Geburt eines Augenmenschen

Felix Hartlaubs „Tagebuch einer Studienfahrt 1931“ erstmals aus dem Nachlass ediert

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für seine Eltern war schon der kleine Felix ein Wunderkind, das fortwährend zum Schreiben und Zeichnen angehalten wurde. Doch für die Nachwelt sind die pathetisch-expressiven Dramen- und Prosafragmente des jungen Felix Hartlaub allenfalls von germanistischem Interesse. Seine Geburtsstunde als Autor, so der Stand der Forschung, schlug erst in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als Wehrmachtsangehöriger: Inmitten der allgemeinen Verrohung verwandelte sich der introvertierte, mit Komplexen kämpfende Autor in ein unbestechliches Kameraauge. Mit gleichsam heiliger Nüchternheit notierte Hartlaub, was er in dem von den Deutschen besetzten Paris sah und dann ab 1942 im „Sperrkreis“ des Führerhauptquartiers, als Historiker der Abteilung „Kriegstagebuch“.

Dort, in der „Wolfsschanze“, las Hartlaub auch die Nachrichten vom neuen Kriegsschauplatz Italien – die ihm besonders ‚zusetzten‘, wie er im September 1943 seinen Eltern schrieb. Denn: „die Schauplätze sind einem so nah“. Zweimal hatte Hartlaub in seinem kurzen Leben – er starb noch in den letzten Kriegstagen 31-jährig im umkämpften Berlin – dieses Sehnsuchtsland der Deutschen besucht, einmal 1933 als Student, und bereits zwei Jahre zuvor, als Schüler der Odenwaldschule. Nikola Herweg und Harald Tausch haben das mit Federzeichnungen versehene Tagebuch der Studienfahrt 1931 aus dem Marbacher Literaturarchiv ausgegraben und vorzüglich ediert und kommentiert. Wer die Einträge liest, reibt sich die Augen: So wenig hat der sich hier bereits seine Bahn brechende Wahrnehmungsrausch des damals 18-Jährigen mit dem bisher bekannten Frühwerk dieses Autors zu tun – und so viel mit seinen späten Aufzeichnungen etwa aus Paris:

„Frühes Aufstehen, uneinheitliche Stimmung. Verschüttete ‚Pasta‘. Marsch La Baracca – Levanto. Abstieg zum Mittelmeer. Von der hochgelegenen Strasse Blick auf heroische Gebirgslandschaft. Das ganze Gesichtsfeld mit Höhenzügen erfüllt, im Hintergrund die Apuanischen Alpen, in den Tälern Nebel, Rauch, wundervoll geschwungene Linien; Glücksgefühl. […] Wälder, das Meer ohne Glanz, mit seinen vielen Streifen wie eine Fruchtebene. Architektonische Vorberge, bunt, mit festen Orten, die Strasse, rot und violett gefärbt, schwingt sich in grossen Kehren abwärts. Marmorbrüche, grosse, gesägte Flächen von Marmor, darüber manchmal blitzende Netze von Wasseradern, Strandleben in Levanto. Eindruck vom Mittelmeer. Kriegsschiffe eilen nach Spezia.“

Elf Schülerinnen und Schüler der Odenwaldschule waren am 21. Mai 1931 aufgebrochen, um mit ihrem Lehrer Werner Mayer einen Monat lang Landschaft und Kultur Oberitaliens zu erkunden: Von Basel führte die über weite Strecken erwanderte Reise bis nach Florenz. Der Weg entlang der Steilküste der Cinque Terre war nur einer von vielen Höhepunkten. Unter den Einheimischen erregten die Jugendlichen einiges Aufsehen: nicht nur, weil sie ihre Zelte neben dem Dom von Pisa aufschlugen, sondern auch, weil ihre Gruppe aus Jungen und Mädchen bestand.

Von Freundschaften oder Konflikten erfährt der Leser jedoch kaum etwas. Hartlaub, zeitlebens ein Einzelgänger, begnügt sich mit Andeutungen wie „Abends allerhand persönliche Reiberei“, ohne dass man den Anlass erfährt. Eigenartig konturlos bleibt auch das Ich dieser Aufzeichnungen. „Man findet keine Freude mehr daran, sich Bergformen einzuprägen“, heißt es da etwa seltsam distanziert – ein Zeichen dafür, wie sehr hier bereits der Augenmensch Felix Hartlaub in Erscheinung tritt, der die Eidechsen auf den Felsen ebenso festhielt wie die „staubigen“ Farben der Mittagshitze oder die „rot gekleideten hageren Bäuerinnen“ – ein in seinem Protokollcharakter sprödes, gleichwohl faszinierendes Lektüreerlebnis. Skeptische Distanz bewahrte Hartlaub gegenüber seinem homerbegeisterten Lehrer: Mayer schwelgte im Anblick der Olivenbäume und terrassierten Bergabhänge und behauptete, diese „äschileische Landschaft“ unmittelbar zu „verstehen“. Dagegen notierte Hartlaub nur lapidar, ihm sei „das Wesentliche der Landschaft […] noch unklar.“

Neben der Stimme seines Lehrers rang in ihm noch eine zweite um Gehör, die seines Vaters. Gustav Friedrich Hartlaub, der bedeutende Mannheimer Museumsdirektor, hatte seinem Sohn das kunsthistorische Sehen gelehrt, für die Reise hatte er Felix mit dem Baedeker Reiseführer ausgerüstet. Die Lektüre des Tagebuchs zeigt, wie der Konflikt zwischen diesen beiden Perspektiven den jungen Felix Hartlaub dazu zwang, einen anderen, ganz eigenen Zugang zur Landschaft und Kultur Oberitaliens zu finden. Hier, beim Schreiben dieses bislang unbekannten Reisetagebuchs, schlug die eigentliche Geburtsstunde des Autors Felix Hartlaub.

Titelbild

Nikola Herweg / Harald Tausch (Hg.) / Felix Hartlaub: Italienische Reise.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
100 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518224731

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