Diderots Möglichkeitssinn

Anmerkungen zu „Jacques le Fataliste et son Maître“

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

1.

„Jacques le Fataliste et son Maître“ („Jacques der Fatalist und sein Herr“) beginnt auf denkbar ungewöhnliche Weise. Das erste Wort hat nicht der Erzähler oder eine der handelnden Figuren, sondern der Leser – natürlich nicht der echte, empirische Leser, sondern ein impliziter, im Text selbst als Sprecher hervortretender Leser. Dieser Leser stellt Fragen – fünf Fragen, um genau zu sein, von denen nur die letzte nach dem Thema des Gesprächs zwischen Jacques und seinem Herrn zufriedenstellend beantwortet wird. Die übrigen Fragen nach dem Ursprung ihrer Bekanntschaft, ihren Namen sowie Ausgangspunkt und Ziel ihrer Reise beantwortet der Erzähler ausweichend: Wie jedermann hätten sich Jacques und der Herr durch Zufall kennengelernt, ihre Namen spielten keine Rolle, sie kämen aus dem nächstgelegenen Ort und wohin man gehe, könne sowieso niemand wissen.

Dieser Beginn kann als Parodie auf übliche Romananfänge gelesen werden: Statt mit Informationen über den Schauplatz oder die handelnden Figuren beginnt „Jacques le Fataliste“ mit der Verweigerung von Informationen. Was man erfährt, wird indirekt vermittelt: Hier sind offenbar zwei Figuren unterwegs auf Reisen – eine Tatsache, die dem impliziten Leser schon bewusst sein muss, da sich seine Fragen darauf beziehen. Der Romanbeginn suggeriert also, dass eine Informationsvergabe an den impliziten Leser bereits stattgefunden hat und der wirkliche, empirische Leser sozusagen ‚in medias res’ in das Geschehen einsteigt – und zwar sowohl in das Geschehen um Jacques und seinen Herrn als auch – und das zunächst und zuallererst – in das Geschehen, das der Akt des Erzählens selbst darstellt.

Die Gespräche zwischen Erzähler und Leser ziehen sich als wiederkehrendes Motiv durch den gesamten Roman. Die neben Fragen der angesprochenen Art wichtigste Spielart stellen Leseranreden dar, in denen der Erzähler die Wiedergabe der Geschichte um Jacques und seinen Herrn unterbricht, um auf ironische Weise alternative Versionen vorzuschlagen. Während der Erzähler also auf der einen Seite Informationen verweigert, gibt er hier Informationen, die – bezogen auf die erzählte Welt – kontrafaktische Zustände beschreiben und daher für den am Fortgang der ‚wirklichen Geschichte’ interessierten Leser überflüssig sind. Es hinge nur von ihm, dem Erzähler, ab, das Geschehen einen anderen Verlauf nehmen zu lassen. Zum Beispiel könnte er, so die erste dieser Varianten, den Herrn verheiraten, ihn von seiner Frau betrügen lassen, Jacques auf die Antillen schicken, später auch den Herrn dorthin geleiten und schließlich beide auf demselben Schiff nach Frankreich zurückbringen: „Qu’est-ce qui m’empêcherait de marier le maître et de le faire cocu? d’embarquer Jacques pour les îles? d’y conduire son maître? de les ramener tous les deux en France sur le même vaisseau?“[1]

Man wird diesem Erzähler eine gewisse Arroganz und Selbstherrlichkeit nicht absprechen können. Allerdings wird hier lediglich im Text selbst explizit gemacht, was immer der Fall ist: Der Erzähler erzählt seine Geschichte, und wer sie liest, muss sie so akzeptieren, wie der Erzähler sie erzählt. Wichtiger ist jedoch etwas anderes: Indem der Erzähler neben der Geschichte, die er erzählt, immer wieder Geschichten skizziert, die er erzählen könnte, verweist er auf eine Reihe möglicher Geschichten und möglicher erzählter Welten, von denen sich die tatsächliche Geschichte und die tatsächliche erzählte Welt nur durch seinen mehr oder weniger willkürlichen Entschluss abheben. Die wirkliche Geschichte ist keineswegs eine notwendige Geschichte, sie könnte genauso gut anders verlaufen. Auf die Realität übertragen bedeutet das aber: Die Wirklichkeit ist nicht notwendig, sondern zufällig. Und dieser Zufall ist es auch, den der Erzähler gleich im zweiten Satz des Romans als Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Bekanntschaft zwischen Jacques und dem Herrn ins Spiel bringt: „Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde.“[2] („Wie haben sie sich kennengelernt? Durch Zufall, wie jedermann.“)

