Remembering 1989

Gleich drei Sammelbände zeigen, dass auch fast 25 Jahre nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit die „Wende“ und ihre Folgen in Literatur, Film und Wissenschaft präsent sind

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bald ein Viertel Jahrhundert liegt eines der wohl bedeutendsten Ereignisse jüngster deutscher Zeitgeschichte nun zurück: Die Friedliche Revolution von 1989, der Fall der Berliner Mauer, die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Es sind Schlagworte, die Deutschland in seinem Umbruch beschreiben und (zusammen mit ihrer Vorgeschichte) als Thema beinahe zeitgleich zu den politischen Ereignissen Einzug in Literatur, bildende Kunst, Kino- und Fernsehfilm hielten. Lange wartete man im Zuge dessen auf den „Wenderoman“ und glaubte ihn auch schon vielfach gefunden zu haben. Allerdings wurden ebensolche Einschätzungen mindestens genauso häufig wieder verworfen.

Mittlerweile wartet niemand mehr. Doch nicht etwa, weil sich die Spuren der Vergangenheit allmählich verlaufen, die individuellen und gesellschaftlichen Folgen langsam verpufft und das Interesse an diesem Teil deutscher Geschichte verloren gegangen sind. Ganz im Gegenteil: Zu heterogen sind mittlerweile all die Erfahrungen und Perspektiven, all die Erinnerungen und Erinnerungsweisen. Mehr den je prägt den literarischen, ja gesamt-kulturellen Diskurs zur deutschen Zweistaatlichkeit und ihrem Ende eine stimmliche wie thematische Polyphonie, die nur allzu deutlich vor Augen führt, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Werken und Produktionen selbst fast 25 Jahre nach dem Mauerfall noch längst nicht an ein Ende gekommen ist.

Zu den jüngsten Zeugnissen, die dies eindrücklich belegen, gehören die im Jahre 2011 im US-amerikanischen Camden House-Verlag erschienenen Sammelbände „Twenty Years On“, „The GDR Remembered“ und „Debating Cultural Identity Since 1989“, die allesamt aus internationalen Tagungen im Jahre 2009, anlässlich des 20. Jubiläumsjahres des DDR-Zusammenbruchs, hervorgingen. Unter verschiedenen Fragestellungen nehmen sie vor allem die unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten des Erinnerns in den Fokus, die Bedeutung, die der deutsch-deutschen Geschichte im kulturellen Feld bis heute zukommt, aber auch die Rolle, die Ostdeutschland im Zuge dessen einnimmt. Welche Darstellungsformen lassen sich ausmachen? Welche Aspekte bilden zentrale Themen? Und lassen sich möglicherweise Veränderungen, neue Tendenzen und Perspektiven beobachten?

In unterschiedlicher Intensität bewegen sich die Beiträge der Sammelbände um diese Fragen. Zwar tun sich dabei gelegentlich thematische Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf, doch geben die drei Publikationen insgesamt einen sehr weit gefassten Einblick in die jüngste Forschung zur deutschen „Wende“ von ‘89 und ihren kulturellen Adaptionsformen. Dabei zählt zu den Meriten, dass nicht nur – durch die interdisziplinäre Ausrichtung – ein breites, mitunter heterogenes Spektrum kultureller Erinnerungsweisen zusammengeführt wird, sondern dass ein besonderer Schwerpunkt auch darauf liegt, Werke in den Blick zu nehmen, die bislang nicht oder nur vereinzelt das Interessengebiet (literatur-)wissenschaftlicher Forschung berührten.

