Hund, Katze, Maus

Michel Pastoureau schreibt über Tiere in der mittelalterlichen Buchkunst

Von Susanne WardaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Warda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Inhalt, soviel sei gleich zu Beginn verraten, steht in einer direkten Relation zum Umfang dieses Büchleins – an sich wenig überraschend; der Titel "Das mittelalterliche Bestiarium" jedoch scheint vielmehr einen generellen Überblick über das Thema zu versprechen als die teilweise recht kursorischen Beobachtungen, die der Leser tatsächlich zwischen den Buchdeckeln findet, eingebettet zwar in fundamentalere Überlegungen zum mittelalterlichen Denken über Tiere, ohne jedoch die Konsistenz und Systematik zu bieten, die eine gründliche Darstellung dieses Komplexes eigentlich erfordern würde.

Was nicht auf den ersten Blick ins Auge fällt, aber ersichtlich wird, wenn man das Impressum studiert, vermag dieses Defizit des Buches bereits vorab zu erklären. Es handelt sich nämlich ursprünglich nicht um eine selbständige Publikation, sondern um den Auszug aus einem größeren Bildband mit dem Titel "Das leuchtende Mittelalter", der sich mit französischen illuminierten Manuskripten auseinandersetzt.

Das Themenkapitel zu Tieren von Michel Pastoureau wurde nun vom Primus Verlag als eigenes Büchlein aufgelegt. Dieses weckt jedoch von seinem etwas irreführenden Titel her Erwartungen, die das schmale, kleinformatige Bändchen mit seinen 110 Seiten nicht erfüllen kann. Positiv fällt allerdings zunächst die optische Aufmachung auf: der Band ist schön gestaltet; der Text wird durch viele hochwertige Illustrationen aufgelockert, die jeweils von einem kurzen Kommentar begleitet sind.

Der Inhalt mag hingegen dem Themenkapitel eines größeren Bandes angemessen sein, nicht jedoch einer eigenen Publikation, die durch ihre Titelgebung suggeriert, den Leser umfassend über mittelalterliche Bestiarien aufzuklären. Das Wort "Bestiarium" nämlich ist eine Gattungsbezeichnung der mittelalterlichen Literatur, die in aller Regel Werke meint, die verschiedene Tiere aufführen und diese mit ihren Eigenschaften und Bedeutungen erklären. Der Begriff des Bestiariums wird jedoch von Pastoureau kaum aufgegriffen. Dieser Makel ist allerdings eher dem Verlag anzulasten als dem Autor selbst, da die Entscheidung, ein einzelnes Kapitel aus seinem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen und als neuen Titel gesondert zu veröffentlichen, verschiedene Probleme nach sich zieht.

Die Problematik liegt zum einen in der mangelnden Tiefe der dargebotenen Informationen. Viele wichtige Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Thema unbedingt Erwähnung verdienen, werden nur sehr kurz angerissen oder gar nur in einer Bildunterschrift skizziert. So fehlt es der Darstellung des Symbolgehalts von Tierdarstellungen an einer gründlicheren Fundierung in der mittelalterlichen Welt- und Naturdeutung. Das Mittelalter sah gemäß der Zwei-Bücher-Lehre nicht nur die Möglichkeit, aus der Heiligen Schrift Kenntnisse über die Welt zu entnehmen, sondern auch aus der Schöpfung – diese lässt sich ebenfalls lesen wie ein Buch, denn alle Elemente in ihr verweisen auf den göttlichen Schöpfer zurück. Das von Pastoureau nur sehr kurz in wenigen Sätzen skizzierte Denken des Mittelalters, das stark auf Analogien basiert, bediente sich hier der Allegorie (griechisch "Anders-Sagen", eine Sprechweise, die die literalen, also wörtlichen Bedeutungen mit einer zweiten, übertragenen Sinnebene unterlegt). Dieses wichtige Konzept, das quasi alle Bereiche mittelalterlicher Kunst und Literatur durchsetzt, wird von Pastoureau nicht genügend erläutert, stellt jedoch die Grundlage dar, auf der überhaupt erst viele mittelalterliche Auffassungen zu verstehen sind.

Gerade auch die Tierwelt wird anhand dieser Deutungsmuster interpretiert. So wird etwa das Einhorn zur Allegorie Christi, zum geistlichen Einhorn (unicornis spiritalis), wenn das Mittelalter seine verschiedenen Eigenschaften – es lässt sich fangen, indem man es in den Schoß einer Jungfrau lockt; mit seinem Horn kann es vergiftetes Wasser reinigen beziehungsweise ist auch hilfreich gegen Schlangengift – auf Christus hin ausdeutet, der ebenfalls in den jungfräulichen Schoß gekommen ist und den Teufel, "die alte Schlange", überwunden hat. Im Buch verwendete Formulierungen, wie dass eine "Affinität zu Christus" vorliege, greifen hier viel zu kurz und können nicht einmal annähernd den Hintergrund erfassen, der zum Verständnis des Phänomens notwendig wäre.

