Monarch und Moderne

Dominik Petzold erklärt wie zwei extreme Gegensätze im frühen Kino zueinander fanden

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

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Eines der wohl erstaunlichsten Phänomene im Wilhelminischen Reich war die scheinbare Harmonie zwischen technischer Moderne und politisch-gesellschaftlicher Reaktion. Mit Begeisterung nutzten die konservativen Eliten des autoritären deutschen Klassenstaates die Errungenschaften der Technik wie etwa Eisenbahnen oder Telegrafie zur Sicherung ihrer Macht. Selbst das nach der Jahrhundertwende rasch zum beliebten Massenmedium aufsteigende Kino bildete dabei keine Ausnahme. Zwar hatte der für technische Entwicklungen höchst  aufgeschlossene Monarch anfangs noch Berührungsängste, doch nachdem die gröbsten qualitativen Mängel des neuen Mediums behoben waren, entwickelte sich ausgerechnet die Kinematografie mit ihrem klassenübergreifenden Publikum  rasch zu einer unverzichtbaren  ideologischen Stütze des Obrigkeitsstaates und dessen höchsten Repräsentanten.

Dass der frühe Film dazu beitrug, das Hohenzollernregime im gesamten Reich zu popularisieren und im Ansehen zu festigen, verdankte sich allerdings weniger einer konsequenten Öffentlichkeitsarbeit des zuständigen Hofmarschallamtes, sondern resultierte vielmehr aus einem Bündel eher zufälliger Faktoren, die der Kulturwissenschaftler und Journalist Dominik Petzold in seiner Dissertation einer gründlichen Analyse unterzogen hat.

So wiesen etwa die ersten Filmsequenzen, die Ende 1895 erstmals in meist provisorischen Vorführräumen aufflackerten und noch ganz in der Tradition des älteren Projektionsgewerbes standen,  mit ihren abrupten Szenenwechseln und ihrer dem Spektakulären verhafteten Bildersprache große Überschneidungen mit dem Politikstil des Kaisers auf. Wilhelms ungezählte Auftritte in der Öffentlichkeit, meist vor dem Hintergrund aufwendiger Militärparaden, Monarchenbegegnungen oder prunkhafter  Eröffnungsfeierlichkeiten ließen sich hervorragend in das  frühe „Kino der Attraktionen“ integrieren. Ging es doch in den meist nur Sekunden dauernden Filmsequenzen, die kommentarlos aufeinander folgten, nicht um Deutungen, sondern um Effekte und Sensationen. Im Zeitalter der sich anbahnenden Populärkultur trug somit das nicht endende Kostümfest des Kaisers ebenso zur Unterhaltung breiter Schichten bei wie die Bilder rasender Automobile, gigantischer Zeppeline oder pompöser Schiffstaufen. Der Monarch zählte somit bald zu den wenigen Personen im Kaiserreich, die regelmäßig gefilmt wurden. Seriöse Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ließen sich im Gegensatz zum operettenhaft agierenden Kaiser nur schwer zwischen Jahrmarktakrobatie und Slapstick unterbringen.

