konzentration auf die Kernfamilie, deren Ausgangsbedingungen in den Erinnerungen der Kinder und den Halluzinationen der Sterbenden deutlich werden. Der Stil ist alles andere als ruhig-episch, vielmehr vom typischen Shalev-Sound atemloser, langer Satzperioden geprägt. Alle drei Personen hadern mit ihrem Schicksal. In unterschiedlicher Weise auch ihre Gatten, wie sich herausstellt: beide Ehen sind nicht von geglückter Kommunikation bestimmt, Dinis Mann Gideon macht als Fotograf sein eigenes Ding, ist zufrieden mit der Rollenteilung in der Ehe, die im Alltag auszuplätschern droht, während Avners Frau Schlomit mit diesem in einem hoffnungslosen und unaufhörlichen Ehekampf verstrickt ist; hinzu kommen Konflikte mit den halbwüchsigen Kindern.

Dabei rückt Shalev in der Beschreibung der intimsten Gedanken ihrer Protagonisten dem Leser fast schmerzlich auf die Haut, sie scheut auch nicht davor zurück, gelegentlich die Ekelgrenze dabei zu verletzen. Avner etwa, den Chemda im Unterschied zu Dini geliebt hat, den die Mutter aber nicht aus ihren Krallen lassen wollte, hat sich schon immer abgrenzen müssen und ist vor ihr geflohen; jetzt, im Krankenhaus angesichts der abgemagerten Sterbenden, hat er die grausige Assoziation, ihr Fleisch hätte sich wie durch einen Rachezauber in seinen fetten Bauch transformiert und ließe ihn damit nicht los. Dini fühlt geradezu Brechreiz beim Anblick des mütterlichen Körpers, „als sie die ausgetrockneten Hauttaschen betrachtet und sich vorstellt, ihre Lippen würden auf dieser Haut nach der Brustwarze tasten“.

Der stumme Schrei danach, zu lieben und geliebt zu werden, hallt durch das Innenleben aller drei, dringt aber selten an die Oberfläche des Gesprochenen. Avner, der ohnehin das Gefühl hat, alle anderen wären glücklicher, heftet sich in einem grenzwertigen Verzweiflungsakt an die Geliebte eines anderen Sterbenden im Krankenhaus, die er belauscht hat, und will sich an die Stelle des Verstorbenen setzen. Dini hingegen verzweifelt daran, dass ihr die pubertierende Tochter Nizan allmählich entgleitet, und verfällt auf den schon erwähnten Gedanken, ein Kind zu adoptieren, um dies an die Stelle des gestorbenen männlichen Zwillings-Embryos von Nizan zu setzen. Die F. A. Z. bemerkt: „Dabei fühlt man sich wie bei einer Familienaufstellung, die Figuren schlüpfen in die Position der anderen, kopieren sich wechselseitig.“ Oder, wie es im Buch heißt: „Unendlich viele Konkurrenzkämpfe haben sich in all den Jahren im Verborgenen abgespielt, mit ihrer Schwiegertochter hat Chemda um Avners Liebe konkurriert, und mit Nizan um ihre [Dinis] Liebe, ihre Enkel hat sie ermutigt, um die Liebe ihrer Großmutter zu konkurrieren, so wie ihre Tochter mit ihrem Bruder konkurriert hat, Konkurrenzkämpfe, die schon von vornherein verloren sind, der Verlierer verliert und, was Wunder, auch der Sieger verliert“.

Das Szenario für maximales Unglück scheint damit umrissen, und eine katastrophale Zuspitzung scheint plausibler als eine positive Auflösung. Die Last der familialen Tradition wiegt aber dadurch umso schwerer, als die vorige und die vorvorige Generation in unterschiedlicher Weise vom Holocaust betroffen sind. Vor allem Chemdas Erinnerungen erlauben, die Prägungen durch Holocaust-Entkommen und fast brutalem Durchschlagen im Kibbuz in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg nachzuvollziehen. In Abgrenzung zum „kleinbürgerlichen“ Familienideal sollte hier der neue, starke jüdische Mensch geschaffen werden (auch Amos Oz berichtete in seiner Autobiografie darüber). Chemda erfuhr das, was weithin bei uns noch als eine Art Kommunebewegung idealisiert wird, als Männerdrillmaschine mit Zügen der Fetischisierung der körperlichen Arbeit, mit gegenseitiger Überwachung, mit Verachtung geistiger Arbeit – letztlich eine weitere Variante radikalsozialistischer Menschenausrichtung, die einer scharfen Kritik unterzogen wird.