Dabei bedeutet diese Art der Vermittlung eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses zugleich eine Stärkung der Rolle des Lesers. So wie die Verweigerung von Informationen den Leser auf seine eigene Imagination verweist, bewirken auch diese scheinbar überflüssigen, die Erzählung der eigentlichen Geschichte retardierenden Informationen eine Aktivierung der Phantasie, eine Öffnung für Möglichkeiten jenseits der eigentlichen Geschichte.

Was hier geschärft wird, ist der ‚Möglichkeitssinn’, wie ihn Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ beschrieben hat. Dieser Möglichkeitssinn wird (in dem berühmten Kapitel „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“) bestimmt als die „Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“[3] Eine Welt der Möglichkeiten ist aber eine komplexe, zur Unüberschaubarkeit tendierende Welt, und wenn etwas „ebensogut sein könnte“ wie das, was wirklich ist, dann heißt das, dass die Wirklichkeit kontingent ist. Der Möglichkeitssinn steht für eine dezidiert moderne Sicht auf die Welt.

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Auch abgesehen von den Unterhaltungen zwischen Erzähler und implizitem Leser ist „Jacques le Fataliste“ sehr reich an Dialogen. Den weitaus größten Anteil machen die Gespräche zwischen Jacques und seinem Herrn aus. Sie beziehen sich auf das, was den beiden auf ihrer Reise zustößt, und auf die Geschichten, die sie sich zum Zeitvertreib erzählen (wobei meist Jacques der Erzähler ist). Mitunter wenden sie sich ins Allgemeine und handeln dann etwa von der Tugend, dem Wesen der Frauen, der Willenfreiheit oder von Jacques’ Lieblingsthema, dem Fatalismus, wobei Herr und Diener bei allen diesen Themen selten einer Meinung sind. Solche Passagen verweisen (wenn auch mit einer gewissen Ironie) auf die Tradition des philosophischen Dialogs, die bis in die Antike zurückreicht – Platons Dialoge bilden das stilbildende Muster der Gattung. In der Literatur der Aufklärung sind Dialoge sehr beliebt, Diderot selbst hat mit „Le Neveu de Rameau“ („Rameaus Neffe“) einen der bedeutendsten Texte zur Gattung beigetragen. In den platonischen Dialogen ist Sokrates die beherrschende Figur, er ist seinen Gesprächspartnern intellektuell überlegen. Auch wenn die Dialoge den Charakter eines gemeinsamen intellektuellen Suchens der Gesprächspartner vermitteln möchten und Sokrates keineswegs auf alle Fragen eine Antwort hat, entwickelt er in einigen der Texte eine Art Lehre und weist in anderen zumindest die Unzulänglichkeit der Auffassungen seiner Gesprächspartner nach, von der sich sein reflektiertes Nichtwissen positiv abhebt. Bei Diderot dagegen sind beide Gesprächspartner gleichberechtigt – und das trotz der hierarchischen Beziehung zwischen Herr und Diener – und die Diskussionen bleiben am Ende fast immer offen. Auch hier geht es nicht um Festlegungen, sondern um Möglichkeiten – die Möglichkeiten des Denkens und Deutens der Welt.

