Brasilianische Klassiker in Neuauflage II: Die Literatur des Nordostens

Graciliano Ramos und João Ubaldo Ribeiro

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brasiliens Weg in die literarische Moderne ist untrennbar mit der Literatur des sertão verbunden – jener spärlich besiedelten, kargen Region im Nordosten des Landes, die noch immer kaum erschlossen ist und mit ihrer steppenartigen Flora und lang  andauernden Trockenheit in einem der Naturdichtung entlehnten Wortsinne alles andere als landschaftlich ‚schön‘ bezeichnet werden kann. Die sertão-Literatur ist eine der wichtigsten Strömungen in der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Anlässlich der Buchmesse gibt der Wagenbach-Verlag mit der Neuauflage zweier Klassiker dem deutschen Leser die Möglichkeit, die Region im Nordosten des Landes literarisch zu erleben. Graciliano Ramos´ 1938 erschienenes „Karges Leben“ markiert dabei den Anfangspunkt einer Entwicklung, die mit João Ubaldo Ribeiros brachialem Roman „Sargento Getúlio“ ihren gleichermaßen furiosen wie traurigen Höhepunkt findet.

Der sertão ist rau, ursprünglich und mitunter gefährlich: nicht nur der wilden Tiere und tödlichen Insekten wegen, die hier leben, sondern auch wegen der extremen klimatischen Bedingungen, die dem Menschen das Überleben schwer machen. Nicht zuletzt ist es die Entfernung von der Zentralregierung – erst in Rio, dann in Brasilia –, die dafür sorgte, dass im Nordosten etwas andere Strukturen und Gesetze herrschten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war das Zusammenleben feudal strukturiert, reiche Landgutbesitzer herrschten über ihre Ländereien, hielten sich abgehalfterte Söldner als Wachen – sogenannte jagunços – und sorgten dafür, dass die umliegenden Dorfbewohner Arbeit und Nahrung hatten. Die Situation hat sich mittlerweile geändert. In den 1970er- und 1980er- Jahren kam es durch die Binnenwanderung in den Südosten zu einer fortschreitenden Entvölkerung der nordöstlichen Regionen, die Landwirtschaft verlor mehr und mehr an Einfluss, die Industrie wurde zum Motor des Landes. Inzwischen leben nur noch rund 15% der Brasilianer auf dem Land, während die Städte explodieren. Diese Modernisierung des Landes und die damit einhergehende zunehmende Marginalisierung des Nordostens war immer begleitet von einer Literatur, die sich zum einen als Speichermedium für die Traditionen und Besonderheiten dieser Region verstand, zum anderen aber auch einen kritischen Kommentar darstellte. Sie machte auf die Gefahr der zunehmenden Zentralisierung aufmerksam: dass dabei Teile des Landes in Vergessenheit zu geraten drohen.

