Bleibt nur die Teleologie?

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel rechnet mit dem Materialismus ab

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Rede auf Thomas Nagel kommt, wird immer wieder derselbe Aufsatz von ihm genannt: In „What it is Like to Be a Bat?”, bereits 1974 erschienen, zeigt Nagel, dass es prinzipiell unmöglich sein muss, die Erlebnisse eines nichtmenschlichen Wesens nachzuempfinden – auch dann, wenn wir die rein physische Seite dessen genau nachvollziehen könnten, was sich in Hirn und Nervensystem vollzieht. Damit bewegt sich Nagel in einer Tradition, die mit Gottfried Wilhelm Leibniz’ Mühlengleichnis begann und ihren Höhepunkt in Emil Du Bois-Reymonds Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ von 1872 fand, einer Rede, die zahlreiche Reaktionen wichtiger Philosophen provozierte. Eben erst hat der Felix-Meiner-Verlag dieser Diskussion einen von Kurt Bayertz herausgegebenen Sammelband gewidmet („Der Ignorabimus-Streit“). Schon Nagels in dem Fledermaus-Aufsatz vorgetragene Argumentation wird von Vertretern eines rein naturalistisch argumentierenden Reduktionismus wie etwa Daniel Dennett als ganz falsch angesehen, aber erst jetzt trägt Nagel einen konzentrierten, systematischen und gründlichen Angriff auf deren Position vor.

In wenig mehr als einem Jahr hat die englische Fassung des Buches 116 Leser-Rezensionen auf amazon.com provoziert: Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Brisanz der Thematik und das Interesse des Publikums an diesem philosophischen Buch. Dabei argumentiert Nagel betont sachlich und zurückhaltend gegen den in den letzten Jahrzehnten vorherrschend gewordenen Naturalismus, der sich zusammen mit einer besonders radikalen Auslegung der Evolutionstheorie wie Mehltau auf die philosophische Diskussion legte. Auch in der deutschen Literatur gibt es eine Menge Vertreter dieser Richtung, zu deren Spezialität es gehört, jeden Kritiker ihrer eigenen Argumentation unter einen generellen Kreationismusverdacht zu stellen, als sei eine andere Gegenposition als eine bibelfundamentalistische schlechterdings undenkbar. Prophylaktisch betont Nagel deshalb seinen Atheismus, aber er weiß natürlich, dass auch ihn unweigerlich der Kreationismusverdacht treffen wird. Und tatsächlich zielt seine Argumentation ein wenig in diese Richtung, wenn er, um die Evolution und bereits das Leben selbst, mehr aber noch das Auftreten von Bewusstsein und Geist zu erklären, teleologische Erklärungsmuster ins Spiel bringt. Aber es sind nicht die Antworten von Autoren wie Michael J. Behe, die Nagel bejaht und die sein Buch lesenswert machen, sondern es ist ihre Fragestellung, der er mit Respekt begegnet. Die Kritiker des materialistischen Paradigmas sehen dort ein Problem, wo Materialisten keines erkennen wollen: in der extremen Unwahrscheinlichkeit, dass blosse Physik Leben hervorbringen kann.

Nagel argumentiert gegen den Reduktionismus, worunter die Position zu verstehen ist, derzufolge die Physik zusammen mit ein wenig Chemie eine Erklärung für buchstäblich alles, also auch für die Entstehung des Lebens und das Auftauchen des Bewusstseins, zu bieten vermag. Ein entscheidender Schwachpunkt des Reduktionismus (und hier schließt sich Nagel ausdrücklich Behe und anderen an) besteht in der Sicht Nagels in der Annahme, dass der einzige Motor der Evolution der Zufall ist – der Grad der Unwahrscheinlichkeit scheint ihm angesicht der unendlichen Kompliziertheit des genetischen Codes als viel zu groß, als dass selbst die heute allgemein akzeptierten riesigen Zeiträume diese Schwierigkeiten lösen könnten.

In drei aufeinanderfolgenden Kapiteln versucht Nagel, die Aporien des Reduktionismus aufzuzeigen, und diesen Kapiteln vorgeschaltet ist eines, in dem die reduktionistische beziehungsweise physikalistische Argumentation einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wird. Dabei empfindet der Autor lebhaft die Verpflichtung, es nicht bei der Kritik zu belassen, sondern eine Alternative aufzuzeigen – ein Vorgehen, das sein Buch angreifbar macht und viele kritische Reaktionen provozierte: „Der Materialismus verlangt den Reduktionismus; das Scheitern des Reduktionismus verlangt deshalb eine Alternative zum Materialismus. Mein Ziel ist nicht so sehr, gegen den Reduktionismus zu argumentieren, als zu untersuchen, welche Konsequenzen es hat, ihn zu verwerfen – das Problem darzustellen, anstatt eine Lösung vorzuschlagen. […] Vielleicht ist die Ordnung der Welt nicht ausschließlich physikalisch“. Es ist dieser Gedankengang, der sich durch das ganze Buch zieht und teils heftigen Widerspruch zusammen mit dem Vorwurf provoziert, Nagel argumentiere theistisch.

In einem späteren Kapitel wird eine „naturalistische Teleologie“ ins Spiel gebracht (eigentlich eine contradictio in adiecto), derzufolge „Organisations- und Entwicklungsprinzipien […] einen irreduziblen Teil der Naturordnung bilden und nicht das Resultat des beabsichtigten oder bezweckten Einflusses von irgendjemand sind.“ Nagel sieht, wenn er auf Phänomene des Geistes auf der einen, des Bewusstseins auf der anderen Seite schaut, ein Universum, das allmählich erwacht, ohne dass er hier auch nur an einer einzigen Stelle konkret werden und ins Detail gehen würde. Gelegentlich mag man sich an den „werdenden Gott“ Friedrich Wilhelm Joseph Schellings erinnert fühlen. Und an Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel möchte Nagel erklärtermaßen wirklich anknüpfen.