So untersucht beispielsweise Stuart Parkes in seinem Aufsatz „Literary Portrayals of the GDR by Non-GDR Citizens“ (im Band „The GDR Remembered“) neben Martin Walsers „Die Verteidigung der Kindheit“ (1991) und Jacques-Pierre Amettes „La maîtresse de Brecht“ (2003) auch erstmals den Roman „Nachglühen“ (2008) des Lüneburger Autors Jan Böttcher, und zeigt, auf welche Weise seine Geschichte, die im ehemaligen Sperrgebiet der DDR angesiedelt ist, selbst ohne auto(r)biografisch fundierten Hintergrund einen Beitrag zur kulturellen Erinnerung an die Deutsche Teilung und ihre Folgen leistet. Elizabeth Boa stellt unter dem Titel „Labyrinths, Mazes and Mosaics“ (im Band „Debating German Cultural Identity“) die Frage nach der Rolle von (realen) Gedächtnisorten in der Literatur seit 1990 und wählt neben Werken von Christa Wolf, Ingo Schulze und Jens Sparschuh auch Antje Rávic Strubels Roman „Unter Schnee“ (2001) zum Untersuchungsgegenstand. Auch Boa rückt damit ein bislang wenig berücksichtigtes Werk beziehungsweise eine Autorin ins Licht, die erst seit kurzem – und primär noch in der englischsprachigen Literaturwissenschaft – überhaupt intensiveres Forschungsinteresse erfährt. Clemens Meyer, der in Literaturkritik und Feuilleton seit dem beginnenden 21. Jahrhundert zwar sehr geschätzt ist, dessen Erstlingswerk „Als wir träumten“ (2006) bislang jedoch auch eher selten Gegenstand eingehender Analysen wurde, findet in Gillian Pye’s Essay „Matter Out of Place: Trash and Transition in Clemens Meyer’s ‚Als wir träumten‘“ (im Band „Twenty Years On“) Beachtung, indem sie das literarische Portrait einer Leipziger Jungen-Clique auf Aspekte des Zer- und Verfalls jenseits der offiziellen Wiedervereinigungsprozesse und „blühenden Landschaften“ hin untersucht.

Ungewohnte Zugänge und Perspektiven eröffnen aber auch die weiteren Beiträge der drei Bände. So in „The GDR Remembered. Representations of the East German State since 1989“, herausgegeben von Nick Hodgin und Caroline Pearce. Im Kapitel „Remembering the GDR in Literature and Film“ untersucht etwa Laura Bradley die Darstellung des DDR-Theaters in Andreas Dresens Film „Stilles Land“ (1992) sowie in Barbara Honigmanns Roman „Alles, alles Liebe“ (2000) und Emine Sevgi Özdamars autobiografisch motiviertem Werk „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (2003).

Anna O’Driscoll analysiert Aspekte der Melancholie in Werken berühmter Autoren, wie Christoph Hein, Monika Maron und Christa Wolf – und Nick Hodgin nimmt sich der filmischen Repräsentation der Stasi sowohl in Florian Henckel von Donnersmarcks preisgekröntem „Das Leben der Anderen“ (2006), als auch in weniger populären Spiel- und Dokumentarfilmen wie „Der Stich des Skorpion“ (2004), „Keine verlorene Zeit“ (2000) oder „Jeder schweigt von etwas anderem“ (2006) an. Gedenkstätten und Denkmäler stehen im Zentrum des zweiten Themenbereichs des Bandes, etwa das Berliner DDR-Museum und das „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt“ im Beitrag von Silke Arnold-de Simine oder auch die Gedenkstätte Berliner Mauer in Günter Schlusches Aufsatz. Der dritte und abschließende Themenkomplex des Bandes konzentriert sich auf Fragen der Ostalgie, der Historiografie sowie – wie im Artikel Mary Fulbrooks – auf die durch unterschiedliche Erfahrungen und Lebensumstände divergierenden generationellen Erinnerungsweisen.