Der sertão ist, ähnlich wie der US-amerikanische Wilde Westen, ein Landstrich, um den sich Legenden ranken, der nach eigenen Gesetzen funktioniert und der sich der Regierungsgewalt immer ein Stück weit widersetzte. Nicht nur politisch, auch ästhetisch: der Weg Brasiliens in die künstlerische Moderne ist eng mit dem Aufkommen des ersten modernismo in den 1920er- Jahren verknüpft. Protagonisten dieser Bewegung waren Mário de Andrade (1893-1954) und der nicht mit ihm verwandte Oswald de Andrade (1890-1954), die eine genuin brasilianische Literatur und Kultur forderten, die sich allerdings in ihren Mitteln an den europäischen Avantgarden orientierte. Europäische Kunst solle ‚aufgefressen‘, ‚verdaut‘ und mit dem ‚typisch Brasilianischen‘ vermengt werden, dass eine wahrhaft brasilianische Kultur dabei herauskommen könne, die von ihren ästhetischen Mitteln her der europäischen Kunst durchaus ebenbürtig, wenn nicht überlegen sei – so Oswald in seinem furiosen „Manifesto de Antropofagia“ (Menschenfressermanifest, 1928). Der modernismo war daher internationalistisch ausgerichtet und zugleich eine deutlich auf die Zentren des Landes beschränkte Bewegung – der Nordosten kam im Programm nicht vor. Graciliano Ramos, aus der Kleinstadt Quebrangulo im Bundesstaat Alagoas an der Küste im Nordosten, brachte diese Ausgrenzung durch das ästhetische Programm auf eine Formel: „Diese Literatur wird von Dickbäuchen, Bankiers, Aktionären, Großhändlern und von Leuten verfasst, die sich nicht vorstellen können, dass andere Grund zur Unzufriedenheit haben.“ Er nannte sie ‚Blender‘, ‚Komödianten‘, die ihre „nette kleine Bewegung vorantrieben“ und Marinetti importierten, während er im Nichts von Alagoas Kattun verkaufe.[1] Das Projekt des modernismo erschien ihm segregierend, separatistisch und ästhetizistisch. Die elaborierte Literatur der Modernisten konnte der kulturellen Alterität und dem agrarischen Charakter des Nordostens mit seinen Besonderheiten nicht gerecht werden.

Ramos war zunächst ein kleiner Beamter in Palmeira dos Indios und zudem Besitzer eines kleinen Ladens gewesen, später Direktor der Druckerei in der Hauptstadt von Alagoas und kurz darauf Staatssekretär. Seinen ersten Roman „Caetés“ hatte er 1925 begonnen, also bereits 33jährig, er erschien 1933, nur ein Jahr später „São Bernardo“ (deutsch 1960), worin Ramos den fiktiven Baumwollfarmer Paulo von seinem Leben in Alagoas berichten lässt. Rücksichtslos und mit Gewalt schafft es Paulo, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, nicht ohne dabei auszubeuten und zu betrügen. Zentral für den Roman ist, dass Paulo als ein Charakter gezeichnet wird, der nicht aus sich heraus, sondern durch die sozialen Umstände zu dem wird, was er ist. Ganz ähnlich ergeht es Luís im Nachfolgeroman „Angústia“ (deutsch Angst, 1978), der zunächst an einer schrecklichen Tat in seiner Vergangenheit zugrunde zu gehen droht, tatsächlich aber ebenso an seinem Milieu verzweifelt wie sein Vorgänger Paulo. Beide Romane sind sprachlich schlicht gehalten, legen ihr Augenmerk eher darauf, ihre Figuren psychologisch auszuloten: es sind Psychogramme, die versuchen, zu analysieren und gerade dadurch nicht vollständig überzeugen können. Zudem sind die Texte Zeugnisse des Lebens im Nordosten Brasiliens, eingespannt zwischen den Polen von Arbeitertum und Landherrschaft, von Ausbeutung und Unterdrückung.

Hinter den elaborierten Ansprüchen des modernismo musste eine solche Literatur jedoch weit zurückstehen. Die fast naive Psychologisierung von Ramos‘ Figuren fand in Andrades theoretischem Konzept, geschult an Friedrich Nietzsche und vor allem  Sigmund Freud, keinen Platz. Neben sprachlich, stilistisch aber auch intertextuell aufgeblähten Romanen wie dem epochalen „Macunaíma“ (1928) von Mário de Andrade, aber auch thematisch einen ganz anderen Horizont offenbarenden Texten wie Oswalds „Serafim Ponte Grande“ (1933), der in experimenteller Erzählweise den Börsencrash der Wall Street und seine Folgen aufarbeitete, wirken Ramos‘ Romane schlicht, klein und wenig innovativ.

