Ein Meisterwerk neu aufgelegt

Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ in altem Gewand mit neuem Nachwort von Daniel Kehlmann

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitnichten handelt es sich bei Doderers 1951 erstmals publiziertem Roman „Die Strudlhofstiege“ um einen Versuch, die Vergangenheit zu konservieren, wie es dem Autor zeitweilig von der Kritik vorgehalten wurde. Sicherlich sind derartig opulente Sittengemälde in der heutigen Romanwelt eher unüblich; kaum ein ernsthafter Verlag würde ein solch umfängliches Manuskript drucken.

Es passiert wenig in der „Strudlhofstiege“, man spricht und unterhält sich über andere, man beobachtet und bewertet das Verhalten anderer; es geht um die Abbildung sozialer Interaktion. Und das ist es, was den Roman zeitgenössisch macht und seine Aktualität auszeichnet. Der Mensch als soziales Wesen findet hier seine Darstellung in virtuos gesponnenen Handlungsfäden, in einem Netz aus Aktion und Reaktion.

Insofern ist der Roman auch ein implizites Zeichen für die Rücknahme der Schnelllebigkeit unserer Tage, weil man durch ihn in eine Märchenwelt einzutauchen vermag, ohne dabei gleich buchstäblich Drachen, Elfen und Fabelwesen zu begegnen. Ein bisschen hat Wien auch heute noch den Charme, den Doderer hier eingefangen hat. Manche Ecke der Stadt wirkt wie aus der Zeit gefallen, nicht zuletzt aber auch Indiz dafür, wie sehr die Stadt ihre Traditionen zu pflegen versteht.

Es ist die Kultur des Wiener Schmähs, die hier abgebildet wird. Die Zeit scheint stehengeblieben, wenn man oberhalb Wiens am Grinzinger Friedhof – auf dem Größen wie Thomas Bernhard, Gustav Mahler und Peter Alexander ihre letzte Ruhe fanden – vor dem Grab Doderers steht. Ringsum Ruhe und kulturelle Erhabenheit gleichermaßen; kein Widerspruch im Übrigen, sondern Ausdruck eines Lebensgefühls, das diese Stadt noch heute zu transportieren versteht – und das naturgemäß in Dodereres Schlüsselroman auf das Allerbeste präsentiert wird. „Die Strudlhofstiege“ ist der Wien-Roman schlechthin. Und wer einmal auf dieser anmutigen Treppenanlage hinauf- oder hinabgestiegen ist, spürt gleichsam den Schlüsselreiz Doderers, der für einen Wien-Kenner ganz selbstverständlich ist.

Im Wesentlichen erinnert Doderers Romanwerk an die großen Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise in Adalbert Stifter eines der prominentesten Beispiele gefunden haben.

Heimito von Doderers Theorem der „Anatomie des Augenblicks“, auf dessen Gestaltung es für den Schriftsteller vor allem ankäme, findet in diesem opus magnum seine prägendste Darstellung. Dieser Roman entwickelt einen Sogeffekt aus dichten Beschreibungen und der überwältigenden Kraft seiner Sprache. Ähnlich wie Marcel Proust verstand er sie als das allumfassende schöpferische Prinzip. Es kommt für Doderer außerdem nicht auf die Inhalte an: „Ein Werk der Erzählungskunst ist es umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, verlautbarte der Autor 1966.

Genau hier greift das Nachwort Daniel Kehlmanns an, der sich auf eben jene österreichische Traditionslinie bezieht. Kehlmann erkennt in der Opulenz des Werkes eine „Theorie der Geschichte“: „Wo immer sich der Blick des Erzählers auf die Natur richtet, hebt er damit das Unveränderliche hervor, das sich gleich bleibt im Wechsel der menschlichen Belange.“ Wien ist ein vortrefflicher Korpus, wenn nicht gar der Ort, an dem man diese Botschaft am besten erzählen kann. Junge Autoren wie Eva Menasse oder Christina Maria Landerl und weitere haben diese Tradition der Wien-Bilder in ihren Texten fortgeschrieben und ins 21. Jahrhundert zu überführen verstanden, dabei nie ganz den Blick für die Ursprünge dieses Topos aus dem Sinn verlierend. Allein das sollte als Argument für diesen Text ausreichen. „Wenn ,Die Strudelhofstiege‘ irgend etwas demonstriert, dann dass die Schönheit, weiß man sie nur zur erkennen, das Beständigste ist“, schreibt Kehlmann in seinem Nachwort. Der beste Beweis, dass es scheinbar nicht immer einen Anlass benötigt, um ein Buch neu aufzulegen, denn so hätte sich das Jubiläum 2011 zum 60-jährigen Erscheinen für diese Neuauflage angeboten. Jedoch nicht immer braucht ein Klassiker diese auf Absatz terminierten Daten, weil sich Qualität ohnehin immer durchzusetzen weiß.

Höchst erfreulich ist daher die Neuauflage dieses Werkes, das zudem einen hervorragenden Essay von Doderer-Forscher Stefan Winterstein enthält, in dem Erhellendes zu den Adressen und Orten im Roman auf spannende und informative Weise dargestellt wird. So zeigt sich in dieser topografischen Skizze der Originalschauplätze einmal mehr die tiefe Verwurzelung Doderers mit Wien, der in seinem Roman sowohl sich selbst als auch die Stadt unsterblich machte. Schade, dass er in Deutschland noch immer als ein Geheimtipp gehandelt wird.

Titelbild

Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege. Oder Melzer und die Tiefe der Jahre.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
944 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406655555

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