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„Lost Highway“ und der Mythos des Goldenen Westens

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Studie „Die ewige Nachtfahrt. Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film ‚Lost Highway‘ von David Lynch“ des Autors Hauke Haselhorst beruht auf seiner Dissertation und untersucht einen der wohl kryptischsten Filme der 1990er- Jahre. Die Publikation widmet sich besonders Lynchs unkonventioneller Erzählweise, und zwar  anhand eines sogenannten selbsterstellten Sequenzprotokolls. Ein weiterer wichtiger Analyseaspekt sind die intertextuellen Bezüge zu der Ästhetik der Maler, die David Lynch nach eigener Aussage am meisten beeinflusst haben, nämlich Edward Hopper und Francis Bacon. Das Drama von Lost Highway wird als Monomythos erzählt, der sowohl zum Modell der Heldenfahrt als auch zum kosmogonischen Zyklus gehört. Eine neue – umso schaurigere Lesart – ermöglicht es auch, den Film als Metapher auf den amerikanischen „Weg in den Goldenen Westen“ zu interpretieren, denn auch dieser spielte sich hauptsächlich als Mythos im Kopf der Protagonisten ab.

Das unsichtbare Dritte

Im ersten Kapitel wird in die Filmsemiotik und die filmischen Zeichen eingeführt, wobei unter anderem auch sehr viele Bezüge zu Alfred Hitchcock hergestellt werden. Zudem werden viele der beschriebenen Inhalte mit Farbfotos aus einzelnen Filmen illustriert und erklärend erläutert. Der Erfolg von Hitchcocks Film „Der unsichtbare Dritte“ könne etwa dadurch erklärt werden, dass er die Mordtat nicht wie allgemein üblich in einer dunklen, verdreckten Szenerie ansiedelte, sondern auf freiem Feld in der Mittagssonne und noch dazu mittels eines Flugzeugs. Diese „paradigmatische Opposition“ sei ein Teil des Geheimnisses des Erfolges, die Abweichung von einer Schablone werde durch eine teilweise Semekonkordanz (Zeichenübereinstimmung) erzielt, aber eben überraschenderweise durch neue Mittel ersetzt: Die schwarze Limousine, aus der heraus in Filmen oft gemordet wurde, durch ein Flugzeug (paradigmatische Opposition). Die Erwartungen des Zuschauers abwechselnd zu erfüllen und nicht zu erfüllen, sei die Grundlage für das Element der Spannung. Der Regisseur erzeuge bei der äußeren Montage die Grammatik, aber der Zuschauer konstruiere den Text selbst. Bei der inneren Montage sei es umgekehrt, denn sie vermittelt zwei verschiedene Bilder synchron.

Der Monomythos und die Kraft von Märchen

Nach dieser äußerst aufschlussreichen und lesenswerten Einführung in die Theorie des Films widmet sich der Autor dann dem Monomythos.  „Der Mythos erlaube es dem Menschen und seinem Leben, sich selbst als Person in einer Dichtung zu begreifen, und das Leben selbst als Dichtung zu verstehen, wobei die Mythologie zur Kunst und Dichtung inspiriere“, formuliert Haselhorst in Anlehnung an Joseph Campbells „Kraft der Mythen“. Mythos und Märchen seien psychische Manifestationen, die das Wesen der Seele darstellen, der Traum sei ein personalisierter Mythos, der aber zugleich ein „entpersönlichter Traum“ sei. Die Archetypenlehre C. G. Jungs wird hier mit der Filmtheorie verknüpft und das filmische Zeichen einer archetypischen Struktur des kollektiven Unbewussten zugeordnet. Schließlich haben der Mythos und auch Märchen eine pädagogische Funktion, nämlich im Sinne der Frage „wie man unter allen möglichen Umständen ein menschliches Leben führt“ (Campbell). Die Konsequenz des Mythos sei also die Ethik.