Ramos stellt dieser Literatur etwas ganz und gar Unprätentiöses entgegen. In seinem berühmtesten Roman „Vidas Sêcas“, wie „Karges Leben“ im Original heißt, erzählt er von Fabiano und seiner Familie ­– eine Frau, zwei Kinder, ein Hund – und ihrer Wanderschaft durch Alagoas im Nordosten auf der Suche nach Arbeit. Die große Trockenheit hat dazu geführt, dass sie ihren letzten Arbeitsplatz aufgeben mussten, es gab schlicht nichts mehr zu tun, jetzt hoffen sie auf den Regen. Als er endlich da ist, dürfen sie eine kleine Farm für den abwesenden Großgrundbesitzer bestellen. Die Arbeit ist hart, die Entbehrungen groß und die einzige Abwechslung sind kurze Besuche in der namenlosen, nächstgelegenen Stadt. Bei einem dieser Besuche gerät Fabiano im Suff mit einem gelbhäutigen Polizisten aneinander und muss eine Nacht in der Zelle verbringen. Außer der Familie wird diese Figur die einzige sein, die noch im Roman auftritt und außer einem weiteren Besuch der Stadt, in der sich Fabiano auf einem Fest erneut betrinkt und auf Rache sinnt, den Polizisten jedoch nicht findet, wird dies auch das einzige Ereignis in dem Roman bleiben. Karg und spärlich ist dieser Text also sowohl, was seinen Plot betrifft, als auch durch Figurenpersonal und Sprache. Formal spiegelt er damit, was er inhaltlich beschreibt.

„Karges Leben“ als ersten Roman Ramos‘ nun neu zu veröffentlichen (eine erste deutsche Ausgabe erschien 1966 unter dem Titel „Nach Eden ist es weit“) ist ein mutiges Unterfangen des Wagenbach-Verlags. Zum einen fällt es schwer, die besondere Stellung des Romans in der brasilianischen Literatur ohne einen helfenden Kommentar oder ein Nachwort zu verstehen; zum anderen muss er dem heutigen Leser, zumal dem deutschen, als ein fremder, langweiliger Text erscheinen. Die Handlung ist auf ein Minimum beschränkt, der Erzähler – der Roman ist in der dritten Person erzählt – ist völlig distanziert, gibt keinen ordnenden Kommentar, erklärt nicht. Die Erzählung ist dominant intern auf Fabiano fokalisiert, verlässt seine Gedanken aber für einzelne Kapitel, um wechselnd seine Frau, die beiden Kinder oder gar den Hund in den Fokus zu rücken. Dieser Wechsel der Perspektive führt zu Wiederholungen, eher belanglose Ereignisse werden immer wieder aus unterschiedlichen Sichtweisen erzählt. Zudem scheinen sich auch die Gedanken Fabianos selbst immer wieder zu wiederholen. Er kreist um sich selbst und um sein Leben:„Fabiano, du bist ein großartiger Kerl“, sagt er sich, um kurz darauf zu dementieren: „Du bist ein Viech, Fabiano.“

Immer wieder denkt er an den Polizisten, immer wieder an sein fortschreitendes Alter, die Trockenheit und die Zukunft. Ganz ähnlich seine Frau, die hauptsächlich daran denkt, einmal ein richtiges Bett zu haben, eines aus Leder, so wie ihr ehemaliger Herr, Seu Tomás. Eine Entwicklung findet also weder in den Gedanken der Protagonisten noch innerhalb der Handlung statt: weder geschieht ein Ereignis, das das Leben grundsätzlich verändern würde, noch verhilft eine Einsicht den Figuren zur Erkenntnis eines vermeintlichen ‚Sinns‘ oder zum Finden einer Lösung. Das Ende wiederholt den Anfang.

