Zwischen Literatur und Journalismus

Anmerkungen zum literarischen Mehrwert in der Reiseliteratur

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reiseliteratur ist praktisch. In den Auslagen der Großbuchhandlungen liegt sie wie alle Ratgeberliteratur zuhauf und aus Anlass einer bevorstehenden Reise erwirbt man sie, wenn sie handlich und informativ ist. Oder umgekehrt? Jedenfalls nimmt man dergleichen Literatur mit auf die Reise. Dort, im Reiseland, bewährt sich die Reiseliteratur im Stress des Reiseprogramms: griffbereit in der Tasche, immer mit dem richtigen Tipp, am richtigen Ort zur rechten Zeit ist solche Literatur gefällig. Man lobt den Reiseführer.

Dagegen ist nichts zu sagen. Der Reiseführer informiert sachlich und wenn möglich zuverlässig über das Reiseziel. Schaue ein jede/r, dass sie und er den ihr und ihm ihm angemessenen Reiseführer findet. Und was passiert nach der Reise mit diesen Büchern? Wahrscheinlich werden sie, so sie überhaupt noch ins Buchregal gestellt werden, dort irgendwann verstauben. Solcherart Gebrauchsliteratur hat ausgedient, wenn der Zweck ihrer Anschaffung erfüllt ist.

Die andere Reiseliteratur ist subjektiv. Ist künstlerisch. Ist literarisch. Solche Bücher finden sich im Reisegepäck nur dann, wenn ausreichend Lesezeit eingeplant ist. Diese Bücher steckt man sich nicht ein, um sie während des Reiseprogramms gezielt zu Rate zu ziehen. Mehr noch: diese Art Reiseliteratur braucht den Anlass der Reise nicht. Kommt sie hinzu, so mag sie den Lesegenuss erhöhen, indem sie ermöglicht, die eigenen Empfindungen mit den literarischen in Verbindung zu setzen.

So wäre alles wohlgeordnet und den jeweiligen Interessen des Publikums angemessen. Für alle Fälle gibt es aber noch die Mischformen, die die sachliche Reiseinformation anreichern mit schriftstellerisch ambitionierten Texten. Ein Beispiel dieser Art Reiseliteratur ist das immerhin seit 1948 erscheinende Reisemagazin „Merian“, das sich selbst einmal ein „Synonym für Reisen und Kultur“ nannte. Reisen und Kultur, das meinte bei „Merian“ ein Mindestmaß an notwendiger Reiseinformation, darüber hinaus aber einen auch literarischen Mehrwert. So etwa, wenn Günter Kunert über Dresden, Georg Stefan Troller und Alfred Grosser über Paris, Erhart Kästner über die Athosklöster in Griechenland, Heinrich Böll über das Ruhrgebiet oder wie Dieter Wellershof und Hans Mayer über Köln, Max Brod und Ephraim Kishon über Israel, Friedrich Torberg oder Hilde Spiel über Wien, Siegfried Lenz über Hamburg, Milovan Djilas über Montenegro, Wolfgang Koeppen über New York, Ingeborg Drewitz über Berlin oder Hans Werner Henze über Neapel schrieben – um nur einige Beispiele aus des Rezensenten eigener Sammlung zu nennen. Ja, man sammelte die „Merian“-Hefte, eben weil sie durch solche Beiträge einen literarisch-essayistischen Mehrwert bewahrten, den man auch Jahre später nachlesen konnte und nachlesen möchte. Beispiel Köln: das Köln-Heft des Jahres 1960 leitet ein Beitrag von Heinrich Böll ein: „Was ist kölnisch?“ Beeindruckt von den das Stadtgebiet noch prägenden Ruinen des Krieges bemerkt er, dass der Dom „so offensichtlich von Bomben verschont wurde, während man die herrlichen romanischen Kirchen keiner Schonung für würdig fand, gehört zu den sentimentalen Irrtümern über das Kölnische; der Dom ist viel weniger kölnisch als andere Kirchen.“ Der Dom, heute Weltkulturerbe, nicht kölnisch? Die alle Köln-Tourismus-Verantwortlichen bis heute irritierende Aussage greift ein Motiv auf, das schon Heinrich Heine in seinem Erzählgedicht „Deutschland, ein Wintermärchen“ benutzte: der Dom als Inbegriff von Reaktion und klerikal-autoritärer Bevormundung. Heine sah den Dom noch als unvollendetes Bauwerk, 1880 aber wurde der Dom vollendet – und sogleich von preußisch-deutschem Geist als Symbol nationaler Größe vereinnahmt. Gegen diesen Geist brachte Böll die stille Würde der romanischen Kirchenruinen in Erinnerung.

Im Köln-Heft des Jahres 1988 greift der in Köln geborene Literaturwissenschaftler Hans Mayer diesen Gedankenstrang auf. In seinem Beitrag „Weihrauchduft und Rebellion“ erklärt er die Gleichzeitigkeit von reaktionärem Dunkelmännertum, „süßer Anarchie“ und fundamentaler Aufsässigkeit in Köln und kann so eine bis heute gültige Einführung in das typisch Kölnische geben und was dieses vom typisch Rheinländischen am Ende unterscheidet.

Die romanischen Kirchen Kölns sind übrigens heute längst in würdiger Schönheit wiedererstanden und man ist bemüht, sie als Ensemble zu einem weiteren Weltkulturerbe zu erheben.

