Wagners Anthropologie, Wagners Ring, Wagner-Übersetzung

Über drei Wagner-Publikationen mit unterschiedlichen Anliegen

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anhand des oft zitierten Topos, wie ausufernd und unüberschaubar die Literatur über Richard Wagner und sein Werk sei, lässt sich nicht unbedingt ablesen, wie thematisch ausdifferenziert sie ist. Dies wird auch mit dem kursorischen Einblick in drei Neuerscheinungen zu Wagner nicht vollends nachzuweisen sein. Allerdings lässt sich exemplarisch vielleicht eine Vorstellung von der Verschiedenheit und Produktivität der Zugänge zu Wagner erzeugen.

Martin Schneiders so umfangreiche wie detaillierte Dissertationsschrift „Wissende des Unbewussten. Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners“ stellt einen bemerkenswerten neuen Beitrag zur Wagner-Forschung dar. So ist das Innovative, das Schneider eingangs von der eigenen Untersuchung behauptet, keine Floskel, sondern ein Forschungsprogramm, das in seinem Anliegen zu unterstreichen ist. Der Autor fasst dies zunächst so zusammen: „Der Konflikt von Unbewusstem und Bewusstsein wird als ein Konflikt von non-verbalen und verbalen Codes zu beschreiben versucht.“ Damit ist nicht weniger gesagt, als dass diese Studie einen Ansatz der Re- und Neulektüre respektive -analyse des Wagner’schen Werkes anbietet, der sich innerhalb der unüberschaubaren Wagner-Forschung noch abzusetzen weiß. Schon dies macht den Band beachtenswert. Doch Schneider leistet noch mehr: Er wendet seinen Ansatz nicht nur auf alle im Allgemeinen als kanonisch angesehenen Wagner-Opern (grosso modo vom „Holländer“ bis zum „Parsifal“) an, sondern fasst Wagners musikdramatisches Schaffen explizit in seiner kulturell gebundenen Kontextualisierung auf. Die Arbeit verfolgt (damit) zugleich kulturgeschichtliche und anthropologische Interessen und stellt immer wieder auch erstaunliche Parallelen zur Literatur und Geistesgeschichte der Romantik her. Sie bietet Erkenntnisse, die vom philologischen Feld der Auseinandersetzung mit den Musikdramen her systematisch auf deren Gestalt als musikalische Werke ausgreifen. Diese Interdisziplinarität greift auf neue Weise Hans Mayers und Peter Wapnewskis Hinweis auf „des Philologen Recht auf Wagner“ produktiv auf. Schneider legt unter anderem etwa sehr anschaulich dar, wie es in Wagners Opern gelingt, „die stummen Blicke zum Sprechen zu bringen“. Schneiders genaue Lektüre und Erläuterungen von Partitur und Libretto in ihrem Wechselwirken ist gerade an solchen Stellen sehr überzeugend. Denn es tritt weder eine allein musikalisch rückgebundene Aussage noch eine ausschließlich philologische argumentativ in den Vordergrund. An anderer Stelle – um ein weiteres Beispiel zu nennen – zeigt Schneider eindrücklich den Zusammenhang zwischen Namen- und Identitätssuche bei Wagners Figuren und dem Prozess der Selbstvergewisserung in und durch Narration beim Künstler und der Person Wagner. Dies bindet er wiederum in die Analyse von Identitätskonstituierung ein, an deren dramatischem und musikalischem Vorgehen Schneider die wechselseitig geschlechtliche Bedingtheit aufzuzeigen versteht. An diesem (einzeln herausgegriffenen) Aspekt lässt sich auch der für Schneider so zentrale Konnex zwischen dem Wagner’schen Grundgedanken vom Bewusstwerden des Unbewussten und der anthropologischen Basis dieses Konzeptes erkennen. Lesenswert ist „Wissende des Unbewussten“ nicht nur mit einem Interesse an Wagner, sondern auch im Hinblick darauf, wie Schneider den Kontext Romantik und Wagners Verwurzelung darin perspektiviert. Martin Schneiders Untersuchung liefert die Engführung dieses komplexen und nachhaltigen Ansatzes zur Neubegegnung mit und auch Reinterpretation von Wagners musikdramatischem Schaffen.