Diese zirkuläre Struktur jedoch ist kein Fehler in der Komposition des Romans, sondern bedeutungstragend und zentral für das Verständnis. Sie zielt darauf ab, den tatsächlichen Alltag der Wanderarbeiter abzubilden und ihre Eintönigkeit in die Romankonstruktion selbst zu übertragen. Ganz anders als in den sozialkritischen Romanen Jorge Amados aus jener Zeit bleibt eine eindeutige Ideologie, eine Sozialkritik somit außen vor. Die herrschende Struktur, die gesellschaftliche Ordnung wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt oder durch eine Erzählerinstanz kritisiert, im Gegenteil, sie wird scheinbar als gegeben hingenommen: „Irgendwann einmal würde sie der Alte rausschmeißen, und sie würden sich auf den Weg machen, ohne Ziel, ohne Möglichkeit, ihre Habseligkeiten mitzunehmen. Sie würden aus der Reisetasche leben und wie wilde Tiere unter Bäumen schlafen.“

Was bleibt, ist nur ein kleines Stück Hoffnung: „Aber eines Tages würde er seine Behausung verlassen, ein Mensch sein: ‚Ein Mensch, Fabiano‘.“ Die direkte Rede an dieser Stelle ist Fabiano, der mit sich selbst spricht, der sich selbst davon überzeugen muss, ein Mensch zu sein. Tatsächlich unterscheiden sich die Menschen hier nicht sonderlich von den Tieren, sie orientieren sich am Stand der Sonne, sie ziehen herum, um Nahrung, Obdach zu finden, werden vertrieben und kurzzeitig beherbergt.

Die Sozialkritik, die im Roman steckt, ist harsch, aber sie ist nicht offensichtlich. Sie muss vom Leser aktualisiert werden. Am prägnantesten ist das vielleicht in der immer wiederholten Forderung von Fabianos Frau Vitória vorgeführt: Sie „wünscht, genauso ein Bett zu haben wie Tomás, der Zuckermüller“. Bei diesem litaneiartig wiederholten Wunsch bleibt der Roman stehen und es braucht die Reflexion des Lesers, um sich selbst die Frage zu beantworten, woher Vitória eigentlich das Bett des Zuckermüllers und ehemaligen Herren der Familie kennt.

Um solche und die vielen anderen kleinen Details in dem Roman zu erkennen, hätte es eines kontextualisierenden Nachwortes und Kommentars bedurft. Es ist dennoch sehr zu begrüßen, dass mit „Karges Leben“ nun wieder einer der bedeutendsten Romane des brasilianischen Neorealismus für den deutschen Leser vorliegt. Es steht zu hoffen, dass er den Impuls für eine Neuentdeckung des Werkes von Graciliano Ramos gibt, der auch heute noch zu den wichtigsten brasilianischen Schriftstellern zählt und zudem zu den wichtigsten Gallionsfiguren für eine aufbegehrende, regimekritische Haltung. Ramos wurde 1936 vom Vargas-Regime verhaftet, ohne Urteil oder Anklage, die Haft verarbeitete er später in den „Memórias do Cárcere“ (Erinnerungen aus dem Gefängnis). Der Vorwurf war lediglich seine pro-kommunistische Haltung, was ihn und sein Werk automatisch ideologisch für die Linke verwertbar machte. Doch all seine Romane sind eben mehr als ideologisch, sie sind psychologisch, auch wenn das vor allem in „Karges Leben“ nicht mehr so offensichtlich ist, wie in den früheren Werken. Sie verstehen sich als Auslotung des Menschen als Gemeinschaftswesen in einem hierarchischen System. Ramos starb 1953. Außer seinen drei Romanen und den Erinnerungen aus dem Gefängnis hinterließ er die 1945 erschienene Autobiografie „Infância“ (Kindheit), die pünktlich zur Buchmesse in deutscher Erstübersetzung von Inés Koebel erscheinen wird, ebenfalls im Wagenbach-Verlag. Der „autobiographische Roman“, wie er im Deutschen untertitelt ist, erzählt die Kindheit und Jugend von Ramos und ist neben „Karges Leben“ sicherlich der eindrucksvollste Text des Schriftstellers: Die Erfahrungen von patriarchalischen Familienstrukturen und trostlosem Kleinstadtleben werden kontrastiert mit dem Weg zur Sprache und zur Literatur, der vielbeschworene Regionalismus Ramos‘ trifft auf Kosmopolitismus, der Einzug hält durch europäische Romane. Mit Gestammel und anderen Lauten beginnt die Autobiografie, mit der finalen Entdeckung der Sexualität und der eigenen Identität endet sie – und mit der Lektüre von russischen Romanen und Azevedo. „Infância“ ist eine beeindruckende Autobiografie, sicher eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts und es ist ein Glück, dass sie durch die Übersetzung jetzt auch dem deutschen Leser zugänglich wird. Nachvollziehbar wird dadurch nicht nur der Mensch Ramos, sondern das Leben im sertão zwischen der harten Natur und der sozialen Wirklichkeit für das Leben des Einzelnen – womit letztlich auch neues Licht auf „Karges Leben“ und seinen traurigen Protagonisten Fabiano geworfen wird.