Der Vergleich der F. A. Z. mit einer Familienaufstellung deutet dabei in die richtige Richtung, ist aber unpräzise. So wie es in diesen Familienaufstellungen nicht darum geht, einfach die Positionen innerhalb der Kernfamilie zu tauschen, sondern durch das Agieren von Stellvertretern die verborgenen Konflikte sichtbar zu machen, wird hier, jetzt aber durch das Agieren von Dini und Avner selbst, das neurotische Konfliktpotential innerhalb der Familie zutagegefördert. Ihr eigenes, wie auch immer begrenztes und determiniertes Agieren schafft damit die Voraussetzungen, trotz aller ungünstigen Ausgangsbedingungen und wie in einer Übersprungshandlung, so etwas einen Ausweg zu eröffnen.

Wie stellt sich das nun im Roman dar? Avners perverser Versuch, die Stelle eines Toten einzunehmen, muss scheitern; die verwitwete Geliebte verweist ihn an die Familie zurück, aber er wird sich trennen, weil die Zerrüttung zu groß ist, das gegenseitige dauernde Sichverletzen hat zu tiefe Wunden geschlagen – in einer furchtbaren nächtlichen Szene ist Avner von seinen Ekelgefühlen erregt und vergewaltigt Schlomit förmlich. (Man kann nicht behaupten, dass Shalev zarte Leserseelen schonte!). Dagegen erweist sich Dinis ebenso obsessive Idee, ihren inneren Mangel mit einem neuen Kind auszufüllen, absurderweise als handlungsaus- und komplexauflösendes Moment in der verstrickten Familienkonstellation. Die Glieder der Konstellation Mutter-Tochter-Sohn bewegen sich, obwohl sie gerade in Konflikten mit ihren eigenen Familien stecken (oder, wie im Fall der Mutter, nüchtern Bilanz ihres Scheiterns ziehen), gerade dadurch, dass die Beschäftigung mit den eigenen Prägungen nicht mehr aufzuschieben ist, aufeinander zu, was bis zu regressiv-symbolischen Handlungen geht (Dini legt sich zur Mutter ins Bett) und zu einem vorübergehenden Wiedereinziehen von Dini und Avner bei Chemda.

Dabei gibt ausgerechnet die moribunde Chemda, die ihr ganzes Leben für verfehlt hält („es ist zu spät dafür, einen Sinn in dem Leben zu suchen, das schon gelebt ist, denn was soll dieses Gewirr, es ist ein Durcheinander von Zeit und Raum, es sind Ablagerungen der Unzufriedenheit, es sind unterirdische Gänge ohne Vergebung“, heißt es in ihren Monologen) und ihre Kinder nicht mehr als Kinder sehen kann, den Anstoß zur Heilung, als sie vor der geliebten Enkelin Nizan die Adoptionspläne ihrer Tochter verteidigt: in der Tröstung der verletzten Enkelin findet sie als Großmutter Worte, die sie früher ihrer Tochter nicht sagen konnte: „ich habe zu spät verstanden, dass es, je mehr man liebt, umso mehr Liebe für alle gibt, das ist eine Art Wunder, wie das Wunder mit dem Ölkrug, als ich so alt war wie deine Mutter, wollte ich in Ruhe gelassen werden, deine Mutter will gebraucht werden, und du willst ebenfalls dieses und jenes, und alles ist möglich“.

Dieser kleine, schlichte Aphorismus „Alles ist möglich“ – wenn wir nur wollen – das funktioniert in Zalevs mäandernder Prosa wie eine Sternschnuppe, die den Weg zu etwas Neuem weist, wenn der Griff in die Metaphernkiste einmal erlaubt ist. Mit solchen kleinen Sprengsätzen bricht die Autorin das Dunkel der Wände auf, die sich über ihre Personen zu schieben scheinen, und schafft kleine Lücken und Ausstiegsmöglichkeiten.

Dini erfährt also Ermutigung durch ihre Mutter, die sie sich erstmals auch als Kind vorstellen kann, das in den 1940er-, 1950er-Jahren durch eine abwesende Mutter und einen überharten Vater geprägt war, und kann erstmals Mitleid für Chemda aufbringen. Überraschend erfährt sie auch Hilfe durch Avner, der einen Prozess der Selbstaufklärung durchlebt und daher imstande ist, altgewohnte Frontstellungen aufzugeben, sich zumindest seinem halbwüchsigen Sohn wieder anzunähern und neue Kraft für die entnervende Tätigkeit als „Beduinenanwalt“ zu schöpfen (Avner verteidigt aus Überzeugung Gegner der israelischen Besatzungspolitik).