Damit greift der Band einen Aspekt auf, der auch in dem von Renate Rechtien und Dennis Tate herausgegebenen „Twenty Years On. Competing Memories of the GDR in Postunification German Culture“ von Bedeutung ist. Wolfgang Emmerich beispielsweise nimmt sich im Rahmen des Themenkomplexes „Literary Generations – Competing Perspectives“ genau diesen Divergenzen in der Interpretation der DDR-Vergangenheit an, indem er unter dem Titel „Autobiographical Writing in Three Generations of a GDR Family“ einen bislang ungewohnten Blick auf das literarische Schaffen dreier Generationen innerhalb einer Familie – namentlich Christa Wolf, ihre Tochter Annette Simon sowie ihre Enkelin Jana Simon – wirft. Auch Jana Simon [Jahrgang 1972], die im Jahre 2002 mit ihrem Buch „Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S.“ debütierte, ist abermals ein Beispiel dafür, dass auch bislang weniger bekannte Autorinnen und Autoren ins Blickfeld gelangen, fand sie doch in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang ebenfalls nur selten Aufmerksamkeit. Umso bemerkenswerter scheint es, dass Emmerich sie in seinem Beitrag sogar als „one of the most important voices of her generation“ bezeichnet. Gemeint ist jene Generation, die nach der von Emmerich so genannten „Aufbaugeneration“ [C. Wolf] und der „integrierten Generation“ [A. Simon] als „entgrenzte Generation“ zu bezeichnen sei – eine Generation also, die in anderen Zusammenhängen (und v.a. in den Medien) noch bis heute oft und größtenteils zu Unrecht um die Leipziger Schriftstellerin Jana Hensel [Jahrgang 1976] konstruiert und unter dem Begriff „Zonenkinder“ pauschaliert wird.

Dass sich Konflikte aufgrund unterschiedlicher Erinnerungen allerdings nicht nur zwischen Generationen abzeichnen, zeigt der den Sammelband einleitende Themenkomplex „Media Constructions of 1989 and the Elusiveness of the Historical GDR“. So diskutiert etwa Hilde Hoffmann in ihrem Aufsatz „Visual Re-Productions of the Wende“, inwiefern das Fernsehen durch das bewusste Auswählen und Stilisieren bestimmter, vermeintlich repräsentativer Bilder zu kollektiven Erinnerungssymbolen Einfluss auf die Historisierung der Ereignisse von 1989 hatte und auch noch immer hat. Die damit in Verbindung stehende und insbesondere durch die Medien potenzierte Schwarz-Weiß-Sicht auf den sozialistischen Staat und seine Kultur beziehungsweise deren Infragestellung ist Schwerpunkt des zweiten Themenbereichs „Challenges to the Dominant Discourse of the Wende“, in dessen Rahmen Daniel Argelès Klaus Schlesingers Roman „Die Sache mit Randow“ (1996) untersucht, Arne de Winde und Frederik Van Dam Reinhard Jirgls „Mutter Vater Roman“ (1990) in den Blick nehmen und Rosemary Stott den bislang weniger bekannten Film „So schnell es geht nach Istanbul“ (1990) des Regisseurs Dresen analysiert.

Im anschließenden Kapitel „Textual Memory“ unterzieht Andrea Geier die Romane „Wie es leuchtet“ (2004) von Thomas Brussig, „Neue Leben“ (2005) von Ingo Schulze und „Der Turm“ (2008) von Uwe Tellkamp einer vergleichenden Analyse, indem sie aufzeigt, wie diese Werke in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität, ihrer Detailtreue und mosaikhaften Alltagsbeschreibung bedeutsame Beiträge zu einem kulturellen Archiv leisten, und Andrew Plowman untersucht, inwiefern die Nationale Volksarmee (NVA) in Literatur und Film erinnert werden. Das den Band abschließende Kapitel mit dem sprechenden Titel „Afterlives“ schließlich zeigt in den drei Essays von Karen Leeder, Catherine Smale und Benjamin Robinson, dass auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit noch nicht als abgeschlossene Geschichte gelten kann, sondern nach wie vor gesellschaftlich wie kulturell präsent sind – und das, wie Leeder es in ihrem Beitrag formuliert, in einer „‘spectrality’ in its broadest sense“.