Wenn der Roman auch zirkulär endete und die Geschichte der Wanderschaft von neuem zu beginnen schien, änderten sich jedoch die Verhältnisse im Nordosten Brasiliens mit der zunehmenden Modernisierung und Industrialisierung des Landes. Wenn auch zaghaft, wurde die Region doch vor allem nach 1945 besser erschlossen, gleichzeitig begann die Abwanderung in die Städte, weil die Landwirtschaft mehr und mehr verdrängt wurde. Die Fabianos verschwanden in die großen Zentren im Süden, zurück blieben die Viehzüchter und ein paar lokale Despoten, die dem zunehmenden Einfluss der Zentralregierung spotteten und inzwischen überholte Traditionen bewahrten. Eine alte Ordnung wird auch heute noch aufrechterhalten, obwohl sie längst überkommen ist. Dies ist das Thema des 1971 erschienen Romans „Sargento Getúlio“ von João Ubaldo Ribeiro (geboren 1941), der ganz sicher zu den wichtigsten noch lebenden brasilianischen Autoren gehört. Sein „Sargento“ schreibt die Geschichte des sertão fort, und das mit einer Wucht, die dem distanzierten Erzählen Ramos längst entwachsen, gleichzeitig ohne ihn nicht denkbar ist.

Wo Fabiano in „Karges Leben“ noch der hinnehmende, sich unterordnende Nordostler ist, der als Untergebener mit Stiefeln getreten wird und sich beständig zwischen „Du bist ein großartiger Kerl“ und „Du bist ein Viech“ bewegt, ist sich etwas mehr als 30 Jahre später der „Sargento Getúlio“ seiner Sache ganz sicher: „Getúlio Santos Bezerra heiße ich, und wenn irgendeiner einen Widder mit dem Stößelschlag auf die Stirn tötet, versetze ich ihm einen Faustschlag auf die Stirn und töte diesen Widder oder irgendwelchen anderen und töte jeden Lebenden. Ich renne, ich brülle, ich schieße besser und schlachte besser und trinke besser und kämpfe besser und streite besser und prügle besser und habe vierzehn Kugeln im Leib und haue Köpfe ab und töte irgendwas, und niemand tötet mich. Ich höre nicht auf Geschwätz, ich rede nicht blöd raus, ich spreche nicht von Weibern, ich schulde niemandem einen Gefallen und habe keine Lust, mich von irgendwem fangen zu lassen.“