Das zweite große Problem des Bandes sind dessen Aufbau und Struktur. Der Inhalt gliedert sich in die drei Kapitel "Das Tier im Buch", "Das Tier im Bild" sowie "Das Tier in der Geschichte". In allen drei Teilen liegt allerdings das Hauptaugenmerk des Autors auf der Ikonographie bzw. vor allem der Buchmalerei; daher ist der mittlere Teil auch das  kohärenteste Kapitel. Der erste Abschnitt, "Das Tier in der Literatur", hat dagegen zum Beispiel über die fiktionale Literatur, also die Tierdichtung, kaum etwas zu sagen, obwohl diese im Mittelalter außerordentlich reich ist. Das letzte Kapitel, das dem Titel nach zu urteilen die Realhistorie besprechen müsste, beschränkt sich ebenfalls auf einige ganz wenige Anrisse historischer Gegebenheiten, hat dafür aber wieder umso mehr über Bildwerke zu berichten (die aber laut Kapitelüberschrift ihren Platz im zweiten Abschnitt, "Das Tier im Bild", hatten). Dass Illustrationen häufig überhaupt nicht dort platziert sind, wo der Text auf sie Bezug nimmt, ist auch nicht eben hilfreich (liegt allerdings auch nicht in der Macht des Autors).

Die Lektüre lässt so auf der einen Seite gelegentlich den Eindruck von Redundanz entstehen – manches wird mehrfach abgehandelt –, auf der anderen Seite stört der Leser sich an der fehlenden Systematik, die auch manche Zusammenhänge verunklart. So wird z.B. bereits im ersten Kapitel indirekt Bezug auf den Physiologus genommen, eine frühchristliche Naturlehre, die die gesamte spätere Tierliteratur des Mittelalters und der frühen Neuzeit beeinflusst hat. Erst gegen Ende des Buches wird allerdings der Physiologus explizit erwähnt und erklärt, worum es sich dabei handelt (und auch das recht kurz).

Zu guter Letzt fallen einige sprachliche Ungenauigkeiten ins Auge, bei denen sich allerdings schwer entscheiden lässt, inwiefern sie der Übersetzung aus dem Französischen geschuldet sind. Wenn gesagt wird, dass der aus Meeresschnecken gewonnene Farbstoff verwendet werde, um Purpur "nachzuahmen", ist das natürlich unsinnig, denn beim Purpur handelt es sich um nichts anderes als eben diese aus den Purpurschnecken hergestellte Farbe. Ebenso wird mehrfach von "den Hagiographien" gesprochen – das ist so nicht richtig, denn "Hagiographie" ist die übergreifende Bezeichnung für Schrifttum, das sich mit dem Leben von Heiligen beschäftigt, und als solches nicht im Plural zu verwenden. Richtig wäre "hagiographische Texte" oder "Legenden".

Dem steht allerdings die generell gute Lesbarkeit des Buchs entgegen, das komplizierte Fachterminologie zumeist vermeidet und sich damit wohl auch und vor allem an den interessierten Laien richtet. Ausgesprochen gut und anschaulich erklärt werden ebenso viele Charakteristika der mittelalterlichen Tierdarstellungen in der Buchmalerei, die dem modernen Betrachter Rätsel aufgeben. Pastoureau erläutert eingängig, dass sich diese Bildwerke unter Rückriff auf "ikonographische Codes" interpretieren lassen, was besonders auch die Kontraste zu modernen Darstellungskonventionen und Auffassungen deutlich werden lässt. So sehen die mittelalterlichen Tiere ihren realen Vorbildern häufig nur entfernt ähnlich, was dadurch bedingt ist, dass ihre Abbildung bestimmten vorgegebenen Mustern entspricht, die sich nicht unbedingt an der Realität orientieren, sondern stärker im Hinblick auf ihren symbolischen Gehalt gesehen werden müssen. Auch moderne Klassifikationen wie zum Beispiel der Begriff "Säugetier" waren dem Mittelalter fremd, was manche den modernen Rezipienten befremdende Zuordnung erklärt.

Insgesamt bietet des Buch auf populärwissenschaftlichem Niveau (es wird außer in den Bildunterschriften weitgehend auf Quellenangaben verzichtet) einen Überblick zum Thema "Tiere in der mittelalterlichen Malerei", der viele interessante Aspekte beinhaltet, leider aber auf ebenso viel Relevantes verzichtet und daher in Teilen etwas einseitig bleibt. Wer sich ausführlich zum Thema informieren will, kann das – allerdings im Verhältnis zum Umfang nicht eben preiswerte – Bändchen als ersten Einstieg nutzen, sollte aber unbedingt weitere Werke heranziehen. Die Entscheidung des Verlags, aus dem ehemals einem ganzen Buchkonzept untergeordneten Kapitel eine eigene Publikation zu machen, hat sich in diesem Fall nicht ausgezahlt.

Titelbild

Michel Pastoureau: Das mittelalterliche Bestiarium.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer.
Primus Verlag, Darmstadt 2013.
112 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783863120504

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