Was die „Idee“ bedeuten soll, „dass ein komplexes Subjekt des Bewusstseins aus minimalen protomentalen Elementen aufgebaut sein könnte“, was also diese protomentalen Elemente sein sollen, wird dabei nicht klar, und der bloß angedeutete Monismus ist keinesfalls einleuchtend.

Weil das Bewusstsein ohne Leben nicht denkbar ist, sollte es eigentlich ausreichend sein, die Unfähigkeit des Materialismus aufzuzeigen, die Entstehung des Lebens oder des Bewusstseins selbst zu erklären – bereits damit wäre dem Materialismus jeder Boden entzogen. Dem Bewusstsein ist das erste der drei aufeinander aufbauenden Kapitel gewidmet, in denen Nagel etwas mehr ins Detail geht. Insbesondere wird der Gedanke scharf und sehr grundsätzlich kritisiert, dass mit Emergenz die Entstehung von Leben und Bewusstsein zu erklären sei. Nagel schreibt, dass eine emergenztheoretische Position sich mit einer reduktionistischen verträgt, aber damit trifft er wohl nicht alle Vertreter einer solchen Position. Weder suchen alle Reduktionisten ihr Heil (oder wenigstens einen Ausweg) in der Emergenz, noch gehören für alle Emergenztheoretiker Emergenz und Reduktionismus zusammen, aber das Doppelbekenntnis zu Emergenztheorie und Reduktionismus findet sich doch immer wieder. Einmal denkt man sich höheres Sein zusammengesetzt aus Elementen, die eigentlich einem niederen Level zugehören und erst in ihrem Zusammenspiel das höhere Element ergeben (so soll man sich Emergenz vorstellen), dann wieder trennt man in der Analyse die einzelnen Elemente eines Komplexes und glaubt, es sei damit getan, das Höhere ganz allein auf ihr Zusammenwirken zurückzuführen: Das ist der Reduktionismus. Eben diesen Gedankengang kritisiert Nagel: „Es ist schwer, die Annahme aufzugeben, dass all das, was für den Komplex gilt, durch das erklärt werden muss, was für dessen Elemente gilt. Das bedeutet nicht, dass auf höheren Stufen keine neuen Phänomene entstehen können, aber die Hoffnung ist, dass sie über die Beschaffenheit und Interaktionen ihrer elementareren Bestandteile analysiert werden können.“ In der Chemie, etwa bei der Analyse einer Flüssigkeit, gelingt das, aber kann man auf diese Weise die Entstehung des Lebens oder des Bewusstseins erklären? Nagel fühlt sich durch ein solches Erklärungsmuster expressis verbis an Magie erinnert („gleichwohl wie Magie“). In jedem Fall findet er die Emergenz, anstatt in ihr eine Erklärung zu sehen, selbst „grundsätzlich unerklärlich“.

In den beiden folgenden Kapiteln, in denen Nagel sich mit der Kognition und mit Phänomenen des Geistes wie Werten beschäftigt, zeigt er umständlich, dass in beiden Fällen eine naturalistische Erklärung mindestens zu kurz greift, falls sie überhaupt das Problem in seiner ganzen Reichweite erkennt. Dabei gibt er ohne Weiteres zu, dass die Evolutionstheorie manches erklären kann, etwa bestimmte lebenspraktische Fähigkeiten, aber er bestreitet entschieden, dass sich die Entstehung irgendeiner Form objektiver Erkenntnis mit der Hilfe selbst einer nicht länger naturalistisch argumentierenden Evolutionstheorie erklären ließe. Noch mehr gilt dies für Werte wie gut und schlecht; Nagel hält es für ausgeschlossen, dass sich ein Werterealismus mit der Evolutionstheorie in Einklang bringen ließe.

Das Problem des Geistes diskutiert Nagel in der Weise, dass er nach einer Erklärung für die grundsätzliche Verstehbarkeit des Kosmos fragt. Zweifellos ist die Welt intelligibel – Nagel schlägt sich also mit demselben Problem wie Wolfgang Welsch in „Homo mundanus“ herum. Während Welsch Spuren intelligenten Verhaltens bereits in subatomaren Partikeln erkennen will, findet Nagel die angesprochenen „protomentalen Elemente“, so dass er hier demselben Argumentationsmuster folgt.

In diesen beiden Kapiteln hätte es sich Nagel leichter machen können, wenn er auf Autoren wie Edmund Husserl und Max Scheler und ihre epochalen Werke zurückgegriffen hätte, die doch auch in der englischsprachigen Philosophie als Übersetzungen präsent sind und zu der Objektivität von Werten und Begriffen einiges zu sagen haben.

Nagels Buch ist eine Art Generalangriff auf das vorherrschende Paradigma in Philosophie und Naturwissenschaften. Die sachliche und entschiedene, aber an keiner Stelle polemische, sondern geradezu zahm und mit ostentativem Lob für die Gegenposition vorgetragene Attacke war seit langem überfällig. Sie macht deutlich, dass viele Erklärungen der Evolutionstheorie rein spekulativ sind, und sie zeigt die Irrationalität des materialistischen Erklärungsmusters in aller Deutlichkeit auf. Nagel stellt die Fragen, welche Philosophie und Biologie in den letzten Jahrzehnten nicht gestellt haben, sondern sogar zu stellen verboten hatten und gern auch weiterhin verbieten würden. Seine Hinweise auf teleologische Erklärungsmuster allerdings verbleiben im Nebelhaften, wenn sie nicht direkt in die Irre führen.

Titelbild

Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
187 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586013

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