Der gewaltige innere Monolog des Sargento ist nicht denkbar ohne die zaghaften, zirkulären Gedanken seines Vorfahren Fabiano. Doch wo dieser zurückgesteckt, dem gelbhäutigen Polizisten weder ein Wort noch einen Faustschlag entgegengesetzt hatte, da spuckt der Sargento Gift und Galle. Er ist vielleicht einer der grausamsten und bedrohlichsten Ich-Erzähler der Weltliteratur. Er foltert, mordet, schießt, quält, lässt sich von niemandem etwas sagen und dabei fabuliert er mit einer Beharrlichkeit, die an Wahn grenzt. Das ständige, sprudelnde Reden jedoch hat einen Grund: von sich zu erzählen ist die einzige Versicherung seiner Identität. „Ich kann nichts tun als sprechen, denn was soll man sonst tun“, sagt er, weil ihm sonst nichts geblieben ist. Auf einer Mission nämlich – er soll einen politischen Gefangenen in die Hauptstadt Aracaju bringen – ändert sich die politische Lage plötzlich: der Auftrag ist hinfällig, der Sargento seiner Aufgabe als Militärpolizist enthoben. So zumindest hört er es, aber glauben kann er es nicht: „Ich bin Sargento von der Militärpolizei vom Staat Sergipe. Ich bin nichts, ich bin der Getúlio. Wenn ich auch gern den Chef hier sehen würde, weil ich allein müde werde, muß ich nachdenken, ich verstehe die Sachen nicht richtig. Ich bin Sargento von der Militärpolizei vom Staat Sergipe. Was ist das? Ich sehe hier den Kragenaufschlag meiner Khakiuniform, der mir am Hals drückt.“

Die Uniform gibt dem Sargento seine Identität. Wo sich Fabiano gefragt hatte, ob er Mensch oder Tier ist, hat der Sargento diese Entscheidung für sich getroffen. Sein Gefangener ist das Tier: „Der ist ein Schlachthausrind, ein Vieh mit Ideen im Kopf“, sagt er über den Namenlosen, den er durch den Busch schleift, weil er den Befehl dazu erhalten hat. Wo der wanderende Viehhirte bei Ramos noch zweifelte, hat sich der Militärpolizist in die Ordnung eingefügt, sie ist ihm von klein auf verinnerlicht worden: „Obere. Gut. Zuerst kommt Gott in der Höhe. Dann, ich weiß nicht genau. Als ich ein kleiner Junge war, war da der Besitzer einer Baumwollmaschine. Als ich ganz klein war, war da ein Zuckermühlenbesitzer.“

Im Zuckermühlenbesitzer, an den sich Getúlio erinnert, lässt sich natürlich das Echo von Tomás, dem Zuckermüller aus dem „Kargen Leben“, vernehmen. Getúlio rekapituliert hier die traditionelle Ordnung des sertão. Die Oberen sind die, die man sieht, für Fabiano war es der gelbhäutige Polizist, für den Sargento ist es sein Vorgesetzter, der ihm irgendwann den Gefangenen ausgehändigt und ihm seinen Auftrag gegeben hatte: „Schließlich hat der Chef mir aufgetragen, das Stück da zu holen, und ich ging hin, faßte ihn, brachte ihn, zähmte ihn und bringe ihn fort. Ich muss das Tier abliefern.“ Diese Ordnung aber gerät nun ins Wanken: „Die Politik verändert sich, ich habe es schon gesagt, sie wird eine Politik von Schwulhengsten“, stellt der Ich-Erzähler fest. Das entscheidende ist, dass diese Veränderung der Politik nicht nur etwas Äußerliches ist, sondern das Selbstverständnis und letztlich den Identitätsentwurf des Sargento in Frage stellt. Sein gewaltiger Monolog markiert damit genau jenen Punkt, an dem die überkommene Ordnung an ihr Ende gekommen ist und der sertão seiner Identität verlustig zu gehen droht. Den drohenden Verlust vermag Getúlio nur zu bewältigen, indem er versucht, sich erzählend seiner selbst zu versichern, von seinen vermeintlichen Heldentaten zu berichten, vom Leben in der Steppe, wie er sich Hakenwürmer aus dem Fuß ziehen muss, von alten Hierarchien in denen der Gutsbesitzer die Exekutive in der Gegend ist, von Schießereien und Outlaws, die Polizisten den Kopf abschneiden und ihn dann herumschleudern.