Gegen die Skepsis von Dinis Tochter und den heftigen Widerstand ihres Mannes (und tausend objektiven Hindernissen), kommt es dann tatsächlich in Sibirien zum Treffen mit einem Adoptionskind – eine zutiefst anrührende Szene, wenn man sich diese Waisenkinder in ihrem Elend vorstellt; selbst Gideon lässt sich erweichen, und Dini wird angesichts des weinenden Jungen endlich klar, „ich möchte mit ihm weinen, denn das ist der Junge, auch wenn ich nicht um ihn gebeten habe, auch wenn er mir nie gehören wird, ich werde ihm gehören“.

Die Schlussszene, in der sie den Jungen nach der eben verstorbenen Mutter nennen werden, ist also nicht nur anrührend, sondern er enthält so etwas wie eine positive Lösung: das adoptierte Kind nicht zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu funktionalisieren, sondern es auf sich zu nehmen, sich, ohne dass Dank erwartet werden kann, für sein Glück zu engagieren. Shalev verarbeitet auch darin eigene Erfahrungen; sie selbst hat neben zwei eigenen ein fremdes Kind adoptiert.

Eine große Leistung des Buches ist es, trotz der radikalen und in ihrer Radikalität rücksichtslosen und manchmal quälenden Binnenperspektive den Blick zu öffnen auf die psychischen Deformierungen, denen wahrscheinlich noch der letzte Israeli ausgesetzt ist, und zugleich auch die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Alltagsrealität des Landes in kurzen Szenen in den Blick zu nehmen (vermittelt über Avners Tätigkeit als Anwalt – er fühlt sich paradoxerweise gerade nach der Trennung von Schlomit mit dem Staat um so mehr verbunden und hadert erbittert mit dessen Politik). Damit weitet Shalev die drei Binnen- und die neurotische Familien-Innen-Perspektive aus hin auf das gesellschaftlich Allgemeine, das sie durchzieht, und verbindet geglückt das Besondere mit dem Allgemeinen, wenn man es philosophisch schlicht ausdrücken will.

Gegen den Kitschverdacht, der sich angesichts dieser Schlussszene und ihrer positiven Lösung einstellen könnte, könnte man auch zitieren, was Sartre in seiner monumentalen Analyse des „objektiven Neurotikers“ Flaubert über das Verhältnis von Imaginärem und Realem schreibt, dass man „das Imaginäre vielmehr als eine Porosität des Realen betrachten muß oder, wenn man lieber will, wie Blasen des Nicht-Seins, die ständig entstehen und platzen innerhalb einer dichten und geschlossenen Welt“. Shalevs imaginäre und fiktive Leistung ist es, solche Blasen zu schaffen, die verhindern, dass sich die Geschlossenheit und Dichtheit der Welt verstärkt und kein Schimmer das Dunkel durchdringt.

Zugegeben, manchmal verrutschen Shalev dabei einige Metaphern, werden die Sprachbilder schief und in ihrer Drastik zu offensichtlich, aber das scheint der Preis zu sein für den hohen Einsatz, mit dem sie schreibt. Und es gelingen ihr immer wieder symbolträchtige kleine Bilder, so wenn Dini etwa den alten Spiegel im Bad ihrer Mutter wahrnimmt, in dem sie sich nicht richtig erkennen konnte. Er hing irgendwie in der Mitte zwischen den unterschiedlichen Größen der Familienmitglieder, „und letztlich war es für keinen von ihnen bequem, und trotzdem waren sie nicht auf die Idee gekommen, einen großen Spiegel zu kaufen, damit sie alle vier in ihr Gesicht sehen konnten“.

Ist das nicht ein schönes Bild für das gemeinsame und dennoch individuell erlebte Unglück in der Familie, das ihre Mitglieder erst jetzt als gemeinsames erkennen können? Und wäre dem nicht durch einen ganz einfachen Schritt, nämlich einen neuen passenden Spiegel zu kaufen, abzuhelfen? Manchmal gelingen Shalev auch Formulierungen, die nicht sprachlich überbordend wirken, sondern fast philosophisch verkürzt, wenn es etwa in einer langen Erinnerung Dinis an das frühe auch erotische Glück mit ihrem Mann heißt: „denn es ist das Nichts, das die Systeme in Bewegung bringt“ – ein weiteres Bild für die Lücken, in denen Erkenntnis entstehen kann.

Titelbild

Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2012.
528 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783827009890

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