Diesem Facettenreichtum gerecht zu werden, ist auch Anliegen des dritten hier vorgestellten Bandes „Debating German Cultural Identity since 1989“, herausgegeben von Anne Fuchs, Kathleen James-Chakraborty und Linda Shortt, der – wie es einleitend heißt – eine Vielzahl an Disziplinen und Themen, an Sichtweisen und manchmal auch widersprüchlichen Interpretationen vereint. Beispielshalber finden im Themenfeld „Historical and Sociological Reflections: 1989 and the Rehabilitation of German History“ auch juristische und soziologische Fragestellung Beachtung, wie etwa im Beitrag Pertti Ahonens, der sich mit den Mauerschützenprozessen befasst. Jennifer Jordan untersucht am Beispiel des Apfels den Schnittpunkt von Erinnerung, Essen und nationaler wie persönlicher Identität, indem sie den für Deutschland so typischen und oft mit dem Schlagwort „Heimat“ assoziierten Apfel als – im Sinne Pierre Noras – Gedächtnisort begreift. Um die Darstellung tatsächlicher geografischer Orte in Architektur und Film geht es im zweiten Kapitel „Architectural and Filmic Mediations: Germany in Transit and the Urban Condition“: Andrew J. Webber untersucht Christian Petzolds Spielfilm „Gespenster“ (2005) und Deniz Göktürk wählt das türkische Kino, das sich mit der jüngsten deutschen Zeitgeschichte befasst und schließlich auch die Position der Migranten in diesem Kontext berücksichtigt, für ihre Untersuchung.

Linda Shortts Beitrag befasst sich – anlehnend an den in den 1990er-Jahren aufgekommenen Neologismus „Ostalgie“ – mit dem Phänomen der „Westalgie“ als westdeutsche Antwort auf die Folgen der Wiedervereinigung am Beispiel von Jochen Schimmangs „Das Beste was wir hatten“. Reflexionen und Reaktionen auf die Zeit nach 1989 sind auch innerhalb der Untersuchungen der weiteren Essays zentral, etwa bei Anja K. Johannsen, die Monika Marons „Animal triste“ (1996) und Angela Krauß’ „Die Überfliegerin“ (1995) vergleichend analysiert, oder bei Anne Fuchs’ Studie zu Durs Grünbeins Gedicht „Porzellan: Poem vom Untergang meiner Stadt“ (2005) und in Aleida Assmanns abschließendem Artikel „History from a Bird’s Eye View: Reimagining the Past in Marcel Beyer’s ‚Kaltenburg‘“.

Zweifellos zeigt sich, dass die Geschehnisse rund um „Wende“ und Wiedervereinigung im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte nicht im geringsten an Aktualität und Attraktivität für eine literarische, filmische oder auch künstlerische Auseinandersetzung verloren haben und folglich nach wie vor auch in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und Kontexten von Relevanz sind. Ob und wie sich dies auch in Zukunft fortsetzt, bleibt zu beobachten. Vor allem im Hinblick auf die stetig reicher werdende Vielstimmigkeit der Erinnerungsweisen, zu der nach und nach auch Stimmen hinzutreten werden, die sich nicht mehr (um noch einmal auf Emmerichs simplifizierendes Schema zu rekurrieren) eindeutig zu einer „entgrenzten Generation“ zählen lassen, die nicht mehr auf autobiografische Erfahrungen zurückgreifen (können), um von der deutsch-deutschen Geschichte zu erzählen, und so – in welchem Medium auch immer – zwangsläufig, doch gleichsam spielerisch zu anderen narrativen Formen und Strategien finden.

Titelbild

Anne Fuchs / Kathleen James-Chakraborty / Linda Shortt (Hg.): Debating German Cultural Identity since 1989.
Camden House, Rochester 2011.
256 Seiten, 64,99 EUR.
ISBN-13: 9781571134868

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Titelbild

Nick Hodgin / Caroline Pearce (Hg.): The GDR Remembered. Representations of the German State since 1989.
Camden House, Rochester 2011.
300 Seiten, 60,99 EUR.
ISBN-13: 9781571134349

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Titelbild

Renate Rechtien / Dennis Tate (Hg.): Twenty Years On. Competing Memories of the GDR in Postunification German Culture.
Camden House, Rochester 2011.
244 Seiten, 64,99 EUR.
ISBN-13: 9781571135032

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