Ribeiro hat mit „Sargento Getúlio“ nicht nur eine grausame Ballade eines dem Gesetz dienenden Gesetzlosen geschrieben, sondern den Abgesang auf den sertão als Region, um die sich Legenden ranken, wo sich das Leben abseits des Zentrums von Brasilien vollzieht, und damit eine letzte Wiederbelebung der Mythen des Nordostens vorgenommen. Ramos‘ Erzählstruktur wird von Ribeiro aufgenommen und fortgeführt: Der Innere Monolog radikalisiert die interne Fokalisierung, zudem findet sich auch hier die zirkuläre Struktur. Immer wieder erzählt der Sargento von seinen Morden, immer wieder von seinem Auftrag, immer wieder spricht er seinen Gefangenen an und droht ihm oder verspottet ihn. Das litaneiartige Wiederholen einzelner Passagen nimmt mit seiner melancholischen und manchmal traurigen Grundstimmung die volkstümlichen Sprechgesänge der Cordel-Literatur auf und imitiert die orale Erzählkultur der Region, zudem versucht Ribeiro, mit zahlreichen Wortneuschöpfungen, vor allem Schimpfwörtern, die gesprochene Sprache des Nordostens zu imitieren. Er setzt somit auch sprachlich dem sertão ein Denkmal.

Der Wagenbach-Verlag hat sich auch für diese Neuauflage nicht an eine Neuübersetzung gewagt, sondern die immer noch sehr gute Übersetzung von Curt Meyer-Clason wieder zugänglich gemacht. Auch hier jedoch wäre ein klärendes und Hintergründe beleuchtendes Nachwort für den deutschen Leser sehr wünschenswert gewesen. Dennoch ist es ein lobenswertes Unternehmen, mit dem „Sargento“ einen zweiten Klassiker der sertão-Literatur neuaufzulegen, der zudem für Ribeiro den Durchbruch bedeutete. Mit gerade einmal 30 Jahren hatte der Journalist diesen inzwischen zum modernen Klassiker gewordenen Roman geschrieben und damit nicht unerheblich zu jenem Bild Brasiliens im Ausland beigetragen, das er dann in seiner Essay-Sammlung „Um brasileiro em Berlim“ (1994, deutsch: Ein Brasilianer in Berlin) so treffend ironisch kommentierte.

Ribeiro lebt heute in Rio de Janeiro, vor allem aus beruflichen Gründen. Dem sertão hat er trotzdem nicht ganz den Rücken gekehrt: Im 1984 erschienenen Monumentalwerk „Viva o povo brasileiro“ (dt.: Brasilien, Brasilien) versucht er die Geschichte Brasiliens seit der Unabhängigkeit von Portugal literarisch aus der Perspektive des Volkes im Nordosten zu gestalten. Die eine Stimme, die er im „Getúlio“ seinem Sargento gegeben hatte, wird hier in zahllose Stimmen und Figuren aus dem Nordosten aufgesplittert. Die Vielfalt ist im Roman kaum noch zu bändigen, das Stimmengewirr und die Unzahl der verschiedenen Geschichten sprengen die Grenzen der Gattung, machen aber gleichzeitig den unheimlichen kulturellen, sprachlichen und historischen Reichtum der nordöstlichen Region Brasiliens sichtbar. So rau und karg die Landschaft sein mag, die Literatur des sertão ist reich und in jedem Fall eine Entdeckungsreise wert. Die Romane von Graciliano Ramos und Joao Ubaldo Ribeiro bieten dafür einen wunderbaren Ausgangspunkt.

[1] Diese Zitate sowie weitere zu Ramos´ Auseinandersetzung mit dem modernismo lassen sich finden in Sônia Brayner (Hg.): Graciliano Ramos, Rio de Janeiro 1977 u. Clara Ramos: Mestre Graciliano. Confirmação humana de uma obra, Rio de Janeiro 1979.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Graciliano Ramos: Karges Leben. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Willy Keller.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
144 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127037

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Joao Ubaldo Ribeiro: Sargento Getúlio.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Curt Meyer-Clason.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
174 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127068

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