Anzeichen von Überdruss des Publikums angesichts seiner starken Präsenz sind nicht belegt, vielfach wurde das Erscheinen des Kaisers auf der Leinwand sogar begeistert beklatscht. Auch mit dem Aufkommen der Wochenschauen, die das alte „Kino der Attraktionen“ kurz vor dem Ersten Weltkrieg ablösten, trat sogar noch eine Steigerung der kaiserlichen Präsenz im öffentlichen Raum ein. Allein im Jubiläumsjahr 1913 tauchte Wilhelm nachweislich in 65 Filmaufnahmen auf. Jetzt profitierte er davon, dass die frühen Filmgesellschaften wie  Pathé frères oder die Deutsche Bioscope bei einem nur spärlichen Korrespondentennetz regelmäßig dringend auf neues Material angewiesen waren. Ein flexibles Reagieren auf aktuelle Geschehnisse im gesamten Reich war allein schon wegen der teuren und schwer zu transportierenden Filmausrüstung nur in Ausnahmefällen möglich. Die zahllosen Auftritte des Kaisers schufen da jedoch eine willkommene Abhilfe, da sie schon feststanden und daher für die Produzenten der Wochenschauen planbar waren.  Weil auch die Kamerapositionen vom akribisch agierenden Protokoll strikt zugewiesen wurden und allein wegen der Schwere des Gerätes während des Zeremoniells kaum verändert werden konnten, war es für das Hofmarschallamt vergleichsweise einfach, seine Kontrollfunktion wahrzunehmen und nicht gewünschte Aufnahmen zu verhindern oder wenigstens zu erschweren. Den Rest erledigte die rigorose Zensur des preußischen Polizeistaates. Nicht etwa eine ausgeprägte monarchische Gesinnung, sondern allein der gesunde Geschäftssinn von Filmpionieren wie etwa Oskar Meester, der auch auf eigene Kosten Wilhelms spektakuläre Orientreise im Jahre 1898 filmisch dokumentieren durfte, verhalfen dem Kaiser zu seiner beispiellosen Popularität in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Bei über 2.300 Kinos im ganzen Reich (1913) und täglich mehr als einer Mio. Besucher erreichten seine Bilder bald auch die entlegensten Regionen. Keiner verkörperte wie Wilhelm II. Stärke und Prestige des aufblühenden deutschen Nationalstaates. So war es auch nicht weiter erstaunlich, dass  die Propagandastrategen des Reichsmarineamtes den hohen Marketingwert des Kaisers erfolgreich für ihre ambitionierte Flottenpolitik nutzen konnten.  Die moderne Massenmanipulation im antiquierten Klassenstaat machte auch vor den Schulen nicht halt, wo fortschrittliche Pädagogen zunächst nach Wegen gesucht hatten, den leidigen Frontalunterricht durch Filmsequenzen zu ergänzen. Doch statt Bildung gab es zum Ärger der energisch protestierenden Sozialdemokraten meist nur vaterländische Gesinnung.

Dass sich über knapp zwei Dekaden das scheinbar Unvereinbare,  hier das Kino als hervorgehobener „Ort der Moderne“, dort der Kaiser mit seinem antiquierten absolutistischen Herrschaftsverständnis zu einer höchst eigentümlichen Symbiose fanden, basierte auf einem Bündel von höchst heterogenen Interessen. Auf Seiten des Publikums war es vor allem das Unterhaltungsbedürfnis, das Wilhelm mit seinen pompösen Inszenierungen bestens zu bedienen verstand. Die geschäftstüchtigen Produzenten wiederum schätzten das Staatsoberhaupt wegen seines hohen Marketingwertes und auch weil es kaum ein vergleichbares Ersatzmotiv gab, während der Kaiser und sein Hofmarschallamt rasch die systemstabilisierende Funktion der  neuen Kinematografie erkannt hatten und darauf setzten, durch eine geschickte Auswahl der Filmemacher das öffentliche Bild des Monarchen wesentlich mit prägen zu können. Petzold hat dieses Zusammenspiel der einzelnen Akteure aus ihren unterschiedlichen Perspektiven  auf der Grundlage einer reichen Quellenbasis rekonstruiert und insgesamt ein facettenreiches Bild von Möglichkeiten und Grenzen damaliger Öffentlichkeitsarbeit und Kinopropaganda gezeichnet. Die wohl entscheidende Ursache für das glänzende propagandistische Zusammenspiel von Kino und Kaiser erwähnt der Verfasser jedoch kaum. Offenbar liebte die Mehrheit der Deutschen über sämtliche Klassen  hinweg den starken Mann an der Spitze des Staates. Höchst aufschlussreich hätte daher ein Exkurs über mögliche vergleichbare Entwicklungen im Ausland sein können. Wie auch immer: Als Wilhelm II. mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges die ihm zugedachte Rolle als herausragende Persönlichkeit an der Spitze einer angehenden Weltmacht jedoch in keiner Weise auszufüllen vermochte, ersetzte ihn mit Hindenburg rasch ein siegreicher Heerführer als nationaler Propagandaheld. Ganz folgerichtig avancierte der rüstige Greis dann auch in der Weimarer Republik als Reichspräsident zum neuen Ersatzkaiser.

Titelbild

Dominik Petzold: Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter.
Schöningh Verlag, Paderborn 2011.
424 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783506773210

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