An solchen Stellen trägt Reiseliteratur zur Erkenntnis bei. Es ist ein gewisser Luxus: namhafte AutorInnen verfassen Originalbeiträge und prägen die Qualität dieser Art Reiseliteratur. Inzwischen sind aber solche Beiträge die Ausnahme geworden. Im aktuellen Merianheft über Köln sind im Inhaltsverzeichnis die Namen der AutorInnen gar nicht mehr genannt. Statt Lust auf literarische Essays soll „Lust am Reisen“, wie es auf dem Cover der Hefte steht, geweckt werden. Und man meint, die von JournalistInnen verfassten Standard-Gebrauchstexte seien dafür geeignet.

Zum Vorschein kommt ein klassisches Dilemma – nicht nur in der Reiseliteratur: hier die Ansprüche der Literatur, dort der Nutzwert des Journalismus. Beides zusammen geht nicht. Oder nur im Ausnahmefall. Im Falle der schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach wird dieses Dilemma zum Ausgangspunkt eines Akts der Selbstvergewisserung als Autorin.

Die 1908 geborene Annemarie Schwarzenbach entstammte einer wohlhabenden Zürcher Industriellenfamilie. Eine problematische Familie für die junge Frau, denn früh geriet sie in Konflikt mit den reaktionären Haltungen in der Familie. Man äußerte offen Sympathie für die Nazis in Deutschland und hielt unterstützende Verbindung zur schweizer ,Frontenbewegung‘, die eine Annäherung der Schweiz an das nationalsozialistische Deutschland propagierte.

Ende der 1920er-Jahre hatte Schwarzenbach Klaus und Erika Mann kennengelernt, mit beiden blieb sie bis zu ihrem frühen Unfalltod 1942 eng befreundet. 1931 erschien ihr erster Roman „Freunde um Bernhard“. Der Text ist in vielerlei Hinsicht unfertig, aber er fasziniert immer wieder durch ein sprachliches Flair, das einer vibrierenden Empfindsamkeit, einer emphatischen Sehnsucht nach dem anderen, dem Künstlerleben Ausdruck verleiht. In diesem Sinne ist der Roman Ausdruck der Suche Schwarzenbachs nach ihrem Leben als Schriftstellerin. Dieses wird sie in den nun folgenden Jahren vor allem auf Reisen ausbilden. Sie bereist Spanien, die Türkei, Amerika und die Sowjetunion. Mehrmals ist sie in Persien, 1939 tourt sie mit einem Ford-Kleinwagen durch Afghanistan.

„Zwischen Literatur und Journalismus“ heißt das Buch von Simone Wichor über die „Reportagen und Feuilletons von Annemarie Schwarzenbach“, die während dieser Reisen entstanden. Wichor beschreibt die Formvielfalt der Schwarzenbach’schen Texte, die „als Tagebuch, Feuilleton, kulturkritischer Essay, sozialkritische Reportage und als subjektives Stimmungs- oder philosophisches Denkbild“ auftreten, zum einen als Ausdruck der zeitgenössischen „Pluralität moderner Erfahrung“. Hierzu gehört auch, dass Schwarzenbach ihre Texte immer wieder nach den Anforderungen der sie veröffentlichenden Medien ausrichten muss. Die über 300 Artikel und Bildberichte erscheinen zu ihren Lebzeiten nicht als Bücher, sondern „in großen schweizer Zeitungen und Illustrierten“. Ihre Texte sind also „im Kontext einer ,schweizerisch‘ codierten Zeitungslandschaft der dreißiger Jahre“ aufgehoben. „Die Autorin“, so schreibt Wichor, „wird hier unter dem Label ,100% SCHWEIZERISCH‘ verkauft.“ Gegen diese Vereinnahmung behauptet die Formvielfalt der Schwarzenbach-Texte zum anderen aber immer die eigene Suche nach der Identität als Schriftstellerin. Die Vielfalt selbst ist Ausdruck der Suchbewegung. Und sie bestätigt letztlich ihren Rang als Schriftstellerin, denn, so resümiert die Autorin: „Sie entwickelt damit Schreibweisen, die die innovativen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen.“ Ob Annemarie Schwarzenbach dieser Einschätzung selbst noch hätte zustimmen können bleibt offen. Ihr früher Unfalltod 1942 in Sils in Engadin, als Folge eines Fahrradsturzes, ließ ihre Entwicklung als Schriftstellerin unvollendet.

Literaturhinweise:

Merian. Das Monatsheft der Städte und Landschaften, 13. Jahrgang, Heft 8, Köln, Hoffmann und Campe Verlag1960.

Merian. Das Monatsheft der Städte und Landschaften, 41. Jahrgang, Heft 7, Köln, Hoffmann und Campe Verlag 1988.

Merian. Die Lust am Reisen, Heft 09/2012, Köln, Jahreszeiten Verlag Hamburg, 2012.

Schwarzenbach, Annemarie: Freunde um Bernhard. Roman. Mit einem Nachwort von Michael Töteberg.

Lenos Verlag Basel 1998 (2. Aufl.).

198 Seiten.

ISBN 3857876484

Kein Bild

Simone Wichor: Zwischen Literatur und Journalismus. Die Reportagen und Feuilletons von Annemarie Schwarzenbach.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
341 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289729

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