Der Sammelband „Rhein und Ring, Orte und Dinge: Interpretationen zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen“ umfasst neunzehn Aufsätze zum „Ring“, die Vorträge im Rahmen der Osterfestspiele (2007-2010) in Salzburg waren. Alle Beiträge gehen – dem Bandtitel folgend – von einem je zentral gesetzten Begriff (Ding oder Ort) aus, der die jeweilige Interpretation einer der vier Ringopern bestimmt. Diese Struktur verleitet vielleicht dazu, sie als Anlehnung an den Gegenstand aufzufassen und die Stichworte in ihrer (leit)motivischen Funktion zu verstehen. Doch da die beispielsweise auf ‚Tränke‘, ‚Speer‘, ‚Weltende‘ oder ‚Wald‘ bezogenen Aufsätze jeweils auch einer der vier Opern zugeordnet sind, ist eine solche motivische Verbindung offenbar weniger intendiert. Diese Zusammenstellung deutender Annäherungen an den „Ring“ gründet aber sicherlich auch in der vom Herausgeber Ulrich Müller angemerkten Tatsache, dass die deutliche Mehrzahl der Beiträger_innen dieses lesenswerten Sammelbandes aus dem Bereich der mediävistischen Germanistik stammen, darunter auch „Nibelungenlied“-Spezialist_innen. Diese Perspektiven werden ergänzt durch ein ausführliches Gespräch mit Ursula Ehler und Tankred Dorst, dessen „Ring“-Inszenierung von 2006 bis 2010 in Bayreuth gespielt wurde, und durch vier Beiträge aus (tiefen)psychologischer Sicht von Elisabeth Bingel. Unter letzteren findet sich die zwar pointiert erscheinende, doch in der analytischen Ausführung wenig ertragreiche Frage nach einem Vergleich der literarischen Figuren Wotan und Don Quichotte. Vielleicht liegt es an dem auf etwas zu generalisierender Ebene angesiedelten Vergleich beider Figuren und an der Tatsache, dass der Wotan’sche Blick auf die ihn umgebende Wirklichkeit nicht durch groteske Projektionen, sondern durch politisches Glauben-Wollen gekennzeichnet ist, dass der Mehrwert dieser Gegenüberstellung auch trotz des individuellen Engagements der Autorin nicht recht ersichtlich wird. Volker Mertens zeichnet in seiner gelungenen Untersuchung nach, wie der Ring in der Tetralogie auftaucht und welche Bedeutung(en) dieses Requisit und Motiv in engem Zusammenhang mit der von Alberich ausgesprochenen Verfluchung erhält. Mertens leitet seine Überlegungen aus Wagners ersten Prosatexten zum „Ring“-Projekt her und zeigt, dass das wohl wichtigste Schmuckstück der Operngeschichte sich eigentlich mit keinem der möglichen Interpretationsansätze (gesellschaftlich, politisch oder anthropologisch) abschließend fassen lässt. Ursula Schulzes Beitrag zum Speer (neben einem zweiten kurzen zum Weltende) verfolgt die Relevanz dieser im „Ring“ dramaturgisch so wichtigen Waffe von der Antike  bis zu ihrer Verwendung durch Wagner als Wotan-Speer der Verträge und als Mordinstrument Hagens gegen Siegfried. Schulze erläutert die verschiedenen Bedeutungsschichten und -zusammenhänge und fragt abschließend, ob das Zerbrechen und das Untergehen auch dieser Waffe am Ende der Tetralogie als utopischer Verweis auf eine waffenfreie Welt verstanden werden könne. Der Band liefert eine Reihe fruchtbarer Interpretationsansätze, die zum Weiterdenken (und -hören in der Oper) einladen und die beispielsweise auch im (kontrastierenden) Kontext einschlägiger Publikationen (wie Wapnewskis „Der Ring des Nibelungen“ (1995) oder Bermbachs (Hg.) Sammlung von Figurenporträts zum „Ring“ „‚Alles ist nach seiner Art‘“ (2001)) zu lesen wären.