Der kosmogonische Zyklus

Die „Reise des Helden“ oder „Fahrt des mythischen Heros“ mag sich zwar in äußeren Bildern abspielen, aber im Grunde geschehe sie „drinnen und führe in Tiefen, wo finstere Widerstände überwunden und lang verlorene und vergessene Kräfte wieder belebt werden, damit sie der Verwandlung der Welt dienen können“ (Campbell). Die Initiationsreise sei der Signifikant für die innere „mühselige und gefährliche Aufgabe der Selbstentdeckung“, denn verlasse man den behaglichen Bereich, so werde der gewohnte Kosmos nicht nur erschüttert, er werde auch zerstört. Die Zerstörung der Gewohnheit sei natürlich mit Angst verbunden, aber sie ziehe „eine Genese einer reineren, höheren Seinsstufe und einen reineren Kosmos nach sich“, so Haselhorst. „Hierin liegen die unglaubliche Verlockung und der Reiz der Selbstentdeckung der Heldenfahrt, des Abenteuers, der Initiation. Das Abenteuer sei symbolisch eine Manifestation des Charakters des Helden, selbst die Landschaft und die ganzen äußeren Bedingungen passen zu seiner Bereitschaft und compliance. Das höchste mythische Ziel sei es, mit seinem Gott vereint zu sein, damit die Dualität überwunden wird und das Geheimnis des Seins der Welt entschlüsselt wird.

Die Filmanalyse: A 21st Century Noir Horror Film

Der dritte Teil der Publikation widmet sich dann der Analyse des Films „Lost Highway“ anhand des Sequenzprotokolls und der Deutung des Filmes im Sinne des Fabula- oder Storybegriffes. Die Dubletten der filmischen Zeichen und ihre Rolle als syntagmatische Zeichen beim Erkennen der Erzählperspektive werden ebenso aufgedeckt wie die tiefere Bedeutung des „Mystery-Man“, dem Mann ohne Namen. Durch die Illustration der Analyse mit Abbildungen von Bildern des Films und zeitgenössischer Kunstwerke von Hopper und Bacon in Farbe wird deutlich, von wem Lynch hier beeinflusst wurde. Haselhorst analysiert auch die Farbenwahl des Filmes, etwa wenn Blau auf Träume oder Erträumtes hinweist, Weiß auf Auferstehung/Braut und Rot auf Verlust rekurriert. Der Autor zitiert aber nicht nur Filmszenen, sondern auch Dialoge und das – besonders lobenswert – im Original mit deutscher Übersetzung. Als wesentliches Element der Analyse erklärt er auch den fugue state des Protagonisten Fred, der sich im Gefängnis eine Scheinwelt aufbaut, die letztendlich zu einem ebensolchen Albtraum wird wie die Realität der er entfliehen wollte. Der Untertitel des Filmes im Drehbuch lautete nicht umsonst: „A graphic investigation into parallel identity crisis. A world where time is dangerously out of control. A terrifying ride down the lost highway“.

Offene Fragen

Wenn am Ende des Films die Kamera wieder auf die gelben Mittelstreifen hält, hat man das Gefühl, dass alles wieder von vorne beginnt. Lynch „lädiert hier subversiv das Grundmotiv der Straße als Metapher für die Veränderung zum Besseren nicht nur in der amerikanischen Mythologie, wie z.B. der Weg der amerikanischen Pioniere in den goldenen Westen“, analysiert Haselhorst paradigmatisch. Genauso wie sich der Protagonist Fred nämlich eine bessere Welt im Kopf ausmalt, führte auch der Weg in den „goldenen“ Westen oft zu noch größeren Albträumen für die Mythos-hörigen Protagonisten der Wagentracks. Bei aller „Brillianz“ der filmischen Analyse, bleibt uns der Autor aber doch auch einiges schuldig: nämlich eine inhaltlicheAnalyse. Die Szenen, in der Andy auf so spektakuläre Weise stirbt, schreit wohl ebenso nach Interpretation wie der Umstand, dass es für Pete (aka Fred) eine Sheila undeine Alice gibt, während es für Fred doch nur eine Renée gibt. Aber manche Geheimnisse muss man trotz allem eben doch selbst für sich entschlüsseln. „Die ewige Nachtfahrt“ ist nicht nur für Lynchfans und Filmfreaks eine äußerst inspirierende Lektüre, die uneingeschränkt empfohlen werden kann, um den eigenen Interpretationsrahmen um einige Dimensionen zu erweitern.

Titelbild

Hauke Haselhorst: Die ewige Nachtfahrt. Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
348 Seiten, 36,80 EUR.
ISBN-13: 9783837620795

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