Sprache, Medien, Politik

Christa Karpenstein-Eßbach entwirft eine andere deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturgeschichten werden heute meist in Teamarbeit geschrieben. Zu groß ist der Stoff, zu speziell manche Autorenphilologie. Zwischen den Kontinenten der Geschichte und der Literatur gibt es keine überzeugende Verbindung, meint Roland Barthes: „der Literaturhistoriker bricht ab, sobald er sich der wirklichen Geschichte nähert: man tauscht von einem Kontinent zum andern ein paar Signale aus, hebt ein paar Einverständnisse hervor“, aber „die Verbindung zwischen beiden Geographien ist schlecht“. Es sei denn, man lässt sich methodologisch etwas Besonderes einfallen: eine Literaturgeschichte mit Werken, aber ohne Zitate (Peter J. Brenner), eine kurze Geschichte der deutschen Literatur (Heinz Schlaffer). Oder eine Ideengeschichte. Christa Karpenstein-Eßbach hat dieses Experiment unternommen. Sie kann sich dabei auf ihre offenbar beliebte Vorlesungsreihe an der Universität Mannheim stützen. Daraus ist das vorliegende Buch entstanden.

Christa Karpenstein-Eßbach wählt eine „mittlere Flughöhe“, um das auch in der Literatur eher kurze 20. Jahrhundert zu besichtigen. Zwischen diskurstheoretischen Gipfelgratwanderungen und den mikroepochengeschichtlichen Mühen der Ebene macht sie eine Trias von Problemen aus, die den literarischen Verlauf des Jahrhunderts steuern, manchmal beschleunigend, später auch mit Verzögerungen und Verschiebungen: sprachliche Reflexion (Chandos-Brief, Ludwig Wittgenstein, Sigmund Freud,  Friedrich Nietzsche, Ferdinand de Saussure), Medienkonkurrenz und -differenz (Urbanisierung, technische Moderne, Dadaismus, Kino und Theater), politische Konstellationen und Machträume (Franz Kafka, Robert Walser, die Antipoden Bertolt Brecht und Gottfried Benn, politischer Expressionismus). Die Probleme sind nicht neu. Wohl aber die Perspektive, unter der sie nun betrachtet werden: als „historische Existentiale“. Das soll bedeuten, dass Sprache, Medien, Politik sowohl Ausdrucks- und Selbstverständigungsformen der Moderne sind als auch variable Antworten auf die sich daraus ergebenden Probleme. Besonders deutlich wird dies in dem zentralen Kapitel, das drei Zeitromane aus den 1920er- und frühen 1930er-Jahren traktiert: Thomas Manns „Der Zauberberg“, Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Hans Henny Jahnns „Perrudja“.

Der Literaturbegriff, der Karpenstein-Eßbachs Überlegungen zugrunde liegt, ist ein empathisch-universaler. Literatur ist ein Erkenntnismittel, das die Zeit zu verstehen hilft, die dargestellte und die gelesene. Es kommt dabei weniger auf Quellen und Einflüsse an als auf Denkzusammenhänge. Auf diese Weise gelingen erhellende Einblicke in Ideenkontexte. Zum Beispiel, wie sich die Position des Subjekts nach 1945 destabilisiert (Paul Celan, Martin Heidegger) und sich medienanthropologisch zum „Projekt“ verschiebt (Vilém Flusser). Oder wie der Deutschlanddiskurs im Zeichen anderer europäischer und globaler Räume migriert (Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada). Oder wie die „Literatur eines hermeneutischen Interesses“ (Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen) politische Identitätserfahrungen unterläuft.

Was bleibt? Ideenlinien, deren Bedeutung man schwerlich bestreiten kann, werden zu historischen Spuren vertieft. Bezüge zwischen Kontexten rücken auch die Werke in ein anderes Licht. Grundfragen der Kanonizität und Wertung bleiben zwar außen vor, die Gegenwartsliteratur wird als Leichtgewicht abgehandelt. Aber im Ganzen überwiegt in diesem gut bestückten Labor eine Freude an denkgeschichtlichen Operationen, die auf den Leser überspringen kann, auch wenn weniger bekannte Werke unter die Lupe kommen. Das Schicksal der Literatur im 20. Jahrhundert sind Sprache, Medien, Politik. Das hat Christa Karpenstein-Eßbachs Studie in großen Zügen beschrieben.

Titelbild

Christa Karpenstein-Eßbach: Deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
308 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556205

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