Einen dritten Ansatz schließlich stellt Agnieszka Bitner-Szurawitzkis Untersuchung „Wagner als Philologe. Textarchäologische Erschließung des Ring des Nibelungen und dreier polnischer Übersetzungen“ dar. Spannend an dieser Studie ist sicher insbesondere die komparatistisch fundierte Frage nach dem Verhältnis der polnischen Übersetzungen des „Ring“-Librettos zum Original – Bitner-Szurawitzki spricht hier übersetzungswissenschaftlich korrekt vom „Ausgangstext“. Denn sie erlaubt eine auch kontrastiv aufzufassende philologische Annäherung an die „Ring“-Dichtung, die nicht nur die vorhandene beachtenswerte polnische Wagner-Rezeption illustriert (hinzuweisen wäre etwa auf die „Ring“-Inszenierung von 2006 in der Wrocławer Hala Stulecia [Jahrhunderthalle] oder die kenntnisreichen Essays und Kritiken der Musikwissenschaftlerin Dorota Szwarcman, die auch an der Leipziger Ringvorlesung des GWZO zum Wagner-Jahr teilnahm oder den Band „Wagner a Polska“ (1980) von Karol Musioł), sondern auch „Deutungsangebote sprachlich und semantisch analysiert“, wie die Autorin selbst bemerkt. Mit diesem Forschungsprogramm bearbeitet Bitner-Szurawitzki ein Feld, das in der Wagner-Philologie bisher wenig bestellt wurde und sie gibt zudem (indirekt) den Anstoß, vielleicht auch andernorts ihrem Beispiel zu folgen und nach dem Potential und der Bedeutung von Librettoübersetzungen zu forschen (beispielsweise existieren wenigstens drei ungarischsprachige Übersetzungen und zwei tschechische). Bitner-Szurawitzki verfolgt in ihrer Arbeit zwei Fragestellungen, die unmittelbar aufeinander bezogen werden. Zum einen analysiert sie, wie die sprachhistorische Generierung von Bedeutung in Wagners „Ring“-Dichtung funktioniert und problematisiert zum anderen die (re)produktive Semantik von drei historisch nacheinander entstandenen polnischen Übersetzungen des „Ring“-Textes. Beide philologischen Analysen sind auf das von Bitner-Szurawitzki als zentral angesehene Motiv Liebe bezogen. Anhand der Exemplarizität dieses Motivs einerseits und dessen unstrittiger Bedeutsamkeit für den gesamten „Ring“ andererseits gelingt es ihr nicht nur die „Präzision der Bedeutungsbildung bei Wagner“ eingängig darzustellen, sondern auch diesen Nachweis sehr gut als Grundlage zu nutzen, um zuweilen (gar verächtlichen) Abwertungen der Wagner’schen Libretti argumentativ zu begegnen. Damit nimmt Bitner-Szurawitzkis fachlich versierte und auch für Nicht-des-Polnischen-Mächtige fraglos gewinnbringende Studie auch eine Position in der (bekanntermaßen eben nicht nur philologischen) Diskussion über das Werk Wagners – und insbesondere den Ring – ein.

Eine Zusammenschau der drei vorgestellten Titel als Beispiele für die neuere und neuste Literatur über Richard Wagner und sein Werk lässt sich mithin nur unter dem Verweis auf ihre Verschiedenheit vornehmen. Sie zeigen, dass der große (ja übermäßige?) Umfang jener Literatur unbedingt die Möglichkeit lässt, deren Desiderata durch Forschung zu schließen. Wenn dies zudem – wie in diesen Untersuchungen – in disziplinenübergreifender Manier geschieht, dürfte die Wagner-Forschung fruchtbar bleiben und wohl nicht viel überschaubarer werden.

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Ulrich Müller (Hg.): Rhein und Ring, Orte und Dinge. Interpretationen zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen ; Beiträge der Ostersymposien Salzburg 2007 - 2010.
Wissenschaftlicher Verlag Mueller-Speiser, Salzburg 2011.
289 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783902537201

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Titelbild

Agnieszka Bitner-Szurawitzki: Wagner als Philologe. Textarchäologische Erschließung des Ring des Nibelungen und dreier polnischer Übersetzungen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
235 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826050619

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Titelbild

Martin Schneider: Wissende des Unbewussten. Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners.
De Gruyter, Berlin 2013.
431 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110292763

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