In gewisser Hinsicht erinnern auch die Dialoge zwischen Erzähler und Leser an das platonische Modell – und zwar vor allem an dessen didaktische Tendenzen –, auch wenn es in ihnen auf den ersten Blick nicht um philosophische Fragen zu gehen scheint. Man könnte argumentieren, dass der Erzähler auf indirekte Weise ein hintergründiges Erziehungskonzept verfolgt. Er enttäuscht demonstrativ die Erwartungen des traditionellen, mit eindeutigen und bequemen Informationen rechnenden Lesers und konfrontiert ihn mit einem neuartigen Typ des Romans, der seine Phantasie und seinen Möglichkeitssinn aktiviert und insofern realistischer ist als seine Vorgänger, als er die Komplexität und Kontingenz der Wirklichkeit abzubilden vermag. Dass bereits das zweite Wort des Erzählers ‚Zufall’ (‚hasard’) lautet, ist ein deutlicher Hinweis.

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In Musils Roman ist es die Hauptfigur Ulrich, die in besonderem Maße über den ‚Möglichkeitssinn’ verfügt. Dagegen ist sein ‚Wirklichkeitssinn’ so schwach ausgebildet, dass es ihm nicht gelingt, eine sinnvolle Verwendung für seine Fähigkeiten zu finden. Er bleibt ein ‚Möglichkeitsmensch’, ein ‚Mann ohne Eigenschaften’. Diderots Protagonist Jacques dagegen fehlt es keineswegs an Wirklichkeitssinn. Im Gegensatz zu seinem Herrn, der nichts mit sich anzufangen weiß, ist er tatkräftig und lebensklug. Und während Musil im Titel seines Romans die Eigenschaftslosigkeit seines Helden hervorhebt, wird Jacques bereits im Titel mit einer Eigenschaft charakterisiert – als ‚Fatalist’, als der er sich ja auch selbst versteht, wie seine Gespräche mit dem Herrn an vielen Stellen zeigen.

Fehlt es Jacques dagegen an Möglichkeitssinn? Keineswegs. Für Jacques ist alles möglich, wenn es denn „da oben geschrieben“ steht („écrit là-haut“[4]). Alles ist determiniert durch diese ominöse metaphysische Schrift, gehorcht aber gerade dadurch keinerlei weiteren Gesetzmäßigkeiten nach den ‚realistischen’ Vorstellungen vom Möglichen und Wahrscheinlichen. Für Jacques verläuft die Wirklichkeit nicht nach einer inhärenten Logik, Folgerichtigkeit oder gar Notwendigkeit. Alles ist zwar genau so, wie es ist, und kann gar nicht anders sein, aber daraus folgt für die Zukunft nichts. Diese Unvorhersehbarkeit spiegelt sich auch in den Erlebnissen, von denen Jacques seinem Herrn erzählt. Der Herr rät immer falsch, was den Fortgang dieser Geschichten betrifft, und er bewertet sie häufig auch falsch. Ist es wirklich so schlimm, dass Jacques von drei Banditen ausgeraubt und verprügelt wurde? Nein, es ist sogar „einer der größten Glücksfälle meines Lebens“ („Un des plus grands bonheurs qui me soient arrivés de ma vie“[5]), wie Jacques behauptet, denn indirekt führt dieses Ereignis zu seiner Aufnahme ins Schloss des Herrn Desglands und zu seiner Liebesgeschichte mit Denise, die am Ende des Romans seine Frau wird.

Selbst wenn es ein Schicksal gibt: Wer es nicht kennt, muss für die Zukunft mit allem rechnen. Und eben dies tut Jacques. Er akzeptiert die Dinge so, wie sie sind. Aber er blickt in eine offene Zukunft und nimmt sein Leben in die eigenen Hände. Er zeigt Sinn für das Mögliche und Gelassenheit gegenüber dem Wirklichen. Vielleicht liegt darin eine besondere Lebensweisheit angesichts einer vom Individuum nicht beherrschbaren und nicht zu durchschauenden Welt.

[1] Diderot, Denis: Oeuvres. Texte établi et annoté par André Billy. Paris 1951. S. 476.

[2] Ebd., S. 475.

[3] Musil, Robert: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 1-5: Der Mann ohne Eigenschaften. 2., verbesserte Auflage. Reinbek 1981. S. 16.

[4] Diderot, Oeuvres, S. 475, und an zahlreichen weiteren Stellen des Romans.

[5] Ebd., S. 546.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz