Filmwissen aus der Totalen

„Unterwegs im Kino“ mit der Kritikerin Marli Feldvoß

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Kracauer hat über 40 Jahre hinweg Filmkritiken geschrieben, Pauline Kael über 32 Jahre. Aus 27 Jahren stammen die Filmkritiken, die Marli Feldvoß für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „Die Zeit“, für „epd Film“ geschrieben hat. Sie liegen nun in einer stattlichen und repräsentativen Sammlung vor; und hat man sich erst einmal eingelesen, wird man den Eindruck nicht los, dass diese im Wortsinne umsichtige Kritikerin lieber aus der Totalen schreibt als aus der Naheinstellung. Das gebündelte Filmwissen, die klugen Vergleiche, der nachforschende Ehrgeiz kommen in den Essays und Porträts noch weitaus besser heraus als in den fürs Tagesgeschäft verfassten Kritiken, in denen wie im Fall von Michael Hanekes „Das weiße Band“ (2009) der Raum fehlt, um dem, „Erzählmuster des Fantasygenres“ nachzugehen.

Gegliedert sind die 90 Texte in die Kapitel: Denk ich an Deutschland – Bigger than Life – Zwei oder drei Dinge, die ich von der Nouvelle vague weiß – Anarchie und Utopie – Frauenkino – Krieg und Politik – New British Cinema und eine Prise Dogma – Martial Arts und Samurais – Amor, Amor. Aus dieser Fülle seien zumindest die Porträts der alternden Schauspieler Anthony Quinn und Marlon Brando – der in dem Mafiaklassiker „Godfather“ (1972) als „müder Rebell“ auftritt – hervorgehoben. Ein unorthodoxes Kubrick-Porträt entsteht 2003 bei einem Besuch auf dem prachtvollen englischen Landsitz des vier Jahre zuvor verstorbenen, als privat unzugänglich geltenden Filmemachers. Aufschlussreiche Betrachtungen gelten Gérard Depardieu, Marlene Dietrich, Hannelore Hoger, Alain Resnais, Tilda Swinton, Bertrand Tavernier und der „Neinsagerin“ Ingrid Bergmann.

Analytisch scharf gestochen sind die Essays über „Alfred Hitchcock und die Frauen“ (2000), die „Liebe, ihre Lügen, ihre Laster und ihre Briefe im Film“ (2003) und die 1989 anlässlich einer Ausstellung im Frankfurter Filmmuseum entstandene, zeithistorisch weit ausholende Chronik des Falls der Rosemarie Nitribitt. Die Edelprostituierte war 1957 ermordet in ihrer Frankfurter Wohnung aufgefunden worden, 1958 wurde ein tatverdächtiger Handelsvertreter festgenommen, wenig später freigelassen und 1960 „mangels Beweisen“ freigesprochen. Schon 1959 lief „Das Mädchen Rosemarie“ in den Kinos, der erfolgreichste Film des Jahres (viele weitere Filme sollten folgen). Marli Feldvoß knöpft sich den sozialkritischen Anspruch des Autors Erich Kuby vor und misst ihn an der schmächtigen Satire, die unter der Regie von Rolf Thiele dabei herausgekommen ist. Der Film wurde zum Fall, Kuby distanzierte sich davon, die Satire verdiente sich, summiert Feldvoß, bei diesem Prozess „keine Meriten“.

Zeitbilder von Sitten und Gebräuchen sind ein Faszinosum, das immer wieder ansteckend untersucht wird. Etwa in Thomas Vinterbergs bürgerlichem Familiendesaster „Das Fest“ (1999), der als „moderne Orestie“ gesehen wird, oder in dem wunderbaren Aufsatz über Eric Rohmer (2012), dem offenbar eine besondere Vorliebe der Kritikerin gehört, wie auch den Auteurs der Nouvelle Vague, die ihr Filmverständnis von Anfang an geprägt haben. Wie sich der „Cartesianer Rohmer“ für das „romantische Pathos à la Kleist“ öffnet und in der „Marquise von O.“ (1976) ein „montagearmes Redekino“ erschafft, wird elegant beschrieben; die Ungeheuer, die so trotzig auf der wie in Füsslis „Nachtmahr“ hingebetteten Schönheit hocken, seien unsichtbar im Film und tobten allein „in den Köpfen der Zuschauer“. Rohmer versuche so, „das Denken zu zeigen“.

Es macht Freude und ist belehrend, Marli Feldvoß beim Nachdenken über das Gezeigte zu folgen. Auch bei den Fortsetzungen! Es muss ja nicht jedem Filmkritiker so gehen wie Siegfried Kracauer, der 1953 auf die Frage, welche neuen Filme er in Venedig sehen wolle, antwortete, am liebsten wolle er „Venedig wiedersehen, gleichgültig, welche Filme dort gezeigt werden“.

Titelbild

Marli Feldvoß: Unterwegs im Kino. Kritiken und Essays.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
